Chef de Cuisine James White Orbit Hospital #9 ORBIT HOSPITAL ist ein Klinikum im All, das allen raumfahrenden Lebensformen der Galaxis medizinische Hilfe leistet. Es nimmt alle Geschöpfe auf, ob sie ein Dutzend Gliedmaßen haben oder gar keine, ob sie sich von Radioaktivität ernähren oder Wasser atmen — von anderen exotischen Gewohnheiten und Bedürfnissen ganz zu schweigen. Es ist ein ökologisches Tollhaus und ein organisatorischer Irrwitz, aber es ist für alle da und es funktioniert. Es ist im wahrsten Sinne des Wortes — lebensnotwendig. James White Chef de Cuisine HEYNE SCIENCE FICTION & FANTASY Band 0604982 Titel der englischen Originalausgabe Code THE GALACTIC GOURMET 1996 der deutschen Ausgabe und der Übersetzung by Wilhelm Heyne Verlag GmbH & Co. KG, München Dieses E-Book ist nicht zum Verkauf bestimmt!!! 1. Kapitel Schon seit langem war es Gurronsevas gewohnt, daß ihm Kollegen, bei denen es sich eigentlich um seine Vorgesetzten handelte, der äußeren Form nach mit Respekt begegneten; und das lag normalerweise eher an seiner gewaltigen Körperkraft und — größe als an den weniger augenfälligen Eigenschaften, über die er verfügte, wie hohe Intelligenz und unübertroffene Berufserfahrung. Daß er nun eingeladen worden war, die Endphase des Anflugs vom winzigen Kommandodeck des Aufklärungsschiffs aus zu verfolgen, war eine große Ehre, die Schiffspassagieren nur selten erwiesen wurde, auch wenn sich — wie es diesmal der Fall war — nur ein einziger an Bord befand. Doch Gurronsevas wünschte sich von Herzen, der Captain hätte lieber weniger Höflichkeit und statt dessen mehr Rücksicht an den Tag gelegt und ihn den Flug im nicht überfüllten und wesentlich geräumigeren Laderaum der Tennochlan beenden lassen. In höflichem Schweigen und mit zunehmender Ehrfurcht beobachtete Gurronsevas, wie das gewaltige, komplexe Bauwerk — das Orbit Hospital im galaktischen Sektor zwölf — im Frontbildschirm heranwuchs, bis dieser ganz und gar von den gleißenden, in Reihen angeordneten Anflugbaken und der Flutlichtanlage des Docks ausgefüllt war, die einen atemberaubenden Anblick boten. Auch die Außenluken und Zuschauergalerien der Stationen waren zu sehen, die in allen möglichen — von den verschiedenen Mitarbeitern und Patienten als normal empfundenen — Farben und Lichtstärken leuchteten. Neben ihm entblößte Captain Mallan kurz die Zähne und stieß einen dieser unübersetzbaren bellenden Laute aus, die bei Terrestriern Belustigung anzeigen. „Genießen Sie die Aussicht solange wie möglich“, riet er Gurronsevas. „Diejenigen, die hier arbeiten, erhalten nur selten Gelegenheit, ihre Welt einmal von außen zu betrachten.“ Die übrigen Offiziere im Cockpit verharrten in der schweigenden Zurückhaltung von Untergebenen, und da es nichts Wichtiges gab, das er hätte sagen wollen, folgte Gurronsevas ihrem Beispiel. Auf einmal verschwand das erleuchtete Hospital vom Schirm und wurde durch das Bild eines blaßgrünen Chloratmers von Illensa ersetzt, dessen Konturen von dem gelben Nebel in seinem Schutzanzug zum Teil verwischt wurden. Der Illensaner saß an einem Kommunikationspult, und in seiner unmodulierten, vom Translator übersetzten Stimme schwang noch etwas von der zischenden, jammernden Klangfarbe der ursprünglichen Sprachlaute mit. „Hier Anmeldezentrale“, sagte er schnell. „Identifizieren Sie sich bitte. Geben Sie an, ob Sie Patient, Besucher oder Mitarbeiter sind, und teilen Sie Ihre Spezies mit. Falls es sich um eine Notlage handelt, teilen Sie uns bitte zuerst die klinischen Einzelheiten zum Patienten mit und anschließend die physiologischen Klassifikationen der übrigen Schiffsinsassen, damit wir für die geeignete Unterbringung, das passende Lebenserhaltungssystem und die richtige Art Ernährung und Häufigkeit der Mahlzeiten sorgen können.“ „Mahlzeiten“, wiederholte der Captain, wobei er Gurronsevas anblickte und erneut die Zähne entblößte. Er drückte auf die Sprechtaste und sagte forsch: „Kein medizinischer Notfall an Bord. Ich bin Major Mallan und führe das Kommando über das Aufklärungsschiff des Monitorkorps Tennochlan, das sich auf einem Kurierflug von Retlin auf Nidia befindet. Die Besatzung besteht aus vier Mitgliedern, die allesamt Terrestrier sind und zur physiologischen Klassifikation DBDG gehören. Außerdem ist ein Passagier, Gurronsevas, an Bord, ein tralthanischer FGLI, der als neuer Mitarbeiter am Hospital anfängt. Wir alle gehören zu den warmblütigen Sauerstoffatmern, und was mich angeht, so würde ich eine Abwechslung von der eintönigen Schiffsverpflegung auf jeden Fall zu schätzen wissen…“ „Warten Sie“, bat der PVSJ in der Anmeldezentrale, der eindeutig nicht dazu aufgelegt war, Zeit mit Diskussionen über terrestrisches Essen zu vergeuden, dessen Verzehr für einen Illensaner sofort tödlich gewesen wäre. Auf den Frontbildschirm kehrte — allerdings nur für einen kurzen Moment — wieder das Bild des Hospitalgebäudes zurück, das jetzt näher gekommen war und noch beeindruckender als zuvor wirkte. „Folgen Sie bitte den rot-gelb-roten Leitbaken zu der freien Ankopplungsanlage der Klasse drei neben Schleuse dreiundzwanzig“, wies sie der Illensaner in geschäftigem Tonfall an. „Offziere des Monitorkorps werden Colonel Skempton Meldung machen. Gurronsevas wird bei seiner Ankunft von Lieutenant Timmins erwartet.“ Gurronsevas fragte sich, ob es sich hierbei um eine weitere Gefälligkeit von einem Wesen handelte, das sich möglicherweise für seinen Vorgesetzten hielt, doch irgendwie bezweifelte er das. Auf den Illensaner in der Anmeldezentrale schien sein Name keinen großen Eindruck gemacht zu haben, und trotzdem mußte man selbst in dem giftigen gelben Nebel, der den Heimatplaneten der chloratmenden Illensaner umgab, von ihm gehört haben. Doch der berühmte oder der namhafte oder gar „der große Gurronsevas“, dessen Name und einzigartige Fähigkeiten von den kultivierten Mitgliedern sämtlicher warmblütigen und sauerstoffatmenden Spezies der Föderation bewundert und diskutiert wurden und der mit seinem Besuch auf irgendeinem ihrer Heimatplaneten und seinem Beitrag zur jeweiligen Kultur Anlaß zu planetenweitem Stolz gegeben hätte, war mit keinem Wort erwähnt worden. Lediglich die kurze Bemerkung, Gurronsevas werde bei seiner Ankunft erwartet, war gefallen. Ein geringeres Wesen als Gurronsevas hätte sich verunsichert oder sogar beleidigt gefühlt. Das Wesen Timmins entpuppte sich als terrestrischer DBDG, dessen dunkelgrüner Dienstoverall, obwohl in einem sauberen und ordentlich gebügeltem Zustand, derart abgetragen war, daß man das Rangabzeichen fast nicht mehr erkennen konnte. Seine Kopfbehaarung wies die Färbung matten Kupfers auf. Sogleich entblößte der Terrestrier die Zähne und verzog das Gesicht zu jener keineswegs aggressiven Grimasse, die seine Spezies als „Lächeln“ bezeichnete. Zwar verhielt sich Timmins relativ lässig, doch stets einigermaßen respektvoll. „Willkommen an Bord, Sir!“ begrüßte er Gurronsevas, nachdem sie sich einander vorgestellt hatten. „Genaugenommen ist das Orbit Hospital für einen Planeten zu klein und für ein interstellares Raumschiff zu groß, doch die Puristen bezeichnen es trotzdem gern als Schiff, wenn wir es nicht mit einem noch abfälligeren Begriff belegen. Sobald es Ihnen paßt, hatte ich vor, Ihnen Ihre Unterkunft zu zeigen und die technische Einrichtung und deren Funktionsweise zu erklären. Als Leiter der Wartungsabteilung bin ich unter anderem auch für die Kontrollsysteme der Umweltbedingung in Ihrem Quartier verantwortlich, doch vorher würde Sie Major O’Mara gern in seinem Büro sprechen. Wenn man die Verkehrsdichte auf den Korridoren, die Sie zu durchqueren haben, und eine weitere Verzögerung für das Anlegen eines leichten Schutzanzugs einkalkuliert, bevor Sie die Abkürzung durch die Ebene der chloratmenden PVSJs von Illensa nehmen, dürften Sie etwa zwanzig Minuten brauchen. Auf dem Weg in O’Maras Büro können Sie die üblichen, aber normalerweise unzureichenden Instruktionen erhalten, die jeder Neuankömmling erhält. Mit Ihrer Erlaubnis, Sir, werde ich Ihnen den Weg zeigen und dabei alles erklären“, fügte er beflissen hinzu. Als Gurronsevas dem Terrestrier aus der Schleusenvorkammer hinaus durch den Bordtunnel in das eigentliche Hospitalgebäude hinein folgte, entschuldigte sich der Lieutenant im voraus dafür, daß er Gurronsevas womöglich ihm längst bekannte Dinge mitteilen könnte. Laut Timmins Ausführungen stellte das Orbit Hospital das größte, technisch fortschrittlichste und fachlich angesehenste Krankenhaus mit vielfältigen Umweltbedingungen dar, das jemals gebaut worden war. An seinem Bau hatten sich die Zivilisationen vieler Planeten beteiligt. Sie hatten einzelne Bauteile angefertigt und sie fast zwei Jahrzehnte lang zum Montageplatz im galaktischen Sektor zwölf transportiert. Für den Nachschub und die Wartung des Orbit Hospitals war das Monitorkorps verantwortlich, das auch polizeiliche Aufgaben wahrnahm und dem Gesetz der Föderation Geltung verschaffte, das aber beileibe keine militärische Einrichtung war und auch nie sein würde. Auf den dreihundertvierundachtzig Ebenen des Hospitals konnten die Umweltbedingungen sämtlicher der galaktischen Föderation bekannten Lebensformen reproduziert werden; ein physiologisches Spektrum, das bei den unter extremen Kältebedingungen lebenden Methanarten begann und über die eher normalen Sauerstoff- und Chloratmer bis zu den außergewöhnlicheren Lebensformen reichte, die von der direkten Umwandlung harter Strahlung lebten. Einige Ausführungen des Lieutenants bekam Gurronsevas nicht mit, weil er gezwungen war, einen großen Teil seiner Aufmerksamkeit darauf zu richten, Verletzungen oder peinliche Situationen zu vermeiden, die sich ergeben hätten, wenn er über das ein oder andere Lebewesen, das kleiner oder größer war als er selbst, gestolpert oder mit ihm zusammengestoßen wäre. Er bewegte sich durch eine Mischung aus einem dreidimensionalen Labyrinth mit weißen Wänden und einer übervölkerten, extraterrestrischen Menagerie, und schon bald würde man von ihm erwarten, sich dort allein hindurchzufinden. Als er unbeholfen mitten auf einer Kreuzung stehenblieb, um zwei krabbenähnliche ELNTs von Melf IV und einen illensanischen PVSJ vorbeizulassen, gaben ihm die drei zwitschernd und zischend ihr Mißfallen zu verstehen. Während er ihnen Platz machte, rempelte er einen kleinen Nidianer mit rotem Fell an, der ihn mißbilligend anbellte. Da der einfache Translator, den er auf der Tennochlan erhalten hatte, jedoch nur für die Sprachen der Terrestrier und Tralthaner programmiert war, wußte Gurronsevas nie genau, was ihm das jeweilige Wesen, das sich gerade in Hörweite befand, zuflüsterte, — piepste, — knurrte oder — jammerte. „…theoretisch hat das Personalmitglied mit dem höheren medizinischen Dienstalter Vorfahrt“, erklärte Timmins gerade. „Sie werden bald lernen, die verschiedenen Dienstgrade an den Farbmarkierungen auf den Armbinden zu erkennen, die hier alle tragen. Da Sie selbst noch keine Armbinde haben, ist Ihr Dienstgrad unbestimmt. Schnell! Drücken Sie sich bitte flach gegen die Wand!“ Ein großes zischendes und gefährlich schepperndes Ungetüm, das beinahe halb so breit wie der Gang war, steuerte auf sie zu. Dabei handelte es sich um den fahrbaren Schutzpanzer, den TLTU-Ärzte brauchten, die normalerweise überhitzten Dampf atmeten und einen viel größeren Druck und eine beträchtlich höhere Schwerkraft benötigten, als in den — für sie tödlichen — Umweltbedingungen herrschten, in denen die Sauerstoffarmer lebten. In einer Situation wie dieser, sagte Timmins, wobei er kurz die Zähne entblößte, sei es besser, die Unterschiede zwischen den Dienstgraden zu vergessen, lieber den Selbsterhaltungstrieb die Sache in die Hand nehmen zu lassen und den Weg schleunigst frei zu machen. „Sie passen sich den hiesigen Umständen sehr gut an, Sir“, fuhr der Lieutenant fort. „Ich habe Besucher gekannt, die zum ersten Mal im Hospital gewesen sind und bei denen es zu einer Kurzschlußreaktion gekommen ist. Als sie sich in so kurzer Zeit mit derart vielen verschiedenen Lebensformen konfrontiert gesehen haben, sind sie entweder losgerannt und haben sich versteckt, oder sie haben vor Angst wie gelähmt dagestanden. Ich glaube, Sie werden die Sache gut meistern.“ „Danke“, grummelte Gurronsevas. Normalerweise hätte er nicht jemand anderem bei der ersten Begegnung etwas Persönliches von sich mitgeteilt, doch der Terrestrier und sein Kompliment hatten ihm gefallen. „Aber das hier ist für mich keine vollkommen neuartige Erfahrung, Lieutenant“, fuhr er fort. „Ähnliche Umstände habe ich einmal während einer Tagung erlebt, an der viele verschiedene Spezies teilgenommen haben, obwohl die dortigen Delegierten im allgemeinen nicht so gute Manieren hatten.“ „Wirklich?“ erkundigte sich Timmins und lachte. „Aber wenn ich Sie wäre, würde ich mit dem Urteil über die Manieren unserer Mitarbeiter noch ein wenig warten, zumindest so lange, bis Sie Ihren Mehrkanaltranslator erhalten haben. Schließlich wissen Sie ja nicht, als was Sie von einigen von denen bezeichnet werden. Übrigens sind wir jetzt nur noch wenige Minuten von der psychologischen Abteilung entfernt.“ Wie Gurronsevas bemerkte, herrschte auf den Gängen auf dieser Ebene zwar wesentlich geringerer Betrieb, und dennoch kamen sie jetzt merkwürdigerweise weniger rasch voran. Aus irgendeinem Grund verlangsamte der Terrestrier seinen vorher schnellen Schritt. „Vielleicht wäre es eine gute Idee, wenn Sie über das Wesen, dem Sie gleich begegnen werden — nämlich Major O’Mara—, etwas mehr wüßten, bevor Sie hineingehen“, sagte Timmins plötzlich mit ernster Miene. „Das könnte sich als nützlich erweisen“, pflichtete ihm Gurronsevas bei. „Major O’Mara ist der Chefpsychologe des Hospitals“, fuhr Timmins fort. „Also das, was Ihre Spezies meines Wissens als „Heiler von Geist und Seele“ bezeichnet. Als solcher ist O’Mara für die reibungslose und rationelle Arbeitsweise der mehr als zehntausend, hin und wieder zu durchaus exzentrischem Verhalten neigenden Mitarbeiter des medizinischen Stabs und des Wartungspersonals verantwortlich.“ Wie der Lieutenant weiterhin ausführte, gab es selbst bei der äußerst großen Toleranz zwischen den verschiedenen Spezies und dem gegenseitigen Respekt unter den Beschäftigten und trotz der eingehenden psychologischen Durchleuchtung, der sich jeder neue Mitarbeiter vor der Zulassung zum Dienst an einem Hospital mit vielfältigen Umweltbedingungen unterziehen mußte, immer noch Augenblicke, in denen Reibereien zwischen Angehörigen verschiedener Spezies oder innerhalb des Personals möglich waren. Zu potentiell gefährlichen Situationen konnte es durch schlichte Unwissenheit oder durch Mißverständnisse kommen, aber auch, was noch schlimmer war, wenn ein Mitarbeiter eine neurotische Xenophobie gegenüber einem Patienten oder Kollegen entwickelte, die seine geistige Stabilität oder fachliche Leistungsfähigkeit beeinträchtigte. Die Aufgabe von O’Mara und seiner Abteilung bestand darin, derartige Probleme rechtzeitig zu entdecken und im Keim zu ersticken oder, wenn alle Stricke rissen, den betreffenden Störenfried aus dem Hospital zu entfernen. Es hatte Zeiten gegeben, in denen der Major und seine Mitarbeiter durch dieses ständige Ausschauhalten nach Anzeichen von falscher, schädlicher oder intoleranter Denkweise, dem sie sich mit großer Hingabe gewidmet hatten, zu den unbeliebtesten Lebewesen am Hospital geworden waren. „Aus administrativen Gründen bekleidet O’Mara innerhalb des Monitorkorps den Rang eines Majors“, fuhr Timmins fort. „Zwar gibt es hier viele Offiziere und medizinische Mitarbeiter, die dem Namen nach seine Vorgesetzten sind, doch die harmonische Zusammenarbeit so vieler verschiedener und potentiell feindseliger Lebensformen aufrechtzuerhalten ist eine gewaltige Aufgabe, die sich — genau wie O’Maras Machtbefugnisse — nur schwer eingrenzen läßt.“ „Der Unterschied zwischen Dienstgrad und Machtbefugnissen ist mir schon seit langem klar“, merkte Gurronsevas an. „Das ist auch besser so“, meinte Timmins, wobei er auf die große Tür deutete, der sie sich näherten. „Das ist die Abteilung für ET-Psychologie. Nach Ihnen, Sir.“ Gurronsevas befand sich in einem großen Vorzimmer, in dem zu beiden Seiten einer breiten, freien Bodenfläche, die zu einer Innentür führte, vier Schreibtische standen. Nur drei davon waren besetzt, und zwar von einem Tarlaner, einer Sommaradvanerin und einem anderen Offzier des Monitorkorps, der den gleichen Rang bekleidete und derselben Spezies angehörte wie Timmins. Der Tarlaner und die Sommaradvanerin blieben zwar weiterhin über ihre Arbeit gebeugt, drehten jedoch beide jeweils ein Auge neugierig in Gurronsevas’ Richtung, und der andere Offizier blickte ihn nach terrestrischer Weise keck mit beiden Augen an. Indem der Tralthaner seine sechs Füße so sanft wie möglich auf den Boden setzte, um übermäßige Geräusche und Erschütterungen auf ein Minimum zu reduzieren — eine Höflichkeit, die er unter geringerer Schwerkraft lebenden Wesen in beengten räumlichen Verhältnissen erwies—, ging Gurronsevas weiter in das Zimmer hinein. Da er es unter diesen Umständen nicht für angebracht hielt, irgendeinen untergeordneten Mitarbeiter anzusprechen, bevor er nicht zuerst mit deren Vorgesetzten gesprochen hatte, schwieg er lieber. „Das hier ist Gurronsevas, der gerade mit der Tennochlan eingetroffen ist“, verkündete Timmins den Anwesenden in forschem Ton. „Er ist gekommen, um den Major zu sprechen.“ Der andere Offizier lächelte und antwortete: „Er erwartet Sie bereits, Gurronsevas. Gehen Sie bitte hinein. Allein.“ Die Innentür glitt auf, und Timmins murmelte leise: „Viel Glück, Sir.“ 2. Kapitel Wie Gurronsevas sah, war das Büro des Chefpsychologen größer als das Vorzimmer, und wenn es überhaupt mit irgend etwas Ähnlichkeit aufwies, dann allenfalls mit einer gut ausgestatteten Folterkammer aus der vorzivilisatorischen Vergangenheit seines Heimatplaneten Traltha. Ringsum an den Wänden befand sich eine seltsame und außergewöhnliche Sammlung von Sitzmöbeln, die bis zur Mitte des Raumes vordrangen und in zwei Fällen sogar von der Decke hingen. Die teilweise abenteuerlich anmutenden Konstruktionen ermöglichten es den Vertretern verschiedener Spezies, die etwas in O’Maras Büro zu erledigen hatten, bequem zu sitzen, zu liegen, zu hängen oder sich zusammenzurollen. Als Angehöriger einer Spezies, die es vorzog, auf sechs Beinen stehend zu arbeiten, zu essen, zu schlafen und auch alle übrigen Tätigkeiten zu verrichten — es sei denn, daß der gesellschaftliche Umgang mit anderen Lebensformen unbedingt erforderte, gleiche Augenhöhe einzuhalten — interessierte Gurronsevas dieser Teil der Büroausstattung nur wenig. Deshalb stolzierte er schnurstracks voran und blieb auf der freien Fläche vor dem drehbaren Schreibtisch stehen, hinter dem dieses Wesen mit den nur schwer zu bestimmenden Machtbefugnissen, jener O’Mara also, saß. Gurronsevas richtete sämtliche Augen auf den Major, sagte jedoch keinen Ton; schließlich wußte O’Mara, wer vor ihm stand, und deshalb hielt er es für überflüssig, sich vorzustellen. Außerdem wollte er, auch auf die Gefahr hin, ein wenig aufsässig oder unhöflich zu wirken, von Anfang an klarstellen, daß es sich bei ihm um einen willensstarken Tralthaner handelte, der sich keine unnötige Unterhaltung aufzwingen ließ. Nach terrestrischer Zählung der Lebensjahre schien der Major alt zu sein, auch wenn die Kopfbehaarung und die sichelförmigen Haarbüschel, die seine Augen beschatteten, eher grau als weiß waren. Der Chefpsychologe des Orbit Hospitals verzog keine Miene, und auch die beiden Hände, die auf der Schreibtischplatte lagen, blieben reglos, während er Gurronsevas’ starren Blick erwiderte. Das Schweigen zog sich in die Länge, bis der Major plötzlich mit dem Kopf nickte, und als er schließlich sprach, nannte er weder Gurronsevas’ Namen noch den eigenen. Schweigend hatten sie eine kurze Zeit lang miteinander gewetteifert, wer von ihnen den stärkeren Willen besaß, doch wenngleich O’Mara nun das Wort ergriff, war sich Gurronsevas keinesfalls sicher, wer aus diesem kleinen Wettstreit letztendlich als Sieger hervorgegangen war. „Zunächst einmal muß ich Sie am Orbit Hospital willkommen heißen“, begrüßte ihn O’Mara und ließ dabei nicht ein einziges Mal die dünnen Hautlappen hinunterklappen, die seine Augen schützten und feucht hielten. „Uns beiden ist klar, daß diese Worte nichts weiter als eine höfliche Floskel darstellen, da Sie weder auf Wunsch des Hospitals noch aufgrund einer ungewöhnlich hohen medizinischen oder technischen Begabung hierhergekommen sind. Vielmehr stehen Sie jetzt vor mir, weil irgend jemand in der medizinischen Verwaltung der Föderation einen plötzlichen Geistesblitz hatte und Sie hierhergeschickt hat, wobei es dieser gewisse Jemand uns überläßt, nun herauszufinden, ob diese Idee brauchbar ist oder nicht. Ist das eine einigermaßen richtige Zusammenfassung der Umstände?“ „Nein“, widersprach Gurronsevas. „Ich bin nicht hierhergeschickt worden, sondern habe mich freiwillig gemeldet.“ „Das ist eine bloße Spitzfindigkeit und wahrscheinlich ein Irrtum Ihrerseits“, erwiderte O’Mara. „Warum wollten Sie denn herkommen? Und bitte wiederholen Sie nicht die Angaben, die Sie in Ihrer ursprünglichen Bewerbung gemacht haben. Die ist zwar lang, sehr ausführlich, äußerst beeindruckend und wahrscheinlich auch zutreffend, aber die in dieser Art von Schriftstücken angeführten Fakten sind sehr oft zugunsten des Bewerbers geschönt. Damit will ich keineswegs behaupten, es seien vorsätzlich Fakten gefälscht worden, sondern nur, daß eine Spur freie Erfindung eingeflossen ist. Sie haben bisher noch keine Erfahrungen im Krankenhausbereich gesammelt, oder?“ „Sie wissen genau, daß ich über keine solchen Erfahrungen verfüge“, antwortete Gurronsevas, wobei er dem Drang widerstand, ärgerlich mit den Füßen aufzustampfen. „Das betrachte ich keineswegs als Hindernis für die Verrichtung meiner Aufgaben.“ O’Mara nickte. „Aber sagen Sie mir doch bitte — in so wenig Worten wie möglich—, ob Sie hier überhaupt arbeiten wollten.“ „Ich arbeite nicht“, entgegnete Gurronsevas, während er zwei seiner Füße hob und mit genügend Wucht wieder aufsetzte, um die auf dem Boden stehenden Büromöbel zum Wackeln zu bringen. „Ich bin weder Handwerker noch Techniker, ich bin Künstler.“ „Ich bitte vielmals um Verzeihung“, entschuldigte sich O’Mara mit einer Stimme, die vollkommen frei von Reue zu sein schien. „Was hat Sie denn dazu bewegen, ausgerechnet dieses Hospital mit Ihrer Kunst zu beehren?“ „Weil es für mich eine Herausforderung darstellt“, antwortete Gurronsevas grimmig. „Vielleicht sogar die größte Herausforderung überhaupt, zumal es sich beim Orbit Hospital um das größte und beste Krankenhaus im Universum handelt. Das soll keinesfalls ein plumper Versuch sein, Ihnen oder Ihrem Krankenhaus zu schmeicheln, sondern ist eine überall anerkannte Tatsache.“ O’Mara neigte ein wenig den Kopf. „Da haben Sie allerdings recht, und diese Tatsache hat sich sogar bis zu den Mitarbeitern unseres Hospitals herumgesprochen. Trotzdem bin ich froh, daß Sie nicht versucht haben, mir zu schmeicheln, denn das funktioniert nicht, ob nun auf plumpe Weise oder hintenherum. Ich kann mir auch kaum einen Anlaß vorstellen, weshalb ich jemand anderem Honig um den Bart schmieren sollte, obwohl man mir nachsagt, ich hätte mich bei der einen oder anderen Gelegenheit durchaus schon einmal dazu herabgelassen, anderen gegenüber mehr Höflichkeit an den Tag gelegt zu haben, als unbedingt notwendig gewesen wäre. Verstehen wir uns? Na prima. So, und von nun an sollten Sie sich bei der Beantwortung meiner Fragen ein bißchen weniger wortkarg geben“, fuhr er fort, bevor Gurronsevas überhaupt etwas entgegnen konnte. „Was hat Sie an diesem medizinischen Tollhaus so gereizt? Wieso haben Sie sich entschlossen hierherzukommen? Und welchen Einfluß haben Sie selbst darauf gehabt, daß es Ihnen gelungen ist, die Sache zu deichseln? Sind Sie mit Ihrer vorigen Arbeitsstelle oder Ihren bisherigen Vorgesetzten unzufrieden gewesen oder Ihre Vorgesetzten mit Ihnen vielleicht?“ „Natürlich nicht!“ protestierte Gurronsevas. „Bisher war ich im Cromingan-Shesk in Retlin auf Nidia tätig, dem größten und höchstgelobten Hotel und Restaurant für viele verschiedene Spezies in der Föderation. Man hat mich dort sehr gut behandelt. Wäre das nicht der Fall gewesen, hätten sich sofort mehrere Restaurationsbetriebe darum geschlagen, mich zu gewinnen. Eigentlich bin ich im Cromingan-Shesk recht zufrieden gewesen, bis vor etwa einem Jahr, als ich mit dem rangältesten Monitorkorpsoffizier des Stützpunkts auf Nidia, nämlich Flottenkommandant Roonardth, einem Kelgianer, gesprochen habe.“ Gurronsevas machte eine Pause und dachte an das geradezu lachhaft kurze und einfache Gespräch zurück, das seinem früheren zufriedenen — und langweiligen — Leben damals mit einem Schlag ein Ende bereiten sollte. „Fahren Sie fort“, bat ihn O’Mara leise. „Roonardth wollte mir persönlich gratulieren, und als ranghohe Persönlichkeit ließ er mich dazu an seinen Tisch rufen“, berichtete Gurronsevas weiter. „Wie Sie wissen, haben Kelgianer eine äußerst direkte Art und sind psychologisch nicht fähig, zu lügen oder auch nur ansatzweise höflich zu sein. Im Verlauf unseres Gesprächs erzählte mir Roonardth, er habe gerade die leckersten crelletinischen Weintriebe in seinem ganzen Leben gegessen, wobei der Genuß um so größer gewesen sei, weil er kürzlich im Orbit Hospital gelegen habe, in das er nach einem zwar nicht näher beschriebenen, aber eindeutig lebensgefährlichen Unfall im All eingeliefert worden sei. An der medizinischen Betreuung hatte er zwar nichts zu beanstanden gehabt, doch als er sich im Hospital über das Essen beschwerte, berichtete ihm — jedenfalls seinen Angaben zufolge — eine terrestrische Schwester von einer Verschwörung, die darauf abzielte, Langzeitpatienten mit einer allzu langwierigen Genesung zu vergiften. Nach den Worten der Schwester konnte er sich sogar glücklich schätzen, nicht in der Personalkantine essen zu müssen. Zwar hat mir der Flottenkommandant damals erzählt, daß es sich bei dieser Bemerkung zweifellos um das handeln müsse, was Terrestrier als Humor bezeichneten, doch deutete er mir gegenüber auch an, daß es die Erholung der Patienten stark beschleunigen und die Moral der Mitarbeiter außerordentlich heben würde, wenn jemand wie ich die Leitung der Lebensmittelversorgung des Orbit Hospitals übernehmen könnte — falls es einen zweiten Gurronsevas überhaupt noch einmal im Universum geben würde“, fuhr der Tralthaner fort. „Das war natürlich ein großes Kompliment, über das ich mich sehr gefreut habe. Später habe ich dann angefangen, ernsthaft darüber nachzudenken, und allmählich stellte sich bei mir eine Unzufriedenheit mit meinem Leben ein, das, wie mir rasch klar wurde, relativ sinnlos und langweilig geworden war. Als Roonardth eine Weile später erneut zum Essen ins Restaurant kam, übertraf ich mich selbst, um die Gelegenheit zu einem weiteren Gespräch mit ihm zu bekommen, und dann habe ich den Flottenkommandanten gefragt, ob er seinen Vorschlag vom letzten Mal ernst gemeint habe. Nun, und genau das traf ein“, schloß Gurronsevas seine Ausführungen. „Darüber hinaus besitzt Roonardth den entsprechenden Rang und verfügt über genügend Einfluß, so daß er die Abteilung, die für die Versorgung des Hospitals zuständig ist, davon überzeugen konnte, mich nach einer Wartezeit von einem Jahr ans Orbit Hospital kommen zu lassen.“ „Ich verstehe“, sagte O’Mara. „Nun ja, daß Roonardth über viel Einfluß verfugt, ist mir nichts Neues, daß er ihn über den Gaumen geltend macht, allerdings schon. Wie ich jedenfalls annehme, haben Sie die Wartezeit damit verbracht, sich mit der Anlage und Organisation des Hospitals vertraut zu machen, stimmt’s? Und wie jeder kleine Neuankömmling sind Sie bestimmt eifrig darauf bedacht, so schnell wie möglich auf alle einen guten Eindruck zu machen, und haben in diesem Sinne bereits Pläne geschmiedet, nicht wahr?“ Zuerst dachte Gurronsevas daran, den winzigen Terrestrier darauf hinzuweisen, daß man ihn als Tralthaner kaum als klein bezeichnen konnte, zumal er mehr als die fünffache Körpermasse seines Gegenübers besaß. Doch dann kam er zu dem Schluß, daß O’Mara diesen Begriff absichtlich gebraucht hatte, um zu versuchen, ihn aus dem Gleichgewicht zu bringen, und antwortete einfach mit Ja. Einen Augenblick lang musterte ihn der Major schweigend, dann nickte er und entblößte kurz die Zähne. „Schön, und was haben Sie in diesem Fall als nächstes vor?“ „Ich werde so bald wie möglich eine Versammlung sämtlicher Lebensmitteltechniker des Hospitals und aller medizinischen Mitarbeiter einberufen, die im weitesten Sinne mit Ernährungsfragen zu tun haben“, antwortete Gurronsevas, wobei er sich sichtlich bemühte, seine Begeisterung zu zügeln. „Auf dieser Versammlung beabsichtige ich, mich allen vorzustellen, falls der ein oder andere von dem mir vorauseilenden Ruf noch nichts gehört haben sollte oder.“ O’Mara ermahnte ihn mit erhobener Hand zur Ruhe. „Sie wollen sämtliche Lebensmitteltechniker einberufen?“ hakte er nach. „Auch die Chloratmer, die Lebensformen, die unter extremer Kälte leben, und andere Mitglieder ausgefallenerer Spezies?“ „Selbstverständlich“, bestätigte Gurronsevas. „Aber an der Kost ausgefallenerer Lebensformen würde ich keine größeren Veränderungen vornehmen.“ „Na, Gott sei Dank!“ seufzte O’Mara. „…ohne vorher eine sorgfältige Untersuchung der möglichen Auswirkungen vorzunehmen und den medizinischen und technischen Rat derjenigen einzuholen, die über eingehendere Erfahrungen mit den Ernährungsgewohnheiten exotischerer Lebensformen verfügen als ich. Doch mit der Zeit habe ich vor, die momentanen Grenzen meiner kulinarischen Sachkenntnisse auszudehnen — so umfassend diese bereits sind—, um auch die Ernährungsbedürfnisse von denjenigen Spezies einzubeziehen, die sich von den warmblütigen Sauerstoffatmern unterscheiden. Schließlich bin ich ab sofort der Chefdiätist dieses Hospitals.“ O’Mara bewegte den Kopf von einer Seite zur anderen, eine Geste, die, wie Gurronsevas erfahren hatte, eine wortlose Verneinung bedeutete. Voller Ungeduld fragte sich der Tralthaner, was dieser unangenehme Terrestrier dagegen einzuwenden hatte, daß er, Gurronsevas, auf der Stelle seinen Pflichten nachkommen wollte. „Ich werde Ihnen genau sagen, was Sie sind und was Sie tun werden“, sagte O’Mara. „In Ihrem Fall besteht ein möglicherweise gefährlicher Widerspruch. Als Neuling am Hospital, ohne vorherige technische oder medizinische Ausbildung, müßten Sie eigentlich als Auszubildender eingestuft werden. Statt dessen sind Sie als Leiter einer Abteilung hierhergekommen, deren vielschichtige Aufgaben Ihnen völlig unbekannt sind. Daß Sie sich Ihrer Unwissenheit bewußt sind und im Gegensatz zu unseren anderen Auszubildenden über umfangreiche Erfahrungen im Umgang mit Vertretern anderer Spezies verfügen, sind zwei Punkte, die für Sie sprechen. Trotzdem werden Sie sich bald Vertretern von physiologischen Klassifikationen gegenübersehen, auf die Sie sich einstellen müssen und die man normalerweise nicht in den ehrwürdigen Speiseräumen des Nobelhotels Cromingan-Shesk antrifft. Da Sie offensichtlich eine hohe Meinung von Ihrer eigenen Wichtigkeit und Bedeutung haben und ich — in seltenen Fällen — durchaus taktvoll sein kann, habe ich es vermieden, die Formulierungen „Das werden Sie tun“ und „Das müssen Sie tun“ zu gebrauchen, obwohl sie in diesem Fall angemessener wären. Nein, unterbrechen Sie mich nicht! Erinnern Sie sich bei der Aufnahme Ihrer Tätigkeit bitte daran, daß Sie hier trotz des Einflusses, den Sie vielleicht bei den ranghohen Feinschmeckern des Monitorkorps haben, nur auf Probe arbeiten, und diese Zeit kann auf drei Arten verkürzt werden“, fuhr O’Mara unbeirrt fort. „Erstens stellen Sie vielleicht fest, daß Sie von der Arbeit hier überfordert werden, und entschließen sich zu kündigen. Zweitens komme ich möglicherweise zu dem Schluß, daß Sie die Arbeit hier überfordert, und werfe Sie raus. Drittens — und dieser Punkt ist derart unwahrscheinlich, daß er in die Kategorie „Wunsch-träume-gehen-nur-selten-in-Erfüllung“ fällt — zeigen Sie eine solch hohe Begabung, daß wir gezwungen sind, Sie auf Ihrem Posten zu bestätigen und Sie zu bitten, weiterhin für uns tätig zu sein. Machen Sie sich, bevor Sie irgend etwas tun oder planen, mit dem Hospital vertraut“, setzte O’Mara seine Ratschläge fort. „Nehmen Sie sich alle Zeit, die Sie brauchen, um sich einzugewöhnen, solange es sich in Grenzen hält. Lassen Sie sämtliche Änderungen, die sie möglicherweise an der Krankenkost vornehmen wollen, vorher von dem leitenden Diagnostiker der entsprechenden Abteilung auf mögliche schädliche medizinische Auswirkungen hin überprüfen. Sollten sich bei Ihnen selbst irgendwelche psychologischen Schwierigkeiten einstellen, werde ich natürlich versuchen, Ihnen zu helfen, vorausgesetzt, Sie können mich davon überzeugen, daß Sie nicht imstande sind, diese Probleme allein zu lösen. Falls Sie in der Eingewöhnungsphase sonstige Schwierigkeiten oder Fragen haben, dann bitten Sie Lieutenant Timmins um Hilfe. Falls Sie es nicht schon bemerkt haben, werden Sie spätestens dann feststellen, daß er ein freundlicher und hilfsbereiter Mitarbeiter ist und zu den wenigen Leuten in diesem Krankenhaus zählt, die — ganz im Gegensatz zu mir — in der Lage sind, Dummköpfe um sich herum zu ertragen. Wenn ich mal mehr Zeit habe, werden wir die langweiligen verwaltungstechnischen Einzelheiten besprechen“, fuhr der Chefpsychologe fort. „Ihr Gehalt, der Anspruch auf bezahlten Urlaub, die ermäßigten Beförderungskosten zu Ihrem Heimatplaneten oder ausgewählten Ferienort und die kostenlose Bereitstellung von Schutzkleidung und Ausrüstungsgegenständen. Ob nun mit oder ohne Schutzkleidung, Sie sollten auf jeden Fall die Arm- oder Beinbinde eines Auszubildenden tragen, damit Sie.“ „Genug!“ schnitt ihm Gurronsevas mit lauter Stimme das Wort ab, wobei er sich gar nicht erst bemühte, seine Empörung zu verbergen. „Ich verlange kein Gehalt. Durch die Ausübung meiner einzigartigen Begabungen habe ich bereits mehr Reichtum angehäuft, als ich im Laufe meines restlichen Lebens auszugeben hoffen kann, egal, wie verschwenderisch ich noch werden sollte. Und ich erinnere Sie nochmals daran, daß ich ein in der ganzen Föderation berühmter Spezialist bin und kein Auszubildender. Darum werde ich auch nicht das Abzeichen eines Auszubildenden tragen oder.“ „Ganz wie Sie wollen“, unterbrach ihn O’Mara gelassen. „Gibt es sonst noch etwas, das Sie mir sagen möchten? Nein? Dann werden Sie, wie ich annehme, noch etliche andere Dinge zu erledigen haben, deren Vorteil darin besteht, daß sie keine solche Verschwendung Ihrer und meiner Zeit darstellen.“ Demonstrativ warf der Chefpsychologe einen flüchtigen Blick auf seine Armbanduhr und tippte dann kurz auf ein Gerät, das auf dem Schreibtisch stand. Als der Kommunikator aufleuchtete, sagte er leise: „Braithwaite, lassen Sie jetzt bitte Chefarzt Cresk-Sar hereinkommen.“ Kochend vor Wut kehrte Gurronsevas ins Vorzimmer zurück und unternahm dabei keinen Versuch, die Füße leise auf den Boden zu setzen. Der nidianische Chefarzt, der darauf wartete, mit O’Mara zu sprechen, wich ihm eiligst aus, während die Blicke der Mitarbeiter unerschütterlich auf die Arbeitsbildschirme gerichtet blieben, obwohl die kleineren Geräte, die auf den Schreibtischen standen, bei jedem geräuschvollen Tritt des Tralthaners bebten. Erst als Gurronsevas den wartenden Timmins erreicht hatte, blieb er stehen. „O’Mara ist jemand, der einen wirklich rasend machen kann“, grummelte er verärgert. „Als Heiler von Geist und Seele leidet er an einem geradezu erschreckenden Mangel an Mitgefühl oder Sensibilität, und auch wenn ich nicht in seinem Beruf arbeite, würde ich sagen, daß er mehr psychischen Kummer bereitet als heilt.“ Timmins schüttelte bedächtig den Kopf „Da liegen Sie völlig falsch, Sir“, widersprach er. „Der Major weist immer wieder sehr gerne darauf hin, seine Arbeit hier bestehe darin, die Leute auf den Boden der Tatsachen zurückzuholen, und nicht, sie abheben zu lassen. Falls Sie die Bedeutung dieser typisch terrestrischen Redewendung nicht verstehen, werde ich Sie Ihnen später erklären. O’Mara ist ein sehr guter Psychologe, der beste, den sich ein psychisch angespanntes oder traumatisiertes Lebewesen überhaupt nur wünschen kann, aber gegenüber Freunden und Kollegen, bei denen für ihn von Berufs wegen kein Grund zur Besorgnis besteht, gibt er gerne das Bild eines durch und durch gehässigen und sarkastischen Charakters ab. Sollte er Ihnen jemals Mitgefühl oder Anteilnahme entgegenbringen und Sie nicht wie einen Kollegen, sondern wie einen Patienten behandeln, dann erst stecken Sie in echten Schwierigkeiten.“ „Ich. ich bin mir nicht sicher, ob ich Sie richtig verstehe“, stammelte Gurronsevas. „Im Grunde haben Sie sogar lobenswerte Zurückhaltung bewiesen, Sir“, fuhr der Lieutenant mit einem erneuten Lächeln fort. „Eigentlich sollte O’Maras Büro nämlich schalldicht sein; jedenfalls haben wir Sie nur einmal laut werden hören. Außerdem versuchen viele andere, beim Hinausgehen die Tür hinter sich zuzuschlagen.“ „Das ist doch eine Schiebetür, Lieutenant“, wandte Gurronsevas ein. „Na, sehen Sie? Um so dümmer von denen“, meinte Timmins schmunzelnd. 3. Kapitel Das Zimmer war zwar viel kleiner als Gurronsevas’ vorherige Unterkunft in Retlin, gaukelte einem jedoch durch ein schönes und fast dreidimensional wirkendes Bild einer tralthanischen Gebirgslandschaft, das eine ganze Wand einnahm, Geräumigkeit vor. Dagegen waren die Farben, in denen man die übrigen Wände und die Decke gestrichen hatte, mit denen in Gurronsevas’ altem Quartier identisch. Unter der Wand mit dem Bild war in den Boden eine kleine, aber ausreichende Vertiefung zum Eintauchen des Körpers eingelassen, die auf der einen Seite terrassenförmige Stufen zum bequemen Einsteigen aufwies. Außerdem war ein Gerät zur Schwerkraftregulierung vorhanden, so daß Gurronsevas die Gravitationsstärke im Raum zur körperlichen Bewegung oder Entspannung erhöhen konnte, da die im Hospital herrschende normale Anziehungskraft nur wenig mehr als halb so groß wie auf Traltha war. In einer Ecke des Zimmers stand ein Pult mit Kommunikator und einem großen Bildschirm, und die zwei Behälter, ein großer und ein kleiner, die Gurronsevas auf der Tennochlan begleitet hatten, erwarteten ihn bereits im Eingang. „Damit hatte ich nicht gerechnet, Lieutenant Timmins“, meinte Gurronsevas anerkennend. „Das ist sehr erfreulich. Vielen Dank für die Mühe, die Sie auf sich genommen haben, um das alles so hinzukriegen.“ Timmins lächelte und machte mit der rechten Hand eine wegwerfende Geste. Dann deutete er mit ihr auf das Kommunikationspult. „Die Geräte funktionieren nach dem üblichen Prinzip“, erklärte er. „Es stehen Ihnen jede Menge medizinische Schulungs- und Informationskanäle zur Verfügung, zu denen auch einer gehört, der Ihnen den detaillierten Grundriß des Hospitals bietet, was Sie noch als sehr hilfreich empfinden werden, und — falls nötig — eine Vorrichtung zum beliebigen Abruf für Studienzwecke aufweist. Um das zu verstehen, was in den Programmen gesagt wird, werden Sie Ihren Mehrkanaltranslator benutzen müssen, der dort auf dem Pult liegt. Bedauerlicherweise sind die Unterhaltungskanäle nicht auf dem neuesten Stand — selbst das terrestrische Material ist alt und nicht besonders gut, und die Mitarbeiter anderer Spezies haben ähnliche Klagen. Im Hospital geht das — von O’Mara nie offiziell dementierte — Gerücht um, der Ausbildungsleiter, Chefarzt Cresk-Sar, habe absichtlich dafür gesorgt, um einen Anreiz für mehr Studien in der Freizeit zu schaffen.“ „Ich verstehe. Dafür habe ich vollstes Verständnis“, sagte Gurronsevas. Wieder lächelte Timmins. „Ihre Unterkunft hat hier und hier verborgene Stauräume und ist für alle Bilder oder Wandbehänge, die Sie anbringen möchten, mit versenkten Befestigungspunkten ausgestattet, die so funktionieren. Hätten Sie gerne Hilfe beim Auspacken und Ordnen Ihrer persönlichen Gegenstände?“ „Nein danke. Da ich nur sehr wenig besitze, wird das nicht erforderlich sein“, antwortete Gurronsevas und deutete auf die Behälter. „Aber den größeren Behälter würde ich gerne so schnell wie möglich bei mäßiger Kühlung lagern lassen, und zwar an einem Platz, wo er mir rasch zugänglich ist. Den Inhalt brauche ich für meine Arbeit.“ Der Ausdruck, den Timmins weiche, gelbrosa Gesichtszüge angenommen hatten, verriet Gurronsevas’ Vermutung nach wahrscheinlich Neugier, die der Tralthaner jedoch vorerst noch nicht zu stillen beabsichtigte. „Am anderen Ende des Gangs vor Ihrer Unterkunft befindet sich ein Kühlraum“, fuhr der Lieutenant fort. „Wir brauchen keine Zeit damit zu vergeuden, einen G-Schlitten zu holen, der Behälter ist ja nicht besonders schwer.“ Wenige Minuten später befand sich Gurronsevas’ kostbarer Behälter an einem kühlen, sicheren Ort, und Timmins fragte: „Würden Sie sich jetzt gerne ausruhen, Sir? Oder einen Rundgang durch einen Teil des Hospitals machen? Oder möchten Sie lieber unsere Kantine für warmblütige Sauerstoff atmer besuchen?“ „Weder noch“, antwortete Gurronsevas. „Ich werde zurück in meine Unterkunft gehen und mich mit der Anlage des Hospitals vertraut machen. Danach würde ich gern allein den Weg zur Kantine finden. Ich will lieber früher als später lernen, auf — wie drückt Ihre Spezies das noch mal aus? — ach ja. auf meinen eigenen sechs Füßen zu stehen.“ „Verstanden, Sir“, sagte Timmins. „Meinen persönlichen Kommunikationscode haben Sie ja. Rufen Sie mich, falls Sie Hilfe brauchen.“ „Ich danke Ihnen, Lieutenant“, sagte Gurronsevas. „Ich werde zwar Hilfe brauchen, aber hoffentlich nicht allzu oft.“ Timmins hob eine Hand und ging, ohne ein weiteres Wort zu sagen. Am nächsten Tag war Gurronsevas bereits in der Lage, den Weg zur richtigen Ebene zu finden, ohne jemanden nach der Richtung fragen zu müssen. Doch das lag daran, daß er auf den letzten Streckenabschnitten zwei melfanischen Schwesternschülerinnen folgte, die sich über die Notwendigkeit unterhielten, sich bei der nächsten Mahlzeit zu beeilen, um nicht zu spät zu einer Vorlesung zu kommen. Dennoch war sich Gurronsevas sicher, die Kantine auch ohne passive Führung wiederzufinden. Auf dem Schild über dem breiten, türlosen Eingang stand in den vier in der Föderation hauptsächlich gesprochenen Sprachen, nämlich in Tralthanisch, Orligianisch, Terrestrisch und Illensanisch: HAUPTKANTINE DER SPEZIES DBDG, DBLF, DBPK, DCNF, DRLH, EGCL, ELNT, FGLI und FROB. SPEZIES GKNM & GLNO AUF EIGENE GEFAHR. Für Kantinenbesucher, deren Sprache nicht vertreten war, wurde dieselbe Auskunft als mündliche Kennzeichnung zur Übersetzung durch den Translator wiederholt. Gurronsevas ging hinein und, beeindruckt von dem Anblick derart vieler unterschiedlicher Spezies auf einem Haufen und von dem gedämpften Lärm der mit bellenden, grunzenden, knurrenden, piepsenden und pfeifenden Stimmen geführten Gespräche, blieb er zunächst einmal wie gelähmt stehen. Wie lange er dastand und auf den sich weit ausdehnenden, spiegelblank polierten Boden und auf die wie kleine Inseln gruppierten Eßtische, Bänke und Stühle starrte, die nach verschiedenen Größen zusammengestellt waren, um der unglaublichen Vielfalt von Benutzern Platz zu bieten, wußte er nicht. Was er hier sah, übertraf bei weitem alles, was er je zuvor erlebt hatte. Inmitten all der Lebensformen, die ihm vollkommen neu waren, erkannte er Mitglieder der kelgianischen, ianischen, melfanischen, nidianischen, orligianischen, dwerlanischen, etlanischen, terrestrischen und seiner eigenen tralthanischen Spezies. Viele von ihnen saßen an Tischen und benutzten Bestecke, die für ganz andere Lebensformen vorgesehen waren, anscheinend, um sich mit Freunden, die einer anderen Spezies angehörten, unterhalten zu können. Es gab Wesen, die einem schon aufgrund ihrer auffallenden Körperstärke Angst einjagten, und andere, die derart entsetzlich und widerwärtig aussahen, daß sie in den Bereich der Alpträume gehörten. Eine Lebensform, eine riesige insektenartige Kreatur mit zwei schönen, schillernden Flügelpaaren, besaß einen so zerbrechlich wirkenden Körper, daß ihr Anblick inmitten der anderen sofort ein Gefühl der Besorgnis hervorrief. An den meisten Tischen waren, wenn überhaupt, nur noch wenige Plätze frei. Daß Platz im Orbit Hospital hoch im Kurs stand, war offensichtlich, und die Wesen, die zusammen arbeiteten, sollten, wann immer es physiologisch möglich war, auch gemeinsam essen — obwohl, wie Gurronsevas aufrichtig hoffte, nicht vom selben Menü. Er fragte sich gerade, ob es möglich wäre, ein Gericht zuzubereiten, das alle warmblütigen, sauerstoffatmenden Spezies auf Anhieb als schmackhaft empfinden würden, und dachte, daß dies die endgültige Herausforderung für den großen Gurronsevas wäre, als er von hinten in doppelter Folge zwei sanfte Stöße erhielt. „Blockier hier nicht den Eingang, du Blödian!“ ermahnte ihn eine Kelgianerin mit silbernem Fell in der ungehörigen Art ihrer Spezies, während sie sich an ihm vorbeidrängte. Auf Gurronsevas’ anderer Seite fügte ihre Begleiterin hinzu: „Wenn du noch lange dastehst und vor dich hin träumst, verhungerst du noch.“ Als er weiter in den Saal hineinging, merkte Gurronsevas auf einmal, daß er Hunger hatte, doch noch stärker war seine Neugier auf die schöne, riesige, insektenartige Lebensform, die über einem für melfanische ELNTs bestuhlten Tisch in der Nähe schwebte und im Flug ihre Mahlzeit einnahm. Seitlich unter ihr war ein Platz frei. Als er an den Tisch kam, sah Gurronsevas, daß es sich bei dem Wesen tatsächlich um ein riesiges, enorm zerbrechlich wirkendes Fluginsekt handelte, das jedoch im Verhältnis zu den anderen Kantinenbesuchern relativ klein war. An seinem röhrenförmigen Körper mit Ektoskelett befanden sich sechs bleistiftdünne Beine, vier noch feiner gebaute Greiforgane und zwei breite, schimmernde Flügelpaare, mit denen es langsam schlagend ein kurzes Stück über dem Tisch schwebte, während es eine lange, fadenartige Substanz, die Gurronsevas sofort als terrestrische Spaghetti erkannte, zu einem fortlaufenden Strang zusammenflocht, bevor es diesen grazil in den Mund beförderte. Aus nächster Nähe war das zarte Geschöpf nach seinem Dafürhalten noch schöner. Für einen Moment wurde der Schwebeflug des Insekts unruhiger, und aus einer unbekannten Körperöffnung drang eine Folge von melodischen, rollenden Schnalzlauten, die wie eine musikalische Untermalung der Übersetzung klangen. „Ja, vielen Dank, mein Freund“, sagte das Wesen. „Ich bin Prilicla. Sie müssen Gurronsevas sein.“ „Und Sie sind offenbar ein Telepath“, antwortete Gurronsevas erstaunt. „Nein, mein Freund“, widersprach Prilicla, „ich bin Cinrussker. Unsere Spezies verfügt über Fähigkeiten, durch die wir emotionale Ausstrahlungen wahrnehmen können. Doch dabei handelt es sich eher um Empathie als um Telepathie. Sie haben Emotionen ausgestrahlt, die typisch für jemanden sind, der gerade eine völlig neue Erfahrung macht, dabei aber auch das Unbehagen verspürt, das solche durch starke Neugier überlagerten Gefühle normalerweise begleitet. Außerdem nehme ich bei Ihnen noch andere, schwache Emotionen wahr, durch die diese deutlicheren Anzeichen erhärtet werden. Durch diese Hinweise und das Vorwissen, daß man die baldige Ankunft eines Tralthaners erwartet hat, der die Leitung der Diätetikabteilung übernehmen soll, ist es mir lediglich möglich gewesen, eine höchstwahrscheinlich zutreffende Vermutung anzustellen.“ „Trotzdem bin ich beeindruckt“, sagte Gurronsevas. Die Warmherzigkeit und Freundlichkeit, die von dem kleinen Wesen ausgingen, waren beinahe greifbar. „Darf ich Ihnen Gesellschaft leisten?“ „Sie sind viel zu freundlich, verdammt noch mal!“ beklagte sich lauthals ein großer Orligianer, der dem freien Platz gegenübersaß. Er war schon älter, und das borstige graue Fell verdeckte die Gurte des Translators fast vollständig. Zudem saß er nicht besonders bequem auf der Kante des melfanischen Stützgestells, das am Tisch stand. Das alles mochte zu seinem Mangel an Höflichkeit beigetragen haben. „Ich bin übrigens Yaroch-Kar, Fremder“, stellte er sich in freundlicherem Tonfall vor. „Nehmen Sie einfach rasch Platz, bevor es jemand anders tut. Wie Sie nämlich bald feststellen werden, leiden höfliche Leute hier schnell unter schwerer Unterernährung.“ Weiter unten am Tisch stieß ein Terrestrier die Laute aus, die Gurronsevas als Lachen zu erkennen gelernt hatte, und der Orligianer fuhr fort: „Der Automat für die Bestellung und Auslieferung des Essens funktioniert nach dem üblichen Prinzip. Geben Sie einfach Ihre Biologische Klassifikation ein, und schon werden die vorhandenen Gerichte auf dem Display aufgelistet. Da wir hier im Hospital eine Menge Tralthaner haben, ist die Auswahl gut, auch wenn man sich über Qualität und Geschmack der Gerichte streiten kann.“ Gurronsevas entgegnete nichts und korrigierte seinen ersten Eindruck von diesem anfangs so unhöflich auftretenden Orligianer; offenbar bemühte sich dieses Wesen lediglich darum, ihm behilflich zu sein. „Bei Neulingen wie Ihnen kommt es manchmal vor, daß man sich vom bloßen Anblick der anderen Gerichte oder vielleicht auch der Tischnachbarn selbst derart belästigt fühlt, daß einem der Appetit vergeht“, setzte der Orligianer seine Ausführungen fort. „Sollte das bei Ihnen der Fall sein, behalten Sie einfach ein Auge auf Ihrem Teller und schließen Sie die übrigen. Dadurch wird sich hier niemand beleidigt fühlen. Falls Sie allerdings wirklich derjenige sein sollten, der für die Qualität der Hospitalkost — besser gesagt: für deren Mangel daran — verantwortlich ist, dann würden Sie sich das Leben leichter machen, wenn Sie diesen Umstand so lange wie möglich für sich behielten.“ „Herzlichen Dank für die Auskunft und die guten Ratschläge“, sagte Gurronsevas, „doch bedauerlicherweise kann ich sie nicht alle annehmen.“ „Sie sind schon wieder zu höflich“, wandte der Orligianer ein und wandte seine Aufmerksamkeit wieder dem Essen zu. Als Gurronsevas an den Tisch herantrat, wobei er darauf achtete, die Beine zu spreizen und es nicht darauf ankommen zu lassen, den melfanischen Stuhl zu verbiegen, indem er sich mit der Unterseite des Körpers darauf abstützte, hörte er wieder die rollenden Schnalzlaute Priliclas. „Da ich sowohl Ihren Hunger als auch Ihre Neugier auf meine Essensmethode spüre, bitte ich Sie, den ersten Trieb zu befriedigen, während ich den zweiten stille.“ Gurronsevas gab seine Bestellung über die Tastatur ein; nach seiner Auffassung mochte Prilicla zwar kein Telepath sein, doch verfügte dieses spinnenartige, zierliche Wesen über derart feine empathische Fähigkeiten, daß es kaum einen Unterschied machte. „Ich finde, das Essen während des Flugs fördert die Verdauung“, fuhr der Cinrussker fort und beantwortete damit die erste unausgesprochene Frage. „Außerdem trägt die von den Flügeln aufgewirbelte Luft zum Abkühlen der Suppe meiner terrestrischen Freunde bei, falls sie zum schnellen Auslöffeln zu heiß sein sollte. Bei der fadenartigen Substanz, die ich zusammenflechte und zu mir nehme, handelt es sich natürlich um das terrestrische Hauptnahrungsmittel namens Spaghetti, das bei den DBDGs vom Wartungspersonal äußerst beliebt ist. Wie Sie wissen, sind die hiesigen Spaghetti synthetisch hergestellt und haben einen recht faden Geschmack, der durch eine Soße aufgewogen wird, die mir manchmal ins Gesicht spritzt, wenn sie zu reichlich bemessen worden ist, oder diejenigen bekleckert, die mir zu nahe sitzen. Gibt es sonst noch etwas, das Sie gerne wissen möchten, mein Freund?“ „Beruflich finde ich das äußerst interessant“, entgegnete Gurronsevas und vergaß in seiner Aufregung ganz, den Mund zu benutzen, der nicht mit Kauen beschäftigt war. „Essen Sie noch andere Arten von nichtcinrusskischen Nahrungsmitteln? Oder kennen Sie im Hospital sonst noch jemanden, der Nahrungsmittel anderer Spezies verzehrt? Sitzt hier eventuell sogar jemand am Tisch, auf den das zutrifft?“ Yaroch-Kar legte sein Besteck beiseite und antwortete: „Diagnostiker machen das manchmal, wenn sie ein Schulungsband im Kopf gespeichert haben, das von einer besonders willensstarken Persönlichkeit einer anderen Spezies stammt. Die setzt dem Diagnostiker dann so zu, daß er nicht mehr weiß, wer er eigentlich ist. Abgesehen davon haben das noch ein paar andere Mitarbeiter getan, entweder als Mutprobe oder bei einer geheimen Zeremonie zur Aufnahme in eine Abteilung. Ich meine, stellen Sie sich mal einen Orligianer wie mich vor, der, sagen wir mal, eine Portion melfanische Greeps essen will und ihnen erst einmal in der Schüssel herum mit der Gabel nachjagen muß. Was mich angeht, so bin ich ausgesprochen froh, daß dieser Brauch nicht weit verbreitet ist.“ Gurronsevas konnte nicht glauben, was er da hörte. „Sie meinen, hier werden lebende Tiere serviert?“ „Na ja, ich habe übertrieben, aber nur ein bißchen“, korrigierte sich Yaroch-Kar. „Das Greep-Gericht lebt eigentlich nicht, sondern bewegt sich nur. Ansonsten handelt es sich um dieselbe nahezu geschmacklose, synthetisch hergestellte Pampe, die wir alle essen. Die Masse, aus der die Greeps geformt werden, wird mit ungiftigen chemischen Präparaten behandelt, die es ermöglichen, jedem Stück eine schwache elektrische Ladung zu geben. Die eine Hälfte wird positiv und die andere negativ aufgeladen, und das Ganze wird dann erst in der Ausgabeöffnung gemischt. Für die wenigen Augenblicke, bevor sich die Ladungen gegenseitig neutralisiert haben, stellt sich ein realistischer und ziemlich ekelhafter optischer Effekt ein.“ „Faszinierend!“ staunte Gurronsevas, wobei ihm nicht entging, daß dieser Yaroch-Kar, was die Hospitalküche betraf, ungewöhnlich gut unterrichtet war. Vielleicht hielt er sich für einen Feinschmecker, und deshalb wollte Gurronsevas dieses Gespräch unbedingt fortsetzen. „Im Cromingan-Shesk mußten wir lebende Greeps importieren, was sie zu einer seltenen und kostspieligen Delikatesse gemacht hat. Aber ist es nicht theoretisch möglich, eine Mahlzeit zuzubereiten, die für den Stoffwechsel sämtlicher warmblütiger Sauerstoffatmer geeignet ist und zugleich ihren Appetit anregt und stillt? Ein Gericht, das eine Kombination des Aussehens und Geschmacks von, sagen wir mal, den crelletinischen Weintrieben der Kelgianer, den melfanischen Sumpfnüssen und natürlich Greeps, dem orligianischen Skarkshi, dem nallajimischen Vogelfutter, dem terrestrischen Steak und auch den Spaghetti und unserem eigenen. Ist irgendwas nicht in Ordnung?“ Mit Ausnahme des in der Luft schwebenden Priliclas gaben alle Wesen am Tisch laute und unübersetzbare Würgegeräusche von sich. Der Terrestrier riß sich als erster wieder zusammen und antwortete Gurronsevas: „Nicht in Ordnung? Schon bei der bloßen Vorstellung sind wir nahe daran, alles wieder von uns zu geben.“ Prilicla gab einen kurzen, rollenden Laut von sich, den der Translator nicht übersetzte, und meinte dann: „Ich kann keine Anzeichen für emotionale Anspannungen oder akute Verdauungsprobleme feststellen, Freund Gurronsevas. Die mündlich geäußerten Reaktionen unserer Tischgenossen sind übertrieben, um eine humoristische Wirkung zu erzielen. Machen Sie sich keine Sorgen.“ „Dann bin ich ja beruhigt“, seufzte Gurronsevas erleichtert und wandte seine Aufmerksamkeit ganz dem Cinrussker zu. „Fördert das Zusammenflechten der einzelnen Spaghetti zu einem Strang ebenfalls Ihre Verdauung?“ „Nein, mein Freund“, antwortete Prilicla. „Das mache ich nur zu meinem Vergnügen.“ „Ich kann mich noch daran erinnern“, mischte sich Yaroch-Kar ein, „daß ich, als ich ganz jung war — was schon eine Ewigkeit her ist—, getadelt worden bin, weil ich mit meinem Essen gespielt habe.“ „An so etwas kann ich mich auch erinnern“, bestätigte Prilicla. „Aber jetzt, wo ich groß und stark geworden bin, kann ich endlich tun und lassen, was ich will.“ Einen Moment lang starrte Gurronsevas den dünnen, einer Eierschale ähnelnden Körper, die spinnenartigen Beine und die unglaublich zerbrechlich wirkenden Flügel erstaunt an. Dann fiel er selbst mit Tönen, die das Lachen eines Tralthaners darstellten, in die unübersetzbaren Laute der anderen ein. 4. Kapitel Eine lange schlaflose Phase, in der Gurronsevas derart konzentriert nachdachte, daß er keine klare Vorstellung davon hatte, wieviel Zeit vergangen war, wurde durch den aufdringlichen Klang und das blinkende Licht des Türmelders unterbrochen. Es war Lieutenant Timmins. „Entschuldigen Sie bitte die Störung, Sir“, sagte er in forschem Ton. „Ich hoffe doch, Sie haben gut geschlafen. Gibt es einen bestimmten Teil des Hospitals, den Sie besichtigen möchten, oder jemanden, den Sie kennenlernen wollen? Den Versorgungscomputer für Speisen und Getränke zum Beispiel, die verschiedenen Nahrungssynthesizer oder die Diätküchen der einzelnen Abteilungen? Oder die Lebensmitteltechniker, die die Verantwortung für.?“ Gurronsevas hob zwei der oberen Gliedmaßen, die er locker gekreuzt hielt, und bat auf diese Weise wortlos um Ruhe. Timmins mußte diese tralthanische Geste verstanden haben, denn er verstummte sofort. „Danke, aber im Moment möchte ich nichts von alledem“, antwortete Gurronsevas. „Zwar weiß ich, daß Sie noch andere Pflichten haben müssen, Lieutenant, doch solange es von der Hospitalleitung geduldet wird, würde ich es vorziehen, mit niemand anderem als mit Ihnen in engen persönlichen Kontakt zu treten oder vertrauliche Gespräche zu führen.“ „Natürlich habe ich noch andere Pflichten“, bestätigte Timmins, „aber ich habe auch einen Assistenten, der mir angestrengt das Gefühl zu geben versucht, überflüssig zu sein. Für die nächsten zwei Tage stehe ich Ihnen voll und ganz zur Verfügung, und danach immer dann, wenn es uns beiden zeitlich in den Kram paßt. Was möchten Sie als erstes tun?“ Daß Timmins allmählich ungeduldig wurde, war offensichtlich, doch Gurronsevas rührte sich nicht. „Auch auf die Gefahr hin, mich — hoffentlich zum letzten Mal zu wiederholen und Sie zu ermüden, muß ich Sie an meine vorherige Stellung auf Nidia erinnern“, sagte der Tralthaner. „Das Cromingan-Shesk ist ein riesengroßes Hotel für viele verschiedene Spezies, und die dortigen Küchen, über die ich die Gesamtaufsicht geführt habe, sind komplexe, mit modernster Technik ausgestattete Einrichtungen, in denen es — wie nicht anders zu erwarten — immer wieder zu äußerst lästigen Funktionsstörungen kommt. Ich bin in der Lage gewesen, die Zahl dieser Ausfälle zu verringern, indem ich mich mit der Grundfunktion der unsichtbaren Trägerkonstruktionen, der verschiedenen Systeme zur Nahrungsaufnahme bei anderen Spezies, der Prozessoren, Backöfen und Zusatzgeräte vertraut gemacht habe, bis hin zum richtigen Gebrauch des kleinsten Schneidwerkzeugs und Löffels. Gleichfalls habe ich mich über die Arbeit der untergeordneten Köche, der Kellner, der Wartungstechniker und derjenigen informiert, die für die Dekoration der Tische verantwortlich gewesen sind, und dabei nicht einmal die Tätigkeit des rangniedrigsten Mitglieds des Reinigungspersonals ausgespart. Ich hatte es mir zur Aufgabe gemacht, genug zu wissen, um sagen zu können, ob und wann ein Fehler aufgetreten war, egal, ob ich dafür eine Begründung oder eine Ausrede bekommen habe. Bevor ich versuche, irgendwem in meiner Abteilung Anweisungen zu geben, will ich das räumliche Ausmaß meines Verantwortungsbereichs und die praktischen Schwierigkeiten kennen, die sich wahrscheinlich ergeben werden, damit die Kluft zwischen der Unwissenheit meiner Untergebenen und meiner eigenen möglichst gering ist“, fuhr Gurronsevas fort. „Mit diesem Lernprozeß sollte ich sofort anfangen.“ Während Gurronsevas’ Ausführungen hatte sich Timmins’ Mund zwar geöffnet, doch für ein Lächeln schien die Lippenstellung nicht ganz richtig zu sein. Schließlich entgegnete der Lieutenant: „Dann werden Sie sich ausgiebig durch das Wartungstunnelnetz bewegen müssen. Dort kann es stellenweise allerdings recht schmutzig, unangenehm und gefährlich sein. Sind Sie sich auch wirklich sicher, daß Sie genau das wollen?“ „Ganz sicher sogar“, bekräftigte Gurronsevas. „Dann können wir uns unterwegs weiter unterhalten“, schlug der Lieutenant vor. „Aber zumindest am Anfang wäre es besser, wenn ich rede und Sie zuhören würden. In der Wand am Ende des Gangs vor Ihrer Unterkunft befindet sich eine Einstiegsluke für das Wartungspersonal.“ Laut Timmins war der Plan der Wartungstunnel und — Stationen zwischen den Ebenen des Hospitals, den Gurronsevas vor seiner Ankunft so eifrig studiert hatte, zur Information von Interessierten erstellt worden, bei denen es sich nicht um Fachleute handelte; entsprechend waren die Zeichnungen stark vereinfacht, sahen viel zu hübsch aus und waren schon seit Jahren überholt. Daß der Terrestrier nicht übertrieben hatte, bestätigte sich schon bald; denn kaum waren sie durch die Luke für das Wartungspersonal gestiegen, sah sich Gurronsevas einer nach unten führenden Treppe gegenüber, die dem Plan zufolge gar nicht hätte existieren dürfen. „Die Stufen sind zwar stabil genug, um Ihr Gewicht zu tragen, aber steigen Sie trotzdem langsam hinunter“, riet Timmins. „Wenn es Ihnen lieber ist, können wir auch an einer anderen Stelle einsteigen, wo es eine Rampe gibt. Manche Tralthaner haben mit Treppen so ihre Schwierigkeiten.“ „Treppen habe ich schon im Hotel benutzt“, fiel ihm Gurronsevas ins Wort. „Aber bitten Sie mich nicht darum, auf Leitern zu steigen.“ „Das werde ich schon nicht tun“, beruhigte ihn der Lieutenant. „Aber Sie gehen zuerst. Das ist keine Höflichkeit, sondern ich will es nur nicht riskieren, daß mir ein Tralthaner auf den Kopf fällt, der eine viertel Tonne wiegt. Wie ist Ihr Sehvermögen?“ „Sehr gut“, antwortete Gurronsevas. „Aber sehen Sie auch gut genug, um deutlich die Farben zu erkennen, die durch Veränderungen in der Tunnelbeleuchtung feinen Abstufungen unterworfen und recht gedämpft sind?“ hakte Timmins hartnäckig nach. „Oder leiden Sie an Klaustrophobie?“ Indem er sich bemühte, seine Ungeduld zu verbergen, antwortete Gurronsevas: „Ich bin mit bloßem Auge in der Lage, den Frischegrad einer ganzen Reihe häufig verzehrter Früchte und Gemüsesorten bis auf wenige Stunden genau bestimmen zu können. Und Platzangst habe ich auch nicht.“ „Dann ist ja alles in bester Ordnung“, meinte Timmins. Mit leicht entschuldigendem Unterton fuhr er fort: „Aber sehen Sie nach oben und achten Sie auf das, was sich um Sie herum befindet. In sämtlichen Verbindungsgängen, Tunneln, Wartungsschächten und Schutznischen sieht es nämlich genauso wie hier aus. Das heißt, an den Wänden und Decken ziehen sich Kabelbäume und Rohrleitungen entlang, die ausnahmslos mit unterschiedlichen Farben gekennzeichnet sind. Dadurch sind die Wartungstechniker in der Lage — ähnlich wie Sie beim Frischgemüse — auf einen Blick zu sagen, welche Kabel Starkstrom führen und welche die weniger gefährlichen Kommunikationsleitungen beherbergen, oder in welchen Rohren sich Sauerstoff, Chlor, Methan oder organische Abfallstoffe befinden. Die Gefahr der Verseuchung von Stationen durch die Atmosphäre einer artfremden Spezies ist immer gegenwärtig, und man sollte es nicht zulassen, daß sich eine solche Umweltkatastrophe ereignet, nur weil jemand mit einem Sehfehler die falschen Rohre zusammengesteckt hat. Normalerweise müßte ich mich nicht nach der Sehschärfe oder nach einer eventuell vorhandenen Klaustrophobie erkundigen, weil O’Maras psychologische Durchleuchtung jedes Wesen mit diesen Gebrechen vor der Zulassung zur Ausbildung aussondern würde“, setzte er seine Ausführungen fort. „Da Sie jedoch kein Auszubildender sind, ist mir Ihre psychologische Akte nicht zugänglich gewesen. Schnell! Gehen Sie in die Nische rechts vor Ihnen hinein!“ Die letzten paar Sekunden lang hatte Gurronsevas einen hohen Heulton wahrgenommen, der ständig lauter geworden war. Er spürte, wie ihn Timmins’ kleine, weiche Hände an der Seite des Unterkörpers auf eine Weise voranschoben, die ein anderer Tralthaner als Intimität betrachtet hätte, doch der Lieutenant drängte ihn lediglich, sich schneller in die Nische zu begeben, bevor er sich selbst neben ihm hineinzwängte. Ein G-Schlitten, der so hoch mit Vorräten und Ausrüstung beladen war, daß zwischen der Ladung und der Tunneldecke nur noch wenige Zentimeter Luft zu blieben schienen, zog heulend an ihnen vorbei. Über den Lärm der Warnsirene hinweg brüllte der terrestrische Fahrer: „Morgen, Lieutenant!“ Timmins hob eine Hand zum Gruß, sagte aber nichts, da sich der Fahrer mittlerweile außer Hörweite befand. Jetzt kannte Gurronsevas den Zweck der Nischen. „Wir könnten eine Menge Zeit sparen, wenn wir einen G-Schlitten benutzen würden, anstatt zu Fuß zu gehen“, schlug er vor. „Ich bin mitten in der Innenstadt von Retlin herumgefahren, wo ganz entsetzlicher Verkehr herrscht, und man schätzte mich als ausgezeichneten Fahrer.“ Timmins schüttelte den Kopf „Um sich hier mit einem G-Schlitten zu bewegen, reichen Ihre Fahrkünste noch lange nicht. Falls Sie wirklich vorhaben, viel Zeit in den Wartungstunneln zu verbringen, werde ich für Sie einen speziellen Fahrunterricht in einem leeren Laderaum mit Wänden arrangieren, die bei der leichtesten Berührung einstürzen, damit Sie nicht das Hospitalgebäude beschädigen oder sich selbst verletzen. Doch der Hauptgrund, im Moment keinen G-Schlitten zu benutzen, ist der, daß wir uns mit ihm zu schnell fortbewegen würden. Dann könnten Sie an den Punkten, die wir aufsuchen oder an denen wir vorbeikommen, nichts Nützliches sehen oder lernen.“ „Ich verstehe“, räumte Gurronsevas kleinlaut ein. „Gut, damit wären wir schon mal einen Schritt weiter“, stellte der Lieutenant zufrieden fest. „Doch jetzt ein kleiner Test. Was können Sie mir aufgrund Ihrer bisherigen Beobachtungen und der wenigen Eindrücke, die Sie gesammelt haben, über den Tunnelabschnitt erzählen, den wir gerade betreten haben?“ Gurronsevas’ Schulbesuch lag zwar sehr viele Jahre zurück, doch damals wie heute war er stets angestrengt bemüht, seine Lehrer zu beeindrucken. „Ein paar Sekunden lang habe ich von der Tunneldecke her ein dumpfes Poltern und Schlurfen und die gedämpften Stimmen von Mitgliedern anderer Spezies wahrgenommen, die für den Translator zu zahlreich und zu schwach gewesen sind“, antwortete er. „Das führt mich zu der Annahme, daß wir uns unter einem der Hauptkorridore hindurchbewegen. In der Luft liegt ein schwacher Geruch, den ich nicht bestimmen kann und der in größerer Intensität vermutlich unangenehm wäre. Wie ich außerdem bemerke, sind zwar die Farbmarkierungen, die die Strom- und Kommunikationsleitungen über unseren Köpfen wie auch die Rohre mit Wasser und mit dem von den warmblütigen Sauerstoffatmern benötigten Sauerstoff-Stickstoff-Gemisch kennzeichnen, die gleichen geblieben, aber es sind auch mehrere dicke Rohre mit der Kennzeichnung für Wasser hinzugekommen, sowie einige dünnere Leitungen mit einer Farbmarkierung, über die Sie mir nichts erzählt haben. Ich habe eine Frage.“ „Wer so gut geantwortet hat, verdient es, ebenfalls eine gute Antwort zu erhalten“, meinte Timmins lächelnd. „Fragen Sie.“ „Keiner der Mechanismen und keins der Geräte, an denen wir vorbeigekommen sind, hat ein Erkennungszeichen gehabt“, sagte Gurronsevas. „Wird von Ihnen und Ihrem Wartungspersonal verlangt, die Funktion all dieser Mechanismen auf einen Blick zu erkennen und sich einzuprägen?“ „Du meine Güte, nein.!“ widersprach Timmins, als sie plötzlich von der Sirene eines herannahenden Fahrzeugs, das von einem Kelgianer mit silbernem Fell gefahren wurde, der keinen Ton sagte, gezwungen wurden, in der nächsten Wandvertiefung Schutz zu suchen. Als sie wieder aus der Nische hervorkamen, fuhr Timmins fort: „Nicht einmal ein Diagnostiker besitzt ein dermaßen gutes Gedächtnis. Rechts von Ihnen steht ein rot-blauweiß gekennzeichneter Kasten, in den drei der dicken Wasserrohre hineinführen. Auf der Außenseite befindet sich eine große Inspektionsluke, in die ein kleiner aufklappbarer Deckel eingebaut ist. Öffnen Sie den Deckel und drücken Sie auf den darunter befindlichen Knopf.“ Gurronsevas tat wie befohlen und war überrascht, als eine neue Stimme zu ihnen zu sprechen begann. Die Originalsprache konnte er zwar nicht erkennen, doch die Übersetzung kam deutlich durch seinen Translator. „Ich bin eine Reservepumpe und diene dem Zweck, die Hauptstation für Chalder mit der lebensnotwendigen Umgebungsflüssigkeit aufzufüllen. Diese Flüssigkeit enthält von den Wasseratmern der physiologischen Klassifikation AUGL bevorzugte Spurenelemente, die sie für die Trinkwasserversorgung anderer warmblütiger Spezies ungeeignet machen, auch wenn die Spurenelemente nicht giftig sind. Ich funktioniere automatisch. Die große Inspektionsluke wird geöffnet, indem Sie Ihren Generalschlüssel in den mit einem roten Kreis markierten Schlitz stecken und ihn in Pfeilrichtung um neunzig Grad drehen. Zur Reparatur oder dem Austausch von Einzelteilen ziehen Sie Wartungsanleitungsband drei, Abschnitt eins drei zwei zu Rate. Vergessen Sie nicht, den Deckel wieder zu schließen, bevor Sie gehen. Ich bin eine Reservepumpe und diene.“, ging es wieder von vorne los, aber Gurronsevas schloß den Deckel und brachte die Pumpe auf diese Weise zum Schweigen. „Eine mündliche Selbsterklärung, die von jedem, der einen Translator besitzt, verstanden werden kann“, stellte er mit Bewunderung fest. „Das hätte ich wissen müssen.“ Timmins lächelte nur. „Wir kommen jetzt in die illensanischen Ebenen. Der Geruch und die neue Farbmarkierung, die Sie entdeckt haben, zeigen das Vorhandensein von Chlor an. Doch bevor wir weitergehen, benötigen wir Schutzanzüge. Biegen Sie deshalb in den nächsten Eingang zur Linken ein. In dem dahinter befindlichen Raum brauchen Sie sich wenigstens keine Sorgen um den Verkehr zu machen.“ Wie Gurronsevas auf einen Blick erkannte, handelte es sich um einen Raum, in dem Schutzanzüge für die verschiedensten Spezies gelagert waren. Die durchsichtigen Türen der Schränke, die ringsum an den Wänden aufgestellt waren, gaben den Blick auf den Inhalt frei, und auf Wunsch konnte man sich bei jedem Anzug von mündlichen Selbsterklärungen spezielle Anweisungen zum richtigen Anpassen erteilen lassen. Timmins nahm einen Anzug für sich selbst heraus und zog ihn schnell an, bevor er Gurronsevas zu einem der Schränke für Tralthaner führte. „Mit Ihren sechs Beinen werden Sie es zuerst schwierig finden, in das Ding hineinzukommen, darum werde ich Ihnen lieber helfen“, sagte der Lieutenant. „Der Anzug stellt eine Kombination aus einem leichtgewichtigen Schutz vor der jeweiligen Umgebung und einem Mehrzweckoverall dar. An meinem befindet sich eine Kapuze, die sich luftdicht versiegeln läßt, falls es zu einem Notfall kommen sollte, der die Verseuchung von Ebenen oder Stationen anderer Spezies zur Folge hat, wie zum Beispiel durch die Funktionsstörung einer größeren Luke in der Trennwand zwischen den Bereichen von Sauerstoff- und Chloratmern oder zwischen der heißen Ebene der Telfi und irgendeiner anderen Station. Ihr Anzug ist mit Behältern ausgerüstet, die Sie für kurze Zeit mit Luft versorgen, mit Kühl- und Trockenelementen, um die Körperausdünstungen einzudämmen und vor Hitzschlag zu schützen, und mit einem Signalgeber, damit Sie Hilfe rufen können, falls Sie in Schwierigkeiten geraten. Benutzen Sie den Signalgeber nur, wenn Sie nicht zu einem Kommunikator gelangen können und sich wirklich in einer ernsten Notlage befinden oder wenn Sie sich ganz sicher sind, daß Sie die Probleme nicht selbst beheben können“, setzte Timmins seine Erläuterungen fort. „Sollte eine komplette Rettungsmannschaft samt medizinischer Unterstützung ausrücken und feststellen, daß Sie sich bloß verirrt oder sich einsam gefühlt haben, wird man Sie zur Rechenschaft ziehen und Sie werden zum Gespött der anderen.“ „Was auch berechtigt wäre“, pflichtete ihm Gurronsevas bei. Timmins lächelte und fuhr fort: „Die Anzüge schützen auch vor Schnitt- und Schürfwunden durch vorspringende Metallteile und vor Schmutz. Anders als auf den medizinischen Ebenen und in Ihren Küchen im Cromingan-Shesk brauchen wir hier nämlich nicht in blitzsauberen Verhältnissen zu arbeiten. In den Geräten bauen sich statische Ladungen auf, die Staub anziehen, und der verbindet sich mit den Schmiermitteln, die überall eingesetzt werden, zu einem äußerst schmutzigen Gemisch, das nur schwer wieder abzubekommen ist, besonders für Lebensformen, die ein Fell haben. Bis auf die transparenten Anzüge, die die Kelgianer tragen, deren Fell zur wortlosen Verständigung sichtbar bleiben muß, haben alle Anzüge eine einheitliche Farbe, nämlich das Monitorkorpsgrün. Vor dem Anziehen werden die medizinischen oder abteilungsinternen Rangabzeichen außen am Anzug angebracht. Überprüfen Sie jetzt Ihre Helmdichtung. Sitzt alles bequem?“ „Sehr bequem sogar, danke“, antwortete Gurronsevas. „Aber ich habe eine Frage zur Wasserpumpe für die AUGL-Hauptstation, die vorhin gesprochen hat. Über die Schwierigkeit, den Geschmack von Gerichten für Wasserarmer zu verbessern, habe ich bisher noch gar nicht nachgedacht. Sobald ich einige Kennmisse über die Anlage der Wartungsebenen und das Nahrungsvertriebssystem gesammelt habe, würde ich das Problem gern mit den Chaldern besprechen. Können Sie das für mich arrangieren?“ „Das ist wohl eher eine medizinische Angelegenheit“, antwortete Timmins nach einiger Überlegung. „Es wäre ratsam, wenn Sie Schwester Hredlichli, die die Aufsicht über die AUGL-Station führt, um Erlaubnis bitten und sich bei ihr nach den günstigsten Besuchszeiten erkundigen.“ „Gut, dann werde ich das so machen“, sagte Gurronsevas. „Doch Sie klingen etwas unschlüssig. Kann es sein, daß ich auf Probleme stoßen werde?“ „Oberschwester Hredlichli genießt den zweifelhaften Ruf, nur ein kleines bißchen weniger ungenießbar als O’Mara zu sein“, antwortete der Lieutenant. „Doch bevor ich Ihnen die Haupteinheit des Nahrungssynthesizers unter der Kantine zeige, befestigen Sie jetzt diese Binde für Auszubildende an einem Ihrer Vorderglieder, wo sie leicht zu sehen ist.“ Das war schon das zweite Mal, daß man ihn aufforderte, das erniedrigende Abzeichen eines Auszubildenden zu tragen, empörte sich Gurronsevas im stillen, doch die verärgerte Antwort, die er dem ungeduldigen Chefpsychologen gegeben hatte, wäre bei diesem freundlichen Lieutenant mit den guten Manieren kaum angebracht gewesen. Während er noch nach Gründen suchte, das Tragen der Binde abzulehnen — oder handelte es sich womöglich um Ausreden? — , meldete sich Timmins erneut zu Wort. „Mir selbst ist ja bekannt, daß Sie kein Auszubildender, sondern ein Fachmann mit beachtlicher langjähriger Berufserfahrung sind, und schon bald werden das auch alle anderen im Hospital wissen. Dennoch sind die Mitarbeiter auf den Wartungsebenen ständig in Eile, und es kommt leicht zu Unfällen. Wie einige von uns fahren, haben Sie ja mit eigenen Augen sehen können, und es gibt noch viele andere Situationen, in denen Sie gefährdet wären. Ist es deshalb nicht ganz einfach vernünftig, diejenigen, die über mehr Erfahrung verfugen, wissen zu lassen, daß Sie keine haben, damit sie sich Ihnen gegenüber nachsichtiger verhalten? Schließlich braucht dieses Hospital sehr viel dringender einen neuen Chefdiätisten als einen weiteren Patienten.“ Für einen langen Augenblick stritt Gurronsevas mit sich selbst, wobei er sich vor sich selbst schämte, weil er nicht mit Sicherheit wußte, ob er seinen Verstand einsetzte oder moralischer Feigheit erlag. „Na gut, wenn es für mich dabei wirklich ums Überleben geht, dann her mit dem Ding“, willigte er schließlich widerstrebend ein. 5. Kapitel Gurronsevas war sehr stolz auf sich, und das, so dachte er, mit Recht. Er hatte sich mit jedem Mitglied seines Personals einzeln zusammengesetzt und — nötigenfalls in aller Ausführlichkeit — unterhalten. Sein erster Assistent, ein Nidianer namens Sarnyagh-Sa, mußte zwar mit Samthandschuhen angefaßt werden, weil er fest damit gerechnet hatte, auf den Posten des sich zur Ruhe setzenden Chefdiätisten vorzurücken. Doch der Nidianer war ein fähiger und verantwortungsbewußter, für neue Ideen noch ein wenig unaufgeschlossener Mitarbeiter, der auf lange Sicht zu den besten Hoffnungen berechtigte. Ohne sich einzuschmeicheln oder die eigene Autorität oder Verantwortung indirekt herunterzuspielen, bat Gurronsevas jeden einzelnen um Hilfe. Seine Absicht war es, für Mitarbeiter aller Personalstufen ansprechbar zu bleiben, vorausgesetzt, ein solches Gespräch stellte keine Zeitverschwendung dar. Zudem hoffte er, in der Nahrungsversorgungsabteilung würde eine angenehme und professionelle Arbeitsatmosphäre herrschen, wobei allerdings das Ausmaß des Angenehmen ganz vom Stand der Professionalität abhängen mußte. Auch wenn es nach Ansicht einiger Mitarbeiter eigenartig war, daß der große Gurronsevas bei den Gesprächen mit ihnen einen Wartungsoverall trug, fiel die allgemeine Reaktion in der Regel gut aus. Und nach nur fünf Tagen gemeinsam mit Timmins unternommener Erkundungen der Wartungstunnel für die Lebensmittelversorgung und gerade mal dreieinhalbtägigem Unterricht im Fahren von G-Schlitten teilte ihm der Lieutenant mit, daß er sich nicht länger zu Fuß oder in Begleitung durch die Wartungsebenen bewegen müsse. Am sechsten Tag war der Tralthaner unter ausschließlicher Benutzung der Versorgungstunnel mit einem unbeladenen Schlitten in genau vierundzwanzig Einheitsminuten vom Synthesizerkomplex unter Ebene achtzehn zum Raum für zeitweilige Lagerungen auf Ebene einunddreißig gefahren, ohne um eine Bestimmung seines Standorts bitten zu müssen und irgendwen oder was zu rammen — zumindest nicht so hart, daß ein schriftlicher Bericht erforderlich gewesen wäre. Nach Timmins’ Aussage hatte er seine Sache für einen Anfänger außergewöhnlich gut gemacht, und jetzt bemühte sich Gurronsevas nach Kräften, sich seinen Stolz und seine Freude über das bereits Geleistete nicht von dieser ungehobelten, scharfzüngigen chloratmenden Illensanerin zerstören zu lassen. „Wenn wir mal einen von Ihnen brauchen, scheint Ihre merkwürdige Spezies von Wartungstechnikern ganz plötzlich ausgestorben zu sein, und wenn wir mit Ihnen nichts anfangen können, dann verstopfen Sie uns die ganze Abteilung“, beklagte sich Oberschwester Hredlichli. „Was wollen Sie eigentlich von mir?“ Da das Cromingan-Shesk nicht für Chloratmer eingerichtet gewesen war, war es das erste Mal, daß Gurronsevas eine Vertreterin der physiologischen Klassifikation PVSJ aus der Nähe sah. Der stachelige, membranartige Körper der Illensanerin ähnelte einer wahllosen Aufschichtung öliger, giftiger Pflanzen, die zum Teil von dem gelben Chlor in ihrem Schutzanzug vernebelt wurden, und Gurronsevas ertappte sich bei dem Wunsch, der Nebel wäre noch dichter gewesen. Hredlichli schwebte im mit Wasser gefüllten Personalraum reglos vor einem Patientenmonitor. Zwar war Gurronsevas nicht in der Lage, ihre Augen in der wirren, blattähnlichen Struktur des Gesichts ausfindig zu machen, doch vermutlich blickte die Oberschwester ihn an. „Ich bin Chefdiätist Gurronsevas, Oberschwester, und kein Wartungstechniker“, klärte er Hredlichli auf, wobei er sich sehr bemühte, höflich zu bleiben. „Mit Ihrer Hilfe würde ich gern einen oder mehrere der Patienten zum Stationsessen befragen, weil ich vorhabe, es zu verbessern. Könnten Sie mir den Namen von einem Patienten nennen, mit dem ich mich unterhalten kann, ohne dessen medizinische Behandlung zu stören?“ „Ich kann Ihnen keinen Namen nennen, weil unsere Patienten sie uns nicht verraten“, antwortete Hredlichli. „Auf Chalderescol II ist ein Eigenname nur den engen Familienangehörigen des Betreffenden bekannt und wird ansonsten nur noch dem zukünftigen Lebensgefährten verraten. Die AUGLs auf dieser Station sind nach den Nummern ihrer jeweiligen medizinischen Akte benannt. AUGL-Eins-Dreizehn ist auf dem Weg der Besserung und wird höchstwahrscheinlich nicht von einem Haufen dummer Fragen ernsthaft belastet werden, deshalb dürfen Sie mit ihm sprechen. Schwester Towan!“ Aus dem Kommunikator meldete sich eine Stimme, die durch das dazwischen liegende flüssige Medium leicht verzerrt war: „Ja, Oberschwester?“ „Wenn Sie bei Eins-Zweiundzwanzig mit dem Kleiderwechseln fertig sind, dann bitten Sie Eins-Dreizehn, zum Personalraum zu kommen“, sagte Hredlichli. „Er hat Besuch.“ An Gurronsevas gewandt fuhr sie fort: „Falls Sie es nicht wissen sollten: ein Chalder würde hier nicht hineinpassen, ohne den ganzen Raum zu demolieren. Warten Sie draußen.“ Wahrscheinlich war die Station kleiner, als sie aussah, dachte Gurronsevas, während er auf AUGL-Eins-Dreizehn wartete, doch Größe und Entfernung waren in dieser dämmrigen, grünen Welt schwer abzuschätzen, in der der optische Unterschied zwischen den schattenhaften Bewohnern, den medizinischen Geräten und den zur Dekoration bestimmten Pflanzen, durch die sich diese Wesen wie zu Hause fühlen sollten, nur mit Mühe zu bestimmen war. Wie ihm Timmins erzählt hatte, sei ein Teil der Pflanzen keineswegs künstlich, sondern echt. Dabei handelte es sich um eine lebende Pflanzenart, die eine aromatische Substanz freisetzte, die sich im Wasser ausbreitete und von den Patienten als angenehm empfunden wurde. Die Verantwortung, für die anhaltende Gesundheit der Pflanzen zu sorgen, trage allein die Wartungsabteilung, hatte ihm Timmins weiterhin berichtet, die sich aufopferungsvoll darum kümmere, und sei es auf Kosten der Gesundheit der Patienten; wann der Lieutenant etwas ernst meinte, war manchmal schwierig zu sagen. Darüber hinaus hatte er Gurronsevas mitgeteilt, die Bewohner der Wasserwelt von Chalderescol II seien leicht peinlich berührt und wahrscheinlich die optisch furchteinflößendsten Wesen, denen der Tralthaner im Orbit Hospital jemals begegnen würde. Das glaube ich sofort, dachte Gurronsevas entsetzt, während er die riesige, torpedoförmige Gestalt mit Tentakeln beobachtete, die lautlos auf ihn zuschnellte. Das Wesen sah wie ein gewaltiger, gepanzerter Fisch mit einem kräftigen, messerscharfen Schwanz aus, der eine scheinbar planlose Anordnung von kurzen Flossen und einen breiten Ring von Tentakeln besaß, die aus den wenigen sichtbaren Öffnungen seines organischen Panzers hervorragten. Beim Vorwärtsschwimmen lagen die Tentakel flach an den Körperseiten an, aber sie waren so lang, daß sie über die dicke, stumpfe Keilform des Kopfes hinausreichten. Ein kleines, lidloses Auge beobachtete Gurronsevas, während das Wesen näher herankam und ihn in immer engeren Kreisen zu umschwimmen begann. Plötzlich teilte sich der Kopf und entblößte ein riesiges, rosafarbenes Loch von einem Maul mit den größten, weißesten und schärfsten Zähnen, die Gurronsevas jemals gesehen hatte. „Sind, sind Sie der Besucher?“ fragte der AUGL schüchtern. Gurronsevas zögerte und fragte sich, ob er sich vorstellen sollte oder nicht. Wenn er den eigenen Namen nannte, konnte sich das Mitglied einer Zivilisation, die Namen nur in der Familie oder unter Geliebten aussprach, peinlich berührt fühlen. Hätte er doch bloß daran gedacht, sich vorher bei der Oberschwester danach zu erkundigen. „Ja“, antwortete er schließlich. „Falls Sie gerade nichts Wichtigeres zu tun haben und damit einverstanden sind, würde ich mich mit Ihnen gerne über chalderisches Essen unterhalten.“ „Mit Vergnügen“, willigte AUGL-Eins-Dreizehn sofort ein. „Das ist ein interessantes Thema, das auf unserem Heimatplaneten immer wieder zu heftigen Diskussionen, selten aber zu Gewalttätigkeiten Anlaß gibt.“ „Über chalderisches Essen hier im Hospital“, präzisierte Gurronsevas. „Ojemine.!“ Um den schweren Vorwurf zu erahnen, der in diesem einzigen Wort mitschwang, brauchte Gurronsevas kein cinrusskischer Empath zu sein. „Ich habe vor — genaugenommen betrachte ich es sogar als eine persönliche und berufliche Herausforderung—, die Qualität, den Geschmack und die Zubereitungsarten der synthetischen Nahrung zu verbessern, mit der die vielen verschiedenen Lebensformen im Hospital versorgt werden“, fuhr er schnell fort. „Bevor jedoch irgendeine Verbesserung möglich ist, muß ich wissen, in welcher Beziehung oder in welchen Beziehungen die gegenwärtigen Speisen, die mir wenig mehr als fast geschmacklose Brennstoffe für den Organismus zu sein scheinen, hinter dem Ideal zurückbleiben. Ich habe gerade mit der Arbeit begonnen, und Sie sind der erste Patient, der befragt werden soll.“ Das höhlenartige Maul klappte langsam zu und öffnete sich dann wieder. „Das ist ja ein ehrenhaftes Ziel, das Sie sich da gesteckt haben, doch zweifellos unerreichbar, oder?“ meinte der Patient. „Ich muß an Ihre Formulierung geschmackloser Brennstoff für den Organismus“ denken. Für einen Gastgeber auf Chalderescol wäre das die größte Beleidigung seiner Kochkunst, denn wir nehmen unsere Ernährung sehr ernst und essen häufig übermäßig viel. Was wollen Sie von mir wissen?“ „Praktisch alles“, antwortete Gurronsevas dankbar. „Über chalderisches Essen weiß ich nicht das Geringste. Welche genießbaren Tier- und Pflanzenarten gibt es auf Chalderescol? Wie werden sie zubereitet, angerichtet und serviert? Auf den meisten Planeten regen die verschiedenen Zubereitungsarten einer Mahlzeit die Geschmacksrezeptoren an und tragen viel zu ihrem Genuß bei. Ist das auf Chalderescol auch so? Welche Gewürze, Soßen oder sonstige verfeinernde Zutaten werden verwendet? Außerdem ist mir die Vorstellung einer Küche, die nur aus kalten Gerichten besteht, völlig neu.“ „Da wir Wasseratmer sind, die im Meer leben, haben wir das Feuer erst sehr spät entdeckt“, unterbrach ihn Eins-Dreizehn freundlich. „Natürlich! Bin ich dumm, daß ich daran.“, begann Gurronsevas, als das Gespräch von Hredlichlis Stimme unterbrochen wurde. „Mich darüber zu äußern, ob Sie dumm sind oder nicht, steht mir nicht zu, zumindest nicht vor anderen Leuten“, rief ihm eine Stimme vom Eingang des Personalraums zu. „Aber es ist jetzt Zeit fürs Mittagessen, und die Patienten haben Hunger. Außerdem sind alle bis auf denjenigen, mit dem Sie sich gerade unterhalten, auf besondere Diät gesetzt und brauchen beim Essen die Hilfe der Schwestern. Also machen Sie sich nützlich, holen Sie die Ration von Eins-Dreizehn, und lassen Sie den armen Kerl essen, während Sie mit ihm sprechen.“ Mit dem Gedanken, wie komisch es war, daß ihm die unliebenswürdige Oberschwester genau das auftrug, was er sich sowieso zu tun gewünscht hatte, folgte Gurronsevas Hredlichli in den Personalraum. Doch bevor er den Gedanken bis zu dem unglaublichen Schluß verfolgen konnte, daß Hredlichli möglicherweise gar nicht so unliebenswürdig war, wie sie schien, begann die Rinne der Essensausgabe große, grau und braun gesprenkelte Bälle in ein wartendes Tragenetz auszuspucken. Als das Netz voll war, zog Gurronsevas es aus dem Personalraum hinaus und steuerte damit auf Eins-Dreizehn zu. „Halten Sie einen Sicherheitsabstand, und werfen Sie Eins-Dreizehn jeweils immer nur einen Ball zu!“ rief ihm Hredlichli hinterher. „Schließlich wollen Sie ja nicht Teil der Mahlzeit werden, oder?“ Zwei kelgianische Schwestern, deren Fell sich unter den transparenten Schutzanzügen in schwach beleuchteten silbernen Wellen kräuselte, und eine wasseratmende creppelianische Oktopodin, die keinen Schutz benötigte, kamen auf ihrem Weg in den Personalraum an Gurronsevas vorbei. „Was sind das für Dinger? Eier?“ fragte Gurronsevas, während er die Bälle einen nach dem anderen auf das geöffnete, wartende Maul des Patienten zuwarf. Eins-Dreizehns Kiefer schlössen sich viel zu schnell, als daß Gurronsevas hätte sehen können, ob es sich um eine weiche Substanz mit einer festen, ungleichmäßigen Schale handelte, oder ob sie ganz und gar hart war. Doch seine Neugier wurde erst gestillt, nachdem der letzte der Bälle zwischen den gewaltigen Kiefern verschwunden war und der Patient sein Maul wieder zum Sprechen frei hatte. „Bekommen Sie genug zu essen?“ fragte Gurronsevas. „Im Verhältnis zu Ihrer Körpergröße scheinen mir die Portionen, na ja, recht dürftig zu sein.“ „Daß ich mit meiner Antwort so lange gewartet habe, sollten Sie nicht als Unhöflichkeit auffassen“, erwiderte Eins-Dreizehn. „Auf Chalderescol stellt die Nahrungsaufnahme eine wichtige und angenehme Tätigkeit dar, und sich beim Essen zu unterhalten wird als indirekte Kritik am Gastgeber angesehen, weil man das Mahl offenbar als fade und langweilig empfindet. Selbst hier, wo man die Verpflegung ernsthaft kritisieren kann, behalten wir unsere guten Manieren.“ „Ich verstehe“, sagte Gurronsevas. „Um Ihre Frage zu beantworten“, fuhr Eins-Dreizehn fort, „die Bälle, aus denen meine Mahlzeit bestanden hat, ähneln zwar Eiern, sind aber keine, auch wenn sie eine harte, genießbare Schale haben, die einen Kern aus einem — natürlich synthetischen — Nahrungskonzentrat umschließt, das sich bei Berührung mit den Verdauungssäften zu einem Vielfachen des ursprünglichen Volumens ausdehnt und auf diese Weise ein körperliches Sättigungsgefühl hervorruft. Auch wenn wir Chalder allesamt einen verwöhnten Gaumen haben und sehr gut wissen, daß Hunger der beste Koch ist, haben diese Bälle einen künstlichen und alles andere als feinen Geschmack, der obendrein. Um sie vollständiger zu beschreiben, müßte meine Ausdrucksweise zwangsläufig ungehobelt werden.“ „Nun, das kann ich gut nachvollziehen“, pflichtete ihm Gurronsevas bei. „Aber können Sie mir neben den Geschmacksunterschieden auch die Unterschiede im Aussehen und in der Konsistenz zwischen den verschiedenen natürlichen und synthetischen Nahrungsmitteln beschreiben? Übrigens verletzen Sie mein Zartgefühl keineswegs, wenn Sie übelschmeckende oder schlecht zubereitete Speisen mit ungehobelten Ausdrücken belegen, weil ich das bei meinem Küchenpersonal eine ganze Reihe von Jahren selbst gemacht habe.“ Patient Eins-Dreizehn begann, indem er betonte, er wolle dem Hospital gegenüber nicht undankbar klingen, da ihm die Behandlung, die ihm hier gewährt worden sei, immerhin das Leben gerettet habe. In den engen und für einen AUGL geradezu Platzangst hervorrufenden Grenzen der überfüllten Station seien medizinische und chirurgische Wunder vollbracht worden, und sich dann darüber zu beklagen, daß das Essen unappetitlich sei, erscheine ihm unter diesen Umständen kleinlich. Seinen Erzählungen zufolge war auf seinem Heimatplaneten selbstverständlich genügend Platz vorhanden, um zu essen, sich zu bewegen und die Geschmacksrezeptoren durch die Erwartung und Ungewißheit zu schärfen, die aufgrund der Notwendigkeit entstand, bestimmte Beutetierarten zu jagen, die nicht einfach zu fangen waren. In der Wasserwelt von Chalderescol II, so berichtete Eins-Dreizehn weiter, verspürten die Chalder trotz der zivilisierenden Einflüsse mehrerer Jahrhunderte immer noch das sowohl physiologische als auch ästhetische Bedürfnis, sich ihr Fleisch nicht in totem Zustand und — was ihre Instinkte anging — im Frühstadium der Verwesung auf einem Teller servieren zu lassen, sondern es selbst zu jagen. Um körperlich gesund zu bleiben, mußten sie die Kiefer, die Zähne und ihre schweren gepanzerten Körper beschäftigen, und die Zeit, in der sie sich am stärksten anstrengten und am meisten Spaß hatten, stellte sich — abgesehen von der kurzen jährlichen Periode, in der sie sich fortpflanzen konnten — dann für sie ein, wenn sie aßen. Die im Hospital als Mahlzeit servierten Bälle wiesen laut Eins-Dreizehn zwar eine Schale auf, die hart genug war, und sie stellten zweifellos auch ein nahrhaftes Gericht dar, aber ihr Kern bestand aus einem weichen, geschmacklosen, ekelhaften Brei, der dem zum Teil vorverdauten Fleisch von frisch erlegten Beutetieren ähnelte, mit dem die AUGLs ihre zahnlosen Kleinkinder fütterten. Sofern ihn nicht eine schwere Krankheit oder Verletzung zur Bewegungslosigkeit verdammte, war ein erwachsener Chalder gezwungen, sich auf andere, angenehmere Dinge zu konzentrieren, wenn er beim Verzehr dieses scheußlichen Zeugs keinen Brechreiz verspüren wollte. Aufmerksam lauschte Gurronsevas jedem einzelnen Wort von AUGL-Eins-Dreizehn. Hin und wieder bat er zwar um genauere Erklärungen oder machte Vorschläge, dachte aber immer daran, die schöpferische Übertreibungskraft eines Patienten, der sich offensichtlich freute, einen neuen Gesprächspartner gefunden zu haben, bei dem er sich beklagen konnte, in angemessener Weise zu berücksichtigen. Die ständige Diskussion über Essen in seinen vielen, für einen Chalder unschmackhaften Formen erinnerte Gurronsevas dennoch daran, daß es bereits vier Stunden her war, seit er selbst etwas zu sich genommen hatte. „Falls ich Sie mal unterbrechen dürfte, um das Problem zusammenzufassen“, sagte Gurronsevas, als Eins-Dreizehn sich mit nur geringen Abweichungen zu wiederholen begann. „Als erstes wäre da die Form und Konsistenz der Nahrung, die insofern angemessen ist, als sie Kiefer und Zähne beschäftigt, Zweitens ist der Geschmack unbefriedigend, weil er künstlich durch chemische Zusätze erzeugt wird und der anspruchsvolle Gaumen der Chalder jeden derartigen Ersatz augenblicklich bemerkt. Und drittens fehlen die sich im Wasser ausbreitenden Gerüche, die von den echten Beutetieren ausgehen, wenn sie gejagt werden. Bei meiner kürzlichen Untersuchung ähnlich gelagerter Probleme anderer Lebensformen im Hospital habe ich herausgefunden, daß die Stationsverpflegung nicht in der Verantwortung der Lebensmitteltechniker liegt, sondern sich in der Hand des klinischen Diätisten befindet, der wiederum auf Anweisung des verantwortlichen Arztes handelt“, fuhr Gurronsevas fort. „Das Hauptinteresse des betreffenden Arztes besteht ganz zu Recht darin, Mahlzeiten zu verordnen, die die medizinischen Bedürfnisse des Patienten unterstützen. Da diese Verordnung zugleich eine Ausweitung der medizinischen Behandlung des Patienten darstellt, spielen Geschmack und Geruch nur eine untergeordnete Rolle, falls sie überhaupt berücksichtigt werden. Doch meiner Ansicht nach sollten sie sehr wohl in Betracht gezogen werden, und zwar ernsthaft, sei es auch nur für die heilsamen psychologischen Auswirkungen auf Patienten wie Sie, die sich auf dem Weg der Besserung befinden und ermuntert werden sollten, zu essen und sich körperlich zu betätigen. Bedauerlicherweise kann ich vorläufig nur wenig für den Geschmack und die Beschaffenheit Ihrer Verpflegung tun, da ich erst einmal den für Sie verantwortlichen Arzt und den entsprechenden Nahrungssynthetiker zu Rate ziehen muß“, setzte Gurronsevas seine Ausführungen fort, wobei die Begeisterung für das Thema den nagenden Hunger betäubte. „Doch in der Regel kann man die meisten Gerichte schon dadurch appetitlicher erscheinen lassen, indem man sich verschiedene Anrichtungsarten einfallen läßt. Zum Beispiel durch eine interessante Farbkombination oder durch eine phantasievolle Formgebung und Anordnung der Bestandteile auf einem Teller, damit das Essen sowohl eine optische Anziehungskraft ausübt als auch.“ Als Gurronsevas einfiel, daß Patient AUGL-Eins-Dreizehn nicht von einem Teller aß und der optische Reiz seiner Nahrung für ihn in erster Linie in ihrer Fähigkeit bestand, überall im Essensbereich hin und her zu flitzen, brach er mitten im Satz ab. Doch seine Verlegenheit währte nur kurz, denn Hredlichli war aus dem Personalraum aufgetaucht und kam im Eiltempo auf sie zugeschwommen. „Ich muß Sie in Ihrem übermäßig langen und für mich alles andere als interessanten Gespräch unterbrechen“, sagte die Oberschwester, während sie sich zwischen den Patienten und Gurronsevas treiben ließ. „Chefarzt Edanelt müßte jeden Moment seine Abendvisite machen. Kehren Sie bitte zu Ihrem Schlafgestell zurück, Eins-Dreizehn. Und Diätist Gurronsevas, falls Sie das Gespräch fortsetzen möchten, werden Sie warten müssen, bis Doktor Edanelt seine Runde durch die Station beendet hat. Soll ich mich dann mit Ihnen in Verbindung setzen?“ „Nein danke“, antwortete Gurronsevas. „Patient Eins-Dreizehn hat mir einige äußerst nützliche Auskünfte gegeben. Ich bin Ihnen beiden sehr dankbar und werde hoffentlich nicht eher zurückkehren müssen, bevor es mir gelungen ist, bei der Stationsverpflegung der AUGLs eine Verbesserung erzielt zu haben.“ „Na, dann viel Glück. Das glaube ich erst, wenn ich es sehe“, höhnte Oberschwester Hredlichli. 6. Kapitel Als Gurronsevas darum gebeten hatte, ein großes, ringsum abgeschlossenes Becken mit Wasser benutzen zu dürfen, das nicht so groß war, daß für seine sauerstoffatmenden Helfer die Gefahr zu ertrinken bestand, aber trotzdem genügend Platz bot, um die geplanten Tests durchzuführen, ohne daß die Versuchsobjekte allzu oft gegen die Begrenzungswände stießen, hatte er nicht mit etwas derart Riesigem wie dem gerechnet, vor dem er jetzt stand. Einen Augenblick lang war er vor Überraschung sprachlos. Die helle, aber gut versteckte künstliche Beleuchtung und die wirklich geniale Landschaftsgestaltung des Freizeitbereichs vermittelten einem die Illusion enormer Weite. Das Endprodukt war ein kleiner, tropischer Meeresstrand, der auf zwei Seiten von niedrigen Felsen eingerahmt war, in denen sich mehrere große und kleine Höhlenöffnungen befanden. Hinter diesen Öffnungen lagen die verborgenen Zugangstunnel zu mehreren Sprungbrettern, die in verschiedenen Höhen aus der weichen, künstlichen Felswand hervorragten und ständig genutzt wurden. Der Strand war zur See hin offen, die sich scheinbar bis zum fernen Horizont erstreckte, der unmerklich in ein Hitzeflimmern überging. Der Himmel über Gurronsevas’ Kopf war blau und wolkenlos, weil realistische Wolkeneffekte nur schwer nachzuahmen waren, wie ihm Timmins verraten hatte. Das Wasser in der Bucht schimmerte tiefblau und wies dort, wo es auf den abfallenden Strand traf, einen leicht türkisfarbenen Stich auf Für die Dauer des Versuchs waren die Wellenmaschinen abgeschaltet worden, so daß das Wasser sanft plätschernd am weichen, goldenen Sand leckte, der angenehm warm unter den Füßen war. Lediglich die künstliche Sonne, deren Schein eine orangefarbene Tönung hatte, die Gurronsevas merkwürdig fand, und die fremdartigen Grünpflanzen, die die Felsspitzen umsäumten, raubten ihm die Illusion, sich in irgendeiner tropischen Bucht auf seinem Heimatplaneten zu befinden. „Beim ersten Anblick unseres Freizeitbereichs für warmblütige Sauerstoffatmer sind Neulinge stets beeindruckt“, verkündete Lieutenant Timmins nicht ohne Stolz. „Es hat immer wenigstens ein Drittel der medizinischen Mitarbeiter frei, und die meisten von ihnen verbringen hier gerne ein paar Stunden. Manchmal ist der Freizeitbereich derart überfüllt, daß man vor lauter Körpern kaum noch den Strand oder das Meer sehen kann. Aber Platz steht im Orbit Hospital hoch im Kurs, und von den Wesen, die zusammen arbeiten, erwartet man auch, daß sie gemeinsam ihre Freizeit verbringen. In psychologischer Hinsicht ist der wirkungsvollste Teil an den hiesigen Umweltbedingungen derjenige, den Sie nicht einmal sehen können“, führ Timmins fort, wobei er noch immer über das, was offenbar das Lieblingskind der Wartungsabteilung war, wie ein stolzer Vater berichtete. „Im gesamten Bereich wird ständig knapp die Hälfte der Standardschwerkraft beibehalten, und ein halbes Ge bedeutet, daß sich die Müden besser entspannen und die Munteren noch lebendiger fühlen können. Leider mangelt es hier an Einsamkeit, aber es sind jetzt so viele verschiedene Lebensformen da, die ihre Freizeit auf derart viele seltsame Arten genießen, daß wir unsere Versuche wahrscheinlich unbemerkt durchführen können. Fangen wir jetzt gleich an, oder warten wir noch auf Thornnastor?“ „Jetzt gleich, bitte“, antwortete Gurronsevas und half Timmins und den beiden melfanischen Assistenten, die Ausrüstung auf das große, in leuchtenden Farben gestrichene Floß zu schaffen, das im seichten Wasser lag. Nur einmal machte Gurronsevas eine Pause, als sich kurz sein Kommunikator zu Wort meldete und man ihm mitteilte, daß Diagnostiker Thornnastor in einer unausweichlichen Angelegenheit aufgehalten worden sei und nicht in der Lage sein werde, wie geplant zu ihnen zu stoßen, man an seiner Stelle jedoch die Pathologin Murchison schicken werde. Nach der plötzlichen Veränderung von Timmins’ Gesichtsausdruck zu urteilen, freute den Lieutenant diese Nachricht außerordentlich. Doch waren sie alle viel zu beschäftigt, die Einstellung des Antriebssystems eines der Versuchsobjekte zu verändern — dem einzigen, das noch nicht explodiert und in tausend durchweichte Einzelteile zersprungen war oder einen sonstigen Defekt aufgewiesen hatte—, als daß sie die Ankunft der Pathologin bemerkt hätten, die bereits zu dem Floß hinausgeschwommen war, sich heraufgezogen hatte und sie nun ansprach. „Thornnastor hat leider keine Zeit mehr gehabt, mich genauer zu instruieren“, sagte Murchison. „Was ist das für ein Ding da? Und was soll ich hier eigentlich? Ich habe nämlich Besseres zu tun, als erwachsenen und geistig vermutlich reifen Lebewesen zuzusehen, die wie Kinder im Wasser planschen.“ Wie Gurronsevas sah, handelte es sich bei Murchison um eine große terrestrische DBDG mit den schwammigen und kopflastigen Formen, die vielen weiblichen Mitgliedern dieser Spezies gemein waren. Die durch das Wasser dunkler gewordene lange, blonde Kopfbehaarung klebte ihr am Nacken und an den Schultern, und sie trug, da die terrestrische Zivilisation zu den wenigen zählte, für deren Angehörige immer noch ein Nacktheitstabu galt, zwei lachhaft schmale Stoffstreifen um Brust und Becken. Obwohl in ihrer Äußerung Kritik mitschwang, schien ihr Auftreten eher freundlich zu sein. Bevor er ihr antwortete, hielt sich Gurronsevas vor Augen, daß es sich bei Murchison immerhin um Thornnastors erste Assistentin und um die Lebensgefährtin eines anderen Diagnostikers namens Conway handelte, und er sich mit seinen Äußerungen lieber zurückhalten sollte. „Das sieht vielleicht so aus, Madam“, antwortete Timmins, bevor Gurronsevas etwas sagen konnte, „und ich muß zugeben, das hier ist nicht gerade das unangenehmste Projekt, mit dem ich bisher betraut worden bin. Doch für das, was wir hier machen, gibt es ernsthafte technische und medizinische Gründe.“ „Fürs Herumalbern mit einem Spielzeugboot?“ hakte Murchison ungläubig nach. „Genaugenommen ist das kein Boot, Madam“, entgegnete der Lieutenant lächelnd. Er hob das Versuchsobjekt aus dem Wasser, damit die Pathologin es deutlicher sehen konnte. „Vielmehr handelt es sich um den Prototypen eines Unterwasserfahrzeugs mit einer abgeflachten ovalen Form, das dafür konstruiert worden ist, in einem stabilen Gleichgewichtszustand zu bleiben, egal in welche Tiefe man es setzt. Danach soll es seine Position und Tiefe zufällig und mit großer Schnelligkeit ändern. Das Antriebssystem besteht aus einem dünnwandigen Kunststoffzylinder, in dem sich komprimiertes Gas befindet und der genau in diese zylindrische Öffnung am Heck paßt“, fuhr Timmins fort. „Kleinere Vertiefungen rund um das Fahrzeug herum sowie in der Ober- und Unterseite beherbergen winzige Kapseln mit komprimiertem Gas, die zum Verändern der Schwimmlage im Wasser eingesetzt werden. Die Hüllen dieser Steuerkapseln sind wasserlöslich und weisen verschiedene Dicken auf, so daß sie unterschiedlich lange brauchen — von fünf bis fünfundsiebzig Sekunden sind alle Zeiten vertreten—, um sich aufzulösen und das Gas freizusetzen. Das bedeutet, die Richtungsänderungen werden zufällig eintreten, und folglich wird das Fahrzeug nur sehr schwer zu fangen sein, zumindest bis ihm das Gas ausgeht, durch das es angetrieben wird. Bei diesem Testfahrzeug wird das in zwei Minuten der Fall sein. Wir wollen gerade eine weitere Testfahrt durchführen, Madam. Das sollte auch für Sie interessant sein.“ „Ich kann es gar nicht erwarten“, merkte Murchison schnippisch an. Timmins und die beiden Melfaner setzten das Testfahrzeug auf das Floß und kletterten selbst hinauf. Durch ihr gemeinsames Gewicht neigte sich das Floß erschreckend. Damit die drei Platz zum Arbeiten hatten, trat Murchison rasch zurück, wobei sie die Arme ausstreckte, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren, und Gurronsevas blieb im Wasser. Er war groß genug, um mit den Füßen auf dem Grund zu stehen und gleichzeitig mit dem Kopf über Wasser zu bleiben. Zwei seiner Augen brachte er unter die Wasseroberfläche, um nach Tauchern Ausschau zu halten, die unberechtigterweise in das Testgebiet eindringen könnten, und mit den anderen beiden sah er Timmins und den beiden Melfanern zu, bis das Fahrzeug wieder mit gefüllten Gaskapseln versehen und einsatzbereit war. „Diesmal werden wir es in eine Tiefe von einem halben Meter bringen, weil ich das Verhalten von dem Moment, in dem sich der Verschluß der Hauptantriebseinheit auflöst, bis zum Platzen der ersten Steuerkapsel genauestens beobachten will“, sagte Gurronsevas. „Halten Sie es so waagerecht wie möglich, lassen Sie es beide gleichzeitig los und ziehen Sie die Hände langsam weg, damit Sie keine Wirbel verursachen, die eine Veränderung der Schwimmlage hervorrufen könnten, bevor das Versuchsfahrzeug durch das Gas aus den Kapseln angetrieben wird. Haben das alle verstanden?“ „Das haben wir schon verstanden, als Sie es uns zum ersten Mal erklärt haben“, bestätigte einer der Melfaner so leise, daß klar war, die Bemerkung sollte nicht überhört werden. Gurronsevas beschloß, sich aus diplomatischen Gründen taub zu stellen. Seit ihrem Eintreffen hatte Murchison noch nicht direkt mit Gurronsevas gesprochen, und da Timmins eifrig bedacht war, alle notwendigen Informationen weiterzugeben, bestand für Gurronsevas außer bloßer Höflichkeit kein Grund, die Pathologin anzusprechen. Langsam kamen ihm ernste Zweifel an der Durchführbarkeit des ganzen Vorhabens, und je weniger er im Moment sagte, desto weniger Verlegenheit würde später durch die Entschuldigung bei seinen Helfern entstehen, mit den Versuchen bloß ihre Zeit vergeudet zu haben. Jedenfalls lag die Pathologin ausgestreckt auf dem Floß und hatte Gesicht und Augen den Startvorbereitungen zugewandt. Wie Gurronsevas mit wachsender Ungeduld bemerkte, widmete Timmins den Großteil seiner Aufmerksamkeit der Pathologin. Der Tralthaner hielt sich vor Augen, daß die terrestrischen DBDGs einer Spezies angehörten, deren Mitglieder im Gegensatz zur großen Mehrheit anderer Lebensformen in der Föderation, die jedes Jahr nur für kurze Zeiträume äußerst aktiv waren, ihr ganzes Leben als Erwachsene lang zu sexueller Erregung und Betätigung imstande waren. Es gab zwar einige, die die Terrestrier um diese Fähigkeit beneideten, aber Gurronsevas persönlich hielt sie für einen Nachteil, der die Denkvorgänge der DBDGs nur allzu oft qualitativ minderte. Doch auch dies war wieder ein Moment, an dem diplomatisches Schweigen angebracht zu sein schien. Der nächste Versuch ließ sich gut an: Ein dünner, sprudelnder Strahl aus komprimiertem Gas trieb das Fahrzeug in nicht ganz gerader Linie mit langsam zunehmender Geschwindigkeit in konstanter Tiefe voran. Da es sich bei der Beute der Chalder um Amphibien handelte, war es normal, daß sie beim Fliehen Luft absonderten. Als die erste seitliche Steuerkapsel mit einem schwächeren und kürzeren Ausstoß von Blasen Gas freisetzte, ging das Fahrzeug in eine weite Kurve, die es wieder in Richtung Floß brachte. Dann löste sich auf derselben Seite eine weitere Gaskapsel auf und platzte, wodurch sich der Kreis, den das Fahrzeug beschrieb, spiralenförmig verengte, bis es plötzlich die Wasseroberfläche durchstieß und anfing, in Drehbewegungen unkontrolliert über das Wasser zu gleiten, da die Antriebseinheit die von den beiden Seitendüsen verursachte Rotation verstärkte. Die übrigen Kapseln platzten zufällig und verpufften ohne Wirkung, und kurz darauf kam das Fahrzeug zum Stehen, wobei es sich noch immer langsam drehte und mit der Oberseite aus dem Wasser ragte. Einer der Melfaner fischte es heraus, und es kam zu einer technischen Debatte über die Instabilität, die der abgeflachten ovalen Form anhaftete. Gurronsevas war zu verärgert und enttäuscht, um sich zu beteiligen, doch anscheinend galt das nicht für Murchison. „Zwar ist das nicht gerade mein Spezialgebiet, aber die Spielzeugboote meines Bruders, mit denen ich als Kind immer gespielt habe, waren mit Kielen ausgerüstet, durch die sie selbst bei wechselndem Wind eine hohe Richtungsstabilität bekommen haben“, meinte die Pathologin. „Als ich und mein Bruder älter geworden waren und zu Schnell- und U-Booten übergegangen sind, haben wir ferngelenkte Steuer- und Tiefenruder gehabt, um die Fahrtrichtung beziehungsweise Tiefe beizubehalten oder zu ändern. Könnte man hier nicht etwas Ähnliches verwenden?“ Timmins und die Melfaner verstummten, entgegneten aber nichts. Sie alle blickten Gurronsevas an. Ganz offensichtlich konnte er nicht länger schweigen. „Nein“, antwortete er. „Das geht erst, wenn der Funkempfänger und die Steuerelemente aus nichtmetallischen, ungiftigen und genießbaren Materialien hergestellt werden können.“ „Genießbar?“ erkundigte sich Murchison. „Ach, deshalb bin ich hierhergeschickt worden“, fuhr sie mit leiserer Stimme fort. „Daß Thorny Sinn für Humor hat, habe ich bisher gar nicht gewußt. Fahren Sie bitte fort.“ „In der endgültigen Form müßte das gesamte Fahrzeug genießbar oder zumindest für die chalderische Lebensform ungiftig sein, und dazu würden auch die wasserlöslichen Gaskapseln für den Antrieb und die Steuerung gehören“, erklärte Gurronsevas und erfüllte damit Murchisons Wunsch. „Wenn wir einen Kiel hinzufügen würden, der ebenfalls genießbar sein müßte und kaum scharfe Kanten aufweisen dürfte, um bei den Patienten keine Verletzungen am Maul zu riskieren, stünden wir vor der Schwierigkeit, daß sich durch die Konstruktion das optische Erscheinungsbild des Fahrzeugs ändern und es nicht mehr der natürlichen und stark bevorzugten Beute der Chalder ähneln würde, bei der es sich um stromlinienförmige Wassertiere mit hartem Panzer von der Größe und Form unseres Versuchsobjekts handelt. Ein erkrankter chalderischer Patient, der auf dem Weg der Besserung ist, hält es wahrscheinlich nicht für notwendig, unbekannte Beutetiere zu jagen. Wie Sie sicherlich verstehen werden, haben die beengten räumlichen Verhältnisse auf der AUGL-Station sowohl physische als auch physiologische Auswirkungen, durch die die Genesungszeit unnötig verlängert wird“, setzte Gurronsevas seine Ausführungen fort. „Aufgrund des Unvermögens, sich ausreichend zu bewegen, werden die Patienten faul, lustlos und fast lethargisch. Vielleicht sollte ich Ihnen erklären, daß die Physiologie der AUGLs so beschaffen.“ „Sparen Sie sich die Mühe, denn neben anderen Physiologien bin ich auch mit der der Chalder bestens vertraut“, unterbrach ihn Murchison ungeduldig. Einen Augenblick lang strahlte Gurronsevas eine solche Verlegenheit aus, daß er sich nicht gewundert hätte, wenn das Wasser um ihn herum ins Dampfen geraten wäre. „Sie müssen schon entschuldigen, Pathologin Murchison“, sagte er, „aber diese Kenntnisse über Chalder sind für mich völlig neu und äußerst spannend, und in meiner Aufregung habe ich dummerweise bei anderen ein ähnliches Maß an Unwissenheit vorausgesetzt wie bei mir. Ich wollte Sie wirklich nicht beleidigen.“ „Das haben Sie auch nicht“, besänftigte ihn die Pathologin. „Ich habe nur versucht, Sie davon abzubringen, Zeit mit einer unnötigen Erklärung zu vergeuden. Doch die nichtintelligenten Lebensformen auf Chalderescol, zu denen auch das Beutetier gehört, das Sie zu kopieren versuchen, spielen für meinen Beruf keine Rolle, und deshalb weiß ich darüber so gut wie gar nichts. Wie bewegt sich denn das echte Tier fort? Wie ergreift es die Flucht? Und wie gelingt es ihm, die Richtungsstabilität beizubehalten?“ Stark erleichtert antwortete Gurronsevas schnell: „Das Tier verfügt in der Mitte jeder Körperseite über acht Flossen, deren Schlagfrequenz und Verdrängungswinkel es verändern kann, um aufzusteigen, weiter unterzutauchen oder schlagartig die Richtung zu ändern, indem es mit den Flossen auf der einen Seite andersherum rudert. Die Flossen selbst bestehen aus einem lichtdurchlässigen Gerüst, das eine durchsichtige Membran stützt, die das Tier auf der Flucht dermaßen schnell bewegt, daß sie praktisch unsichtbar ist. Wechselt das Tier die Richtung, entsteht ein leichter Strudel, der so ähnlich wie die Blasen aussieht, die die Lagesteuerungsdüsen des Versuchsobjekts erzeugen. Bedauerlicherweise sieht das Modell nur wie das echte Tier aus, verhält sich jedoch nicht so“, fügte Gurronsevas hinzu. „Seine Schwimmeigenschaften sind hoffnungslos instabil.“ „Das kann man wohl sagen“, pflichtete ihm Murchison bei. Mehrere Minuten blieb sie in Schweigen versunken und betrachtete nachdenklich das Versuchsobjekt im Wasser, während Timmins genauso aufmerksam die Pathologin anstarrte und sich die beiden Melfaner leise miteinander unterhielten. Auf einmal meldete sich die Pathologin zu Wort. „Wir brauchen irgendeinen Kiel, aber einen, der das Aussehen des Fahrzeugs nicht verändert“, entschied sie mit leiser, aber aufgeregter Stimme. „Das echte Tier benutzt Flossen, die lichtdurchlässig sind und die sich zu schnell bewegen, um wahrgenommen werden zu können. Warum verwenden wir also nicht einfach einen unsichtbaren Kiel?“ Ohne jemandem Gelegenheit zu einer Antwort zu geben, fuhr sie fort: „Eigentlich müßten wir ihn aus einem gehärteten und formbaren durchsichtigen Gel anfertigen können, das über den gleichen Brechungsindex wie Wasser verfügt. Das Gel müßte natürlich genießbar und von der Struktur her weich genug sein, um nicht die Zähne oder den Verdauungstrakt des Patienten zu beschädigen. Einige der Bestandteile habe ich bereits im Kopf, und, na ja, der Geschmack würde von neutral bis absolut scheußlich reichen, aber daran könnten wir arbeiten, bis wir.“ „Sie können diese genießbare Stabilisierungsflosse herstellen?“ fiel ihr Gurronsevas ins Wort, der durch seine Ungläubigkeit ganz die guten Manieren vergaß. „Hat Ihre Abteilung so etwas schon mal gemacht?“ „Nein“, antwortete Murchison. „Um so was sind wir noch nie gebeten worden. Eine genießbare und für Chalder ungiftige Substanz von der benötigten Konsistenz zu entwickeln, wird zwar eine schwierige, aber keineswegs unlösbare biochemische Aufgabe darstellen. Die Substanz zu einem Kiel zu formen und am Fahrzeug anzubringen wird anschließend von Ihrem Nahrungssynthesizerprogramm übernommen werden.“ „In der Zwischenzeit können wir schon mal ungenießbare Kiele, die deutlich zu sehen sind, am Testfahrzeug befestigen, um herauszufinden, welche Form und Größe am besten funktionieren“, mischte sich Timmins ein. „Kledath, Dremon, hebt das Fahrzeug auf das Floß. Wir haben zu arbeiten.“ Murchison rollte sich vom Floß, um für die anderen Platz zum Arbeiten zu machen. Nun trieb sie vollkommen entspannt mit geschlossenen Augen, nur das Gesicht über der Oberfläche, auf dem Rücken neben Gurronsevas im Wasser. „Ich glaube, Sie haben dieses Problem gelöst, Pathologin Murchison, und dafür bin ich Ihnen äußerst dankbar“, sagte er. „Wir versuchen, jeden Wunsch zu erfüllen“, entgegnete die Pathologin. Ihre Lippen öffneten sich zu einem leichten Lächeln, und die Augen blieben geschlossen. „Haben Sie noch weitere Probleme, bei denen ich Ihnen helfen kann?“ „Eigentlich nicht“, antwortete Gurronsevas. „Allerdings gehen mir bislang nicht ganz ausformulierte Gedanken, Fragen und Ideen durch den Kopf, die sich wahrscheinlich zu Problemen entwickeln werden. Von einigen Aspekten meiner zukünftigen Arbeit im Hospital habe ich im Moment so gut wie keine Ahnung und wäre, na ja, für jeden Vorschlag dankbar.“ Kurz schlug die Pathologin ein Auge auf, um ihn anzublicken. Dann sagte sie: „Im Moment kann ich mir nichts Besseres vorstellen, als zuzuhören und Vorschläge zu machen.“ Die drei Techniker auf dem Floß konzentrierten sich mit ganzer Aufmerksamkeit auf das Testfahrzeug, und zwar in solchem Maße, daß Timmins sogar aufgehört hatte, kurze Seitenblicke auf Murchison zu werfen. Sie hatten einen langen, schmalen Kiel anmontiert, und der Lieutenant schlug gerade vor, auf der gegenüberliegenden Seite eine ähnliche Flosse anzubringen, um den Wasserwiderstand an Ober- und Unterseite anzugleichen. Wegen der erwarteten Stabilitätszunahme in Längsrichtung, die die frühere Tendenz, seitlich abzudriften und sich bei jedem Richtungswechsel zu drehen, stark verringern würde, wurden die Seitendüsen verstärkt, damit das Fahrzeug später schärfer wenden konnte. Wären die drei mit der Konstruktion eines Raumschiffs beschäftigt gewesen, hätte das Gespräch auch nicht technischer sein können, dachte Gurronsevas, während er alle vier Augen auf Murchison richtete. „Dank Ihres Vorschlags müßte unser Versuchsobjekt nicht nur wie das Beutetier, das es darstellen soll, aussehen, sondern sich auch so verhalten“, sagte er. „Das ist wichtig, weil zu Nahrungsmitteln viel mehr gehört als nur das äußere Erscheinungsbild. Auch Geschmack, Duft, Konsistenz, die optische Präsentation und das Kontrastieren oder Ergänzen mit Soßen spielen eine Rolle, die, wie ich mit der Zeit zu beweisen hoffe, ein entscheidendes Beiwerk der oftmals faden Nahrungssubstanz darstellen, die aus den hiesigen Synthesizern kommt. Im Fall der Chalder ist es uns gelungen, die Konsistenz mit der harten Schale, die den weichen Kern umschließt, und den optischen Eindruck zu reproduzieren, der in der Bewegungsfähigkeit eines nachgeahmten Beutetiers besteht, das scheinbar zu fliehen versucht, um nicht gefressen zu werden. Aber das ist auch schon alles.“ „Fahren Sie ruhig fort“, ermunterte ihn Murchison, wobei sie beide Augen öffnete. „Im gegenwärtigen Fall ist die Schwierigkeit, ein Gericht, das sich mit hohem Tempo unter Wasser bewegt, mit einer herkömmlichen Soße zu versehen, so gut wie unüberwindbar. Die dickschaligen, reglosen Eier, mit denen die AUGL-Patienten gegenwärtig gefüttert werden, sind trotz der künstlichen Aromastoffe, die sie enthalten, höchst unappetitlich. Für eine Terrestrierin wie Sie wären diese Eier vom Geschmack her mit Sandwiches mit kaltem Kartoffelpüree vergleichbar.“ „Wegen dieser künstlichen Aromastoffe ist meine Abteilung zu Rate gezogen worden, um schädliche Nebenwirkungen mit Sicherheit auszuschließen“, unterbrach ihn Murchison. „Der Geschmack kann leicht verstärkt werden, falls es das ist, was Sie wollen.“ „Nein, darum geht es mir nicht“, widersprach Gurronsevas. „Der Speisende, ich meine der Patient, ist sich des künstlichen Geschmacks bewußt und empfindet ihn als unangenehm. Ich hatte eher daran gedacht, den Geschmack der Nahrung abzuschwächen als ihn zu verstärken, da es für die Sinne schwieriger ist, künstliche Stoffe in winzigen Mengen als in starken Konzentrationen wahrzunehmen. Mein Plan oder, besser gesagt, meine Hoffnung besteht darin, den abgeschwächten künstlichen Geschmack mit einer Soße zu kaschieren, zu der ich keine natürlichen Zutaten brauche. Ich werde mich auf die beste Würze von allen, den Hunger, verlassen, der noch durch die Aufregung der Jagd und die Ungewißheit, ob man die Mahlzeit auch erwischt, verstärkt wird. Vom Verstand her werden die Chalder zwar wissen, daß sie getäuscht werden, aber unterbewußt macht ihnen das vielleicht nichts aus.“ „Schön, sehr schön“, stimmte ihm Murchison zu. „Ich bin mir ziemlich sicher, daß das funktionieren wird. Aber etwas haben Sie mit Ihren Luchsaugen übersehen.“ „Mit. mit meinen Luchsaugen?“ „Entschuldigung, das ist eine terrestrische Metapher“, antwortete Murchison und fuhr fort: „Wenn ein Landtier gejagt wird, strömt es normalerweise einen bestimmten Körpergeruch aus, eine Absonderung von Drüsensekreten, die seine Angst und erhöhte Körpertätigkeit anzeigen, und dasselbe trifft vielleicht auch hier zu. Man könnte synthetisch erzeugte Angststoffe, in diesem Fall, in Form eines sich schnell im Wasser ausbreitenden Geruchs, durch das Antriebssystem freisetzen, allerdings auch wieder nur in winzigen Mengen, um zu verschleiern, daß sie künstlich sind.“ „Pathologin Murchison, ich bin Ihnen äußerst dankbar“, sagte Gurronsevas aufgeregt. „Falls mir Ihre Abteilung diese Substanz liefern kann, habe ich das Problem mit der Verpflegung der Chalder voll und ganz gelöst. Können Sie das? Und wie schnell wäre es möglich?“ „Das können wir nicht“, antwortete Murchison mit einem Kopfschütteln. „Wenigstens nicht gleich. Erst mal werden wir die Physiologie und Endokrinologie eines Beutetiers untersuchen müssen, über das uns die medizinische Bibliothek möglicherweise keine umfassende Auskunft geben kann. Und wenn eine Sekretion von der Art, wie wir sie voraussetzen, existiert, würde es noch einige Tage dauern, die Molekularstruktur zu analysieren und zu reproduzieren und die synthetische Variante auf mögliche schädliche Nebenwirkungen hin zu untersuchen. Sparen Sie sich Ihren Dank lieber noch bis dahin auf, Gurronsevas.“ Für einen langen Moment musterte er die Pathologin so eingehend, wie es zuvor Timmins getan hatte, wenn auch nicht aus demselben Grund. Er betrachtete die albernen, schwabbelnden Ausbuchtungen auf dem oberen Brustkorb und den unverhältnismäßig kleinen terrestrischen Kopf, der in diesem Fall jedoch einen Verstand enthielt, den man keineswegs als klein bezeichnen konnte. Er wollte der Pathologin gerade erneut danken, als Timmins ihn unterbrach. „Das Fahrzeug ist jetzt startbereit, Sir“, meldete der Lieutenant. „Gleiche Tiefe wie letztes Mal?“ „Danke, ja“, bestätigte Gurronsevas. Abermals wurde das Testfahrzeug vorsichtig zu Wasser gelassen und unter der Oberfläche in Position gehalten. „Dieses Mal habe ich nur auf der Backbordseite Gaskapseln eingesetzt, damit das Fahrzeug im Kreis zu uns zurückkehrt, falls die neuen Stabilisierungsflossen funktionieren und es ihm gelingt, eine etwas größere Strecke zurückzulegen“, erklärte Timmins. „Das synthetisch hergestellte endgültige Modell wird die Richtung und Tiefe ganz zufällig ändern und. Verdammt noch mal!“ Ein steinhart aufgepumpter großer Ball mit leuchtenden Farben war auf dem Floß gelandet, wo er zweimal aufprallte, bevor er neben ihnen ins Wasser rollte. Unwillkürlich hob einer der Melfaner eins seiner zangenförmigen Greiforgane hoch, um ihn wegzustoßen. „Lassen Sie das, und verhalten Sie sich ruhig!“ forderte ihn der Lieutenant in scharfem Ton auf. „Verursachen Sie keine unnötigen Wellen. Die Verschlüsse der Düsen lösen sich sonst nur auf. Schließlich wollen wir das Ding unter optimalen Bedingungen starten. Es fährt los.“ Das Fahrzeug setzte sich — zunächst nur langsam — in Bewegung, nahm dann jedoch gleichmäßig Tempo auf und fuhr diesmal in schnurgerader Linie. Als es den ersten Schub von der Seite bekam, änderte es schlagartig die Richtung und verfolgte den neuen Kurs, ohne abzutreiben oder sichtlich an Geschwindigkeit zu verlieren. Wieder gab es einen abrupten Richtungswechsel, dann noch einen — beide waren sauber ausgeführt—, und das Fahrzeug kam im Kreis zum Floß zurück. Wenige Sekunden später war die komprimierte Luft in den Kapseln aufgebraucht, und das Fahrzeug trieb neben dem Floß aus. „Es müssen zwar noch ein paar Feinabstimmungen vorgenommen werden“, meinte Timmins, wobei er die Lippen zum breitesten terrestrischen Lächeln verzog, das Gurronsevas je gesehen hatte, „aber das war schon eine eindeutige Verbesserung.“ „Ja, wirklich“, stimmte ihm Gurronsevas zu, der kein Lächeln zustande brachte, sich jedoch wünschte, er hätte es gekonnt. „Pathologin Murchison und Sie, Timmins, wie auch die Techniker Kledath und Dremon, verdienen meine höchste Anerkennung.“ Er verstummte, weil neben ihnen auf einmal der unbewegliche, gewölbte Kopf einer Angehörigen von Gurronsevas’ tralthanischer Spezies aus dem Wasser auftauchte, dem ein winkender Tentakel mit der Armbinde einer Schwesternschülerin folgte. „Könnten wir bitte unseren Ball wiederhaben?“ fragte sie. 7. Kapitel Bei der Prüfung der ersten Partie der neuen Lebensmittelproben waren — in absteigender Rangfolge — Chefarzt Edanelt, der die medizinische Gesamtverantwortung für die AUGL-Station trug, Pathologin Murchison, Gurronsevas selbst, Lieutenant Timmins, Oberschwester Hredlichli und die übrigen Angehörigen des Schwesternpersonals der Station zugegen. Sie alle waren in dem Personalraum derart dicht zusammengedrängt, daß kaum noch Platz für die Lebensmittel blieb, die einzeln in fünf Plastikfolien verpackt waren, um die Verschlüsse der Düsen vor einer vorzeitigen Berührung mit Wasser zu schützen. Etwa dreißig Meter vom Eingang der Station entfernt trieb Patient AUGL-Eins-Dreizehn im Wasser und rollte vor Ungeduld die streifenförmigen Tentakel langsam auf und ab. Die normale Mahlzeit, die aus den künstlichen Eiern mit der harten Schale bestand, war serviert worden, die Essensreste hatte man entfernt, und Eins-Dreizehn hatte die Mitteilung erhalten, sich auf eine Überraschung gefaßt zu machen, womöglich sogar auf eine angenehme. Auf Gurronsevas’ Zeichen hin näherte sich ihm Timmins, um ihm beim Abziehen der Plastikfolie behilflich zu sein. Zusätzlich zu den Stabilisierungsflossen, die fast unsichtbar waren und obendrein nicht einmal schlecht schmeckten, waren die Ober- und Unterseiten der Nahrungskapseln mit Eigenantrieb gefärbt worden, so daß sie dem grau- und braungesprenkelten Panzer eines jungen, aber voll ausgewachsenen Vertreters der echten Beutetierart aufs Haar genau glichen. Murchisons Untersuchungen der Körperzeichnung, des Verhaltens und der Drüsenabsonderungen unter Stress waren trotz der knapp bemessenen Zeit sehr gründlich gewesen. Innerhalb weniger Sekunden löste sich der Verschluß der Hauptdüse auf, und ein dünner Strahl aus komprimierter Luft schoß sprudelnd heraus. Gurronsevas und der Lieutenant hielten die Kapsel fest und gaben ihr dann, um ihr bei der Überwindung der Massenträgheit und des anfänglichen Wasserwiderstands zu helfen, einen entschiedenen Stoß in Richtung auf Eins-Dreizehn. Das Maul des Chalders öffnete sich weit — ob vor Überraschung oder Vorfreude konnte nicht mit Sicherheit gesagt werden —, und dann klappten seine gewaltigen Kiefer zu. Doch die Beute hatte plötzlich die Richtung geändert. Sie stieg nach oben, schwamm über Eins-Dreizehns gewaltigen Kopf hinweg und setzte ihren Weg in die lauwarmen grünen Tiefen des anderen Endes der Station fort. Schwerfällig drehte sich der Patient um und schwamm ihr nach. Durch das Wasser verfremdet drang das Krachen kräftiger Zähne, die nichts als Wasser erfassend zusammenschlugen, gefolgt von einem Klirren, das sich anhörte, als sei ein mißtönender Gong angeschlagen worden, als Eins-Dreizehn gegen das Schlafgestell eines ruhiggestellten Mitpatienten stieß, bevor es ihm schließlich gelang, die Beute zu fangen. Als die nun folgenden regelmäßigen Kau- und Knirschgeräusche allmählich langsamer wurden, ließen Timmins und Gurronsevas die zweite Kapsel los. Diesmal war die Jagd nur von kurzer Dauer, weil der erste zufällige Richtungswechsel Eins-Dreizehn die Mahlzeit direkt ins Maul beförderte. Der dritten Kapsel gelang es, nicht erwischt zu werden, bis ihr die komprimierte Luft ausging und sie reglos im Wasser trieb, doch da war Eins-Dreizehn schon viel zu aufgeregt, um diese merkwürdige Verhaltensanomalie zu bemerken oder sich darum zu kümmern. Nummer vier bekam er gar nicht zu fassen. Das lag daran, daß die Kapsel auf ihrem unregelmäßigen Kurs zu nah an das Schlafgestell des festgebundenen Patienten AUGL-Eins-Sechsundzwanzig geriet, der sie sich schnappte, als sie vorbeigeschwommen kam, und sie innerhalb weniger Sekunden gierig verschlang. Daran schloß sich ein hitziger Disput zwischen Eins-Dreizehn und Eins-Sechsundzwanzig an, in dem die Beschuldigung des Diebstahls mit dem Vorwurf des Egoismus beantwortet wurde und der durch den Start der fünften und letzten Nahrungskapsel ein Ende fand. Der allmählich genesende Eins-Dreizehn mußte wohl müde sein, dachte Gurronsevas, denn diesmal dauerte die Jagd sehr lange, und den Bewegungen des AUGLs mangelte es offenbar an Koordination. Mehrmals stieß er heftig gegen die Schlafgestelle, die zu beiden Seiten an den Wänden der Station aufgestellt waren, oder riß große Mengen der duftenden Dekorationspflanzen ab, die man nur lose an den Wänden und der Decke befestigt hatte. Doch Eins-Dreizehns Mitpatienten schienen sich nichts daraus zu machen und feuerten ihn entweder an oder versuchten, einen Happen aus der Kapsel herauszubeißen, wenn sie vorbeigeschossen kam. „Der zertrümmert mir meine ganze Station!“ rief Hredlichli entsetzt. „Halten Sie ihn auf! Halten Sie ihn sofort auf!“ „Ich glaube, die meisten Schäden sind nur oberflächlich, Oberschwester“, beruhigte Timmins die aufgebrachte Oberschwester, wenngleich er sich seiner Sache nicht besonders sicher schien. „Gleich morgen, wenn die erste Schicht beginnt, schicke ich Ihnen einen Reparaturtrupp.“ Patient Eins-Dreizehn, der die fünfte Nahrungskapsel mit Stumpf und Stiel hatte verschwinden lassen, kehrte zum Personalraum zurück. Langsam schwamm er an zwei deutlich verbogenen Schlafgestellen vorbei und zwischen umhertreibenden Knäueln aus künstlichen Pflanzen hindurch, bis er sich direkt vor dem Eingang befand. Sein riesiges, höhlenartiges rosa Maul öffnete sich weit. „Mehr, bitte“, flehte er die Anwesenden an. „Tut mir leid, mehr gibt es nicht“, antwortete Chefarzt Edanelt, der sich zum ersten Mal seit seinem Eintreffen auf der Station zu Wort meldete. „Sie haben an einem Versuch teilgenommen, den Chefdiätist Gurronsevas durchgeführt hat, ein Versuch, der meiner Ansicht nach noch etwas abgeändert werden muß. Vielleicht gibt es morgen oder in den nächsten Tagen mehr.“ Als sich Eins-Dreizehn abwandte, um sich zu entfernen, sagte Hredlichli schnell: „Schwestern, überprüfen Sie sofort den Zustand unserer Patienten und melden Sie mir, falls dieser. dieser Versuch zu irgendeiner Verschlechterung des Gesundheitszustands geführt hat. Danach versuchen Sie, das Durcheinander so gut wie möglich in Ordnung zu bringen.“ An den Chefarzt gewandt fuhr sie fort: „Ich finde nicht, daß man den Versuch abändern sollte, Doktor. Meiner Ansicht nach sollte man ihn ganz schnell wie einen bösen Traum vergessen. Noch so einen Versuch hält meine Station nämlich nicht.“ Die Oberschwester verstummte/ weil Edanelt ein Vorderglied erhoben hatte und die Spitzen einer seiner Zangen langsam knackend zusammenschlug. Auf diese Weise bat ein Melfaner um Aufmerksamkeit. „Die Demonstration ist interessant und alles in allem erfolgreich gewesen, auch wenn die momentane Verwüstung der Station auf etwas anderes schließen läßt“, sagte er. „Wie wir wissen, hat die unnötig langsame Genesung bei den Patienten von Chalderescol einen psychologischen Grund. Nach der Operation werden die AUGLs gewöhnlich lustlos, gelangweilt und faul, und sie verlieren jegliches Interesse an der eigenen Zukunft. Diese neuartigen Nahrungskapseln, die übrigens nur bewegungsfähigen Patienten auf dem Weg der Besserung verabreicht werden sollten, versprechen, das zu ändern. Nach der Reaktion von Eins-Dreizehn und zukünftigen genesenden Patienten zu urteilen, wird diese ständige Erinnerung an das Vergnügen, die echten Beutetiere, von denen die Chalder auf ihrem Heimatplaneten erwartet werden, zu jagen und zu essen, die langweiligen Mahlzeiten beträchtlich beleben. Und die aus medizinischen Gründen ruhiggestellten Patienten, die ihre bewegungsfähigen Artgenossen beobachten, werden sich bemühen, ihre Genesung so schnell wie möglich voranzutreiben. Ich muß Ihnen allen ein großes Kompliment machen“, lobte Edanelt die vier Anwesenden, wobei er sie der Reihe nach ansah, „doch insbesondere dem Chefdiätisten für seine einfallsreiche Lösung eines Problems, das bei der Wiederherstellung der Chalder bis jetzt ein ernsthaftes Hindernis gewesen ist. Dennoch habe ich zwei Vorschläge zu machen.“ Edanelt legte eine Pause ein, und die anderen vier schwiegen und warteten. In Anbetracht seines hohen medizinischen Dienstgrads war der Melfaner ungewöhnlich höflich, doch für eine bloße Pathologin, einen Lieutenant des Wartungsdiensts, eine Oberschwester und selbst einen Chefdiätisten waren die Vorschläge eines Chefarztes, der Gerüchten zufolge bald zum Diagnostiker befördert werden sollte, von Anweisungen nicht zu unterscheiden. „Gurronsevas“, fuhr Edanelt fort, „mir wäre es lieb, wenn Sie und Timmins die bewegungsfähige Chalder-Mahlzeit so modifizieren könnten, daß sie nicht mehr so schnell und wendig ist. Die körperliche Anstrengung bei der Jagd auf die Beute, wie erfreulich sie für den Jäger und wie aufregend sie für die Zuschauer auch sein mag, könnte den Patienten in Gefahr bringen, einen Rückfall zu erleiden. Außerdem würde eine weniger flinke Nahrüngskapsel das Risiko struktureller Schäden an der Ausrüstung und Dekoration der Station stark verringern.“ An Hredlichli gewandt, sagte er: „Dieses Risiko könnte durch den richtigen psychologischen Ansatz von Ihnen und den Schwestern noch weiter gesenkt werden. Wissen Sie, Sie sollten nicht zu autoritär vorgehen, weil es sich bei den Chaldern trotz der furchteinflößenden körperlichen Erscheinung um eine sehr sensible Spezies handelt. Erinnern Sie die AUGLs hin und wieder durch eine beiläufige Bemerkung daran, daß wir Freunde sind, die sich bemühen, sie so schnell wie möglich zu heilen, damit sie nach Hause können. Und geben Sie den Patienten zu verstehen, daß sie in der Wohnung eines Freundes auf ihrem Heimatplaneten auch keine derart ausgelassenen Tischmanieren an den Tag legen würden. Ich bin mir sicher, dieser Ansatz wird das Risiko struktureller Schäden auf Null reduzieren. Zudem dürften Sie sich dadurch auch persönlich gleich ein ganzes Stück glücklicher fühlen, Oberschwester.“ „Ja, Doktor“, bestätigte Hredlichli mit sehr unglücklich klingender Stimme. „Auf jeden Fall macht es die Wartungsabteilung glücklicher“, warf Timmins ein. „Wir werden sofort mit den Änderungsarbeiten beginnen.“ „Vielen Dank“, sagte Edanelt und wandte seine Aufmerksamkeit wieder Gurronsevas zu. „Aber ich kann nicht umhin, mich zu fragen, welchem Problem unser höchst unberechenbarer Chefdiätist als nächstes zu Leibe rücken wird.“ Einen Augenblick lang schwieg Gurronsevas. Über den Stationskommunikator berichteten die Schwestern von dem Zustand der Patienten, die, wie sie sagten, zwar aufgeregt waren, aber keine weiteren Symptome zeigten, die Grund zu medizinischer Besorgnis gegeben hätten. Wie Gurronsevas klar wurde, hatte es sich bei dem letzten Satz des Chefarztes um keine bloße Höflichkeitsfloskel gehandelt; Edanelt war wirklich neugierig und erwartete von ihm eine ehrliche Antwort. „Ich bin mir noch nicht schlüssig, Doktor Edanelt, weil mir bisher in vielen Bereichen die Erfahrung mit der Krankenkost fehlt“, antwortete er wahrheitsgemäß. „Aus diesem Grund habe ich mit diesem relativ geringfügigen Einzelproblem angefangen, das nur wenige Chalder betrifft. Hätte ich gleich zu Anfang die Mahlzeiten einer im Hospital zahlreicher vertretenen Spezies verändert, wäre es womöglich zu massiven Protesten gekommen, wenn die neuen Rezepte keinen Anklang gefunden hätten. Darum habe ich vor, mich zunächst auf die Ernährungsbedürfnisse von einzelnen Wesen zu konzentrieren. Die ersten Tests werde ich mit Freiwilligen durchführen, doch später könnte es notwendig werden, sie heimlich ohne Wissen der jeweiligen Zielgruppe umzusetzen. Bei den zahlreicher vertretenen Spezies möchte ich mich eigentlich nicht an tiefgreifendere Änderungen der Kost wagen, bis ich mehr über die damit verbundenen medizinischen und technischen Schwierigkeiten weiß.“ „Ghu-Burbi sei Dank!“ warf Hredlichli erleichtert ein. „Das scheint mir ein vernünftiges Vorgehen zu sein“, meinte Edanelt. „Wer soll Ihre nächste Versuchsperson sein?“ „Diesmal handelt es sich um einen Mitarbeiter“, antwortete Gurronsevas. „Ich hatte zwar an verschiedene Personalangehörige gedacht, aber unter den gegebenen Umständen und als kleine Anerkennung für die gute Zusammenarbeit, zu der es gekommen ist, indem sie mir die Möglichkeit für den heutigen Versuch gegeben hat, und auch als eine wohlverdiente Gefälligkeit für die schweren Seelenqualen, die ihr durch die Beschädigung ihrer Station zugefügt worden sind, kommt dafür meines Erachtens niemand anders als Oberschwester Hredlichli in Frage.“ „Aber ich. aber Sie sind ja nicht mal ein Chloratmer!“ platzte Hredlichli los. „Sie werden mich vergiften!“ Edanelts krabbenähnlicher melfanischer Körper begann sich leicht zu schütteln, und dabei stieß der Chefarzt Laute aus, die vom Translator nicht übersetzt wurden. „Stimmt“, bestätigte Gurronsevas, „aber ich trage die Verantwortung für die Ernährungsbedürfnisse von jedem Lebewesen im Hospital, egal, welcher Spezies es angehört, und ich würde meine Pflicht vernachlässigen, wenn ich meine beruflichen Aktivitäten auf warmblütige Sauerstoffatmer beschränkte. Übrigens verfügt Pathologin Murchison nicht nur über umfangreiche Erfahrungen mit PVSJs, sondern ihrer Abteilung ist auch ein illensanischer Chloratmer zugeteilt, und beide haben zugesagt, mir mit Rat und Tat zur Seite zu stehen. Die beiden würden mir nie erlauben, irgendwelche neuen Gerichte aufzutischen, die für Sie riskant sein könnten. Falls Sie bereit sind, sich freiwillig zur Verfügung zu stellen, kann ich Ihnen versichern, daß es für Sie nicht gefährlich wird, Oberschwester.“ „Die Oberschwester wird sich bestimmt mit Vergnügen freiwillig melden“, warf Edanelt, dessen Körper immer noch leicht zitterte, rasch ein. „Hredlichli, auf dem Gebiet der Kochkunst genießt Gurronsevas in der gesamten Föderation einen derart guten Ruf, daß Sie sich höchst geehrt fühlen sollten.“ „Ich fühle nur, daß ich mir gerade eine lebensbedrohliche Krankheit zugezogen habe“, antwortete Hredlichli hilflos. 8. Kapitel Bei seinem zweiten Besuch in der Abteilung für ET-Psychologie sah Gurronsevas dieselben drei Wesen wie beim ersten hinter den Schreibtischen sitzen; allerdings hatte er in der Zwischenzeit herausgefunden, wer und was sie waren. Bei dem Terrestrier mit der Uniform im Grün des Monitorkorps handelte es sich um Lieutenant Braithwaite, O’Maras ersten Assistenten; die Sommaradvanerin, Cha Thrat, war eine fortgeschrittene Auszubildende; und Lioren, der Tarlaner, war ein Fachmann für den nur schwer zu bestimmenden Bereich, in dem sich die Religionen verschiedener Spezies und die Psychologie überschnitten. Entgegen seinen sonstigen Gepflogenheiten wandte sich Gurronsevas dieses Mal nicht an denjenigen, der den höchsten Rang bekleidete, weil ihm dieses Mal möglicherweise alle drei behilflich sein konnten. „Ich bin Chefdiätist Gurronsevas“, stellte er sich leise vor. „Falls es Ihnen nichts ausmacht, würde ich gern in einer streng vertraulich zu behandelnden Angelegenheit um Informationen und Hilfe bitten.“ „Wir erinnern uns an Sie, Gurronsevas“, meldete sich Lieutenant Braithwaite als erster zu Wort. „Aber Sie sind zum falschen Zeitpunkt gekommen. Major O’Mara befindet sich gerade auf der monatlichen Versammlung der Diagnostiker. Kann ich Ihnen helfen, oder wollen Sie einen Termin mit ihm abmachen?“ „Dann bin ich genau zum richtigen Zeitpunkt gekommen“, stellte Gurronsevas klar. „Es ist nämlich der Chefpsychologe, weshalb ich Sie — Sie alle — vertraulich zu Rate ziehen möchte.“ Die drei Wesen stellten sofort ihre Arbeit ein, und gleichzeitig entfuhr ihren Mündern ein eigenartiger, ablehnender Laut. „Fahren Sie bitte fort“, forderte ihn Braithwaite auf. „Danke.“ Gurronsevas trat näher und senkte die Stimme. „Seit ich hier am Hospital arbeite, habe ich den Chefpsychologen kein einziges Mal in der Kantine gesehen. Ißt er gewöhnlich alleine?“ „Stimmt“, bestätigte Braithwaite und lächelte. „Der Major nimmt seine Mahlzeiten nur selten in Gesellschaft oder in der Öffentlichkeit zu sich. Seiner Behauptung nach könnte beim Personal sonst der Eindruck entstehen, er wäre im Grunde nur ein Terrestrier mit all den üblichen terrestrischen Fehlern und Schwächen, was der allgemeinen Disziplin schaden könnte.“ „Das verstehe ich nicht“, sagte Gurronsevas nach kurzer Denkpause. „Hat der Chefpsychologe ein seelisches Problem? Steckt er vielleicht in einer Identitätskrise? Wenn er nicht für einen Terrestrier gehalten werden will, zu welcher Spezies glaubt er dann zu gehören? Die Auskunft, um die ich Sie bitte, würde mir bei der Zubereitung geeigneter Mahlzeiten sehr helfen — falls sie nicht streng vertraulich ist und Sie bereit sind, sie preiszugeben. Vermutlich will O’Mara mit seiner Gewohnheit, allein zu essen, verheimlichen, daß er keine terrestrische Nahrung zu sich nimmt.“ Cha Thrat und Lioren gaben leise Geräusche von sich, die nicht übersetzt wurden, und Braithwaites Lächeln war noch breiter geworden. „Der Chefpsychologe ist nicht psychisch gestört“, meinte er. „Ich fürchte, meine Bemerkung, daß er nicht terrestrisch erscheinen will, hat bei der Übersetzung gelitten und Sie irregeführt. Aber was wollen Sie denn wissen, und wie genau können wir Ihnen helfen? Sie erwecken ganz den Eindruck, daß die Sache etwas mit den Eßgewohnheiten des Majors zu tun hat, richtig?“ „Das stimmt“, bestätigte Gurronsevas. „Insbesondere würde ich gern alle Informationen erhalten, die Sie mir darüber geben können, welches Essen die Versuchsperson bevorzugt, wie oft sie ihre Lieblingsgerichte bestellt und welche kritischen Bemerkungen sie eventuell ihnen gegenüber fallengelassen hat oder zukünftig fallenlassen wird. Derartige Auskünfte zu bekommen, ohne die Aufmerksamkeit auf mich selbst zu lenken und Anlaß zu Gerede über ein Projekt zu geben, das bis zur Beendigung geheimgehalten werden sollte, ist überraschend schwierig“, fuhr er schnell fort. „Im Hospital speisen viele allein, entweder aus persönlicher Vorliebe oder weil für sie der Weg zur Kantine und wieder zurück wegen dringender beruflicher Pflichten einen zu großen Zeitaufwand bedeutet. Jede Aufzeichnung über das von diesen Mitarbeitern bestellte Gericht wird gelöscht, sobald es zubereitet und ausgeliefert worden ist, da keine Notwendigkeit besteht, derartige Daten zu speichern, und die einzige Möglichkeit herauszufinden, welche Speisen ausgewählt worden sind, wäre die, die eigentliche Bestellung abzuhören oder das Auslieferungsfahrzeug anzuhalten, und das ließe sich beides nicht heimlich durchführen. Viel einfacher wäre es also, wenn Sie mir die erforderlichen Daten zukommen lassen würden.“ „Solange die gewählten Gerichte keinen verdorbenen Geschmack erkennen lassen — was immer das auch in diesem medizinischen Tollhaus bedeuten mag—, können Informationen über Vorlieben beim Essen kaum als vertrauliche Mitteilungen eingestuft werden“, meinte Lioren, der sich zum ersten Mal zu Wort meldete. „Ich sehe zwar keinen Grund, solche Informationen zurückzuhalten, aber warum fragen Sie nicht direkt den Major danach? Weshalb ist diese Heimlichtuerei erforderlich?“ Das ist doch wohl ganz offensichtlich, dachte Gurronsevas, antwortete aber geduldig: „Wie Sie bereits wissen, hat man mir die Verantwortung dafür übertragen, die Speisen appetitlicher anzurichten und geschmacklich zu verbessern, da die Qualität und Zusammensetzung der bei der Zubereitung verwandten synthetischen Nährstoffe dem Standard entspricht und von der Nahrhaftigkeit her optimal ist. Doch das Aussehen und den Geschmack einer großen Zahl von Gerichten — oftmals nur ganz leicht — zu verändern hat einen schwerwiegenden Nachteil. Die Änderungen würden nämlich zu ausgedehnten Diskussionen und Debatten über persönliche Vorlieben führen und nicht zu der wohldurchdachten und eingehenden Kritik, die für mich so wertvoll wäre. Natürlich ergeben sich aus Versuchen mit einzelnen Mitgliedern einer ausgewählten Spezies, wie ich sie mit dem AUGL-Patienten Eins-Dreizehn und mit Oberschwester Hredlichli angestellt habe, nützliche Werte“, fuhr er fort. „Doch die Erörterung kulinarischer Randprobleme kann — manchmal auch eine angenehme — Zeitverschwendung sein. Darum bin ich zu dem Schluß gekommen, daß die Versuchsperson bis nach dem Ende des Tests ahnungslos bleiben sollte, weil ich auf diese Weise die besten Ergebnisse zu erzielen glaube.“ Einen Augenblick lang starrte ihn Lieutenant Braithwaite mit offenem Mund an, ohne jedoch zu lächeln oder etwas zu sagen. Cha Thrat hatte sich dem Schweigen angeschlossen. Es war Lioren, der als erster das Wort ergriff. „Ich kenne zwar niemanden, der den Major persönlich besonders ins Herz geschlossen hat, doch in seiner Eigenschaft als Chefpsychologe wird er von allen außerordentlich geachtet“, sagte er leise. „An einem Komplott, um ihn zu vergiften, wollen wir uns nicht beteiligen.“ „Könnte es sein“, fragte Braithwaite, der offenbar die Sprache wiedergefunden hatte, „daß der Druck der Verantwortung und das ungeheure Ausmaß der Aufgabe in unserem Chefdiätisten eine Art Todessehnsucht erweckt haben?“ „Das Problem liegt einzig und allein auf meinem Spezialgebiet und hat nichts mit Ihrem Fachbereich zu tun“, widersprach Gurronsevas in scharfem Ton. „Entschuldigung, meine Frage war nicht ernst gemeint“, besänftigte ihn Braithwaite. „Dennoch laufen Sie Gefahr, einem sehr mächtigen und reizbaren Wesen zu nahe zu treten, das höchstwahrscheinlich nicht irgendwelche Fehler verschweigen wird, falls es zu solchen kommt. Vielleicht sollten Sie noch einmal darüber nachdenken, bevor Sie damit anfangen.“ „Ich habe schon darüber nachgedacht“, stellte Gurronsevas klar. „Wenn die Sache vertraulich bleibt, ist das Risiko annehmbar.“ „Dann werden wir Ihnen helfen, wo wir können“, willigte der Lieutenant ein. „Vielleicht nützt es Ihnen ja was.“ Die Lieferung von O’Maras Mahlzeiten wurde laut Braithwaite jeden Tag von einem oder mehreren Mitarbeitern aus dem Vorzimmer quittiert, und das Essen befand sich in einem geschlossenen und isolierten Lieferbehälter mit durchsichtigem Deckel. Daher waren die Mitarbeiter in der Lage, die angelieferten Gerichte zu erkennen und aus den Speiseresten ihre Schlüsse zu ziehen. Hin und wieder bemängelte O’Mara ein Gericht so laut, daß seine Stimme durch die Bürotür hindurch zu hören war. Normalerweise benannte der Major in seiner Kritik auch das Nahrungsmittel, das ihm offenbar besonders auf den Magen geschlagen war. „…Sie sehen also, daß alle Auskünfte, die wir Ihnen erteilen können, unvollständig sein werden“, schloß Braithwaite entschuldigend. „Für mich aber trotzdem nützlich“, antwortete Gurronsevas. „Insbesondere dann, wenn Sie damit einverstanden wären, mich über die Worte und Reaktionen des Chefpsychologen bei und nach dem Essen auf dem laufenden zu halten. Aus den Gründen, die ich Ihnen bereits genannt habe, wäre ich äußerst dankbar, wenn Sie Ihre Beobachtungen heimlich anstellen und mich unverzüglich über alle auch noch so geringfügigen Verhaltensänderungen informieren würden, die mit den Abwandlungen, die ich an den Gerichten vornehmen werde, zusammenhängen.“ „Wie lange wird das Projekt voraussichtlich dauern?“ wollte Braithwaite wissen. „Einen Monat? Eine unbegrenzte Zeit lang?“ „Du meine Güte, nein!“ widersprach Gurronsevas entschieden. „Im Hospital gibt es über sechzig verschiedene Lebensformen, die essen müssen und meine Aufmerksamkeit erfordern. Es dauert zehn oder höchstens fünfzehn Tage.“ „Also gut“, sagte der Lieutenant mit einem Kopfnicken. „Geringe Veränderungen der Persönlichkeit oder des Verhaltens zu beobachten, die manchmal ein erstes Anzeichen für die Entwicklung eines größeren psychologischen Problems sind, ist genau das, wofür wir in dieser Abteilung ausgebildet worden sind. Gibt es sonst noch etwas, das wir für Sie tun können?“ „Danke, nein“, antwortete Gurronsevas. Als er sich zum Gehen wandte, sagte Lioren: „Wo wir gerade von Veränderungen der Persönlichkeit sprechen, wir haben Gerüchte über Oberschwester Hredlichli gehört. In den vergangenen Tagen soll sie sich äußerst merkwürdig benommen haben, indem sie dem ihr unterstellten Stationspersonal gegenüber Mitgefühl und Rücksicht an den Tag gelegt und erste Anzeichen gezeigt hat, ein fast liebenswerter Charakter zu werden. Haben die Veränderungen, die Sie an der PVSJ-Verpflegiung vorgenommen haben, irgend etwas damit zu tun, Chefdiätist?“ Alle drei gaben diese leisen, unübersetzbaren Geräusche von sich, was darauf hindeutete, daß die Frage nicht ernst gemeint war. Sanft erwiderte Gurronsevas das Lachen. „Das will ich doch hoffen“, sagte er. „Aber bei Major O’Mara kann ich keinen ähnlichen Erfolg garantieren.“ Mit dem kleinen Teil des Verstands, der sich nicht darauf konzentrierte, Zusammenstöße auf den belebten Korridoren zu vermeiden, dachte Gurronsevas über Hredlichli nach. Mit der Arbeit an der Verbesserung der PVSJ-Verpflegung hatte er bereits viel mehr Zeit verbracht als beabsichtigt, doch das lag daran, daß die Chloratmerin andauernd mehr reden als essen wollte, und wie Gurronsevas wußte, war der Großteil der Zeit, so angenehm solche Gespräche auch hin und wieder sein mochten, vergeudet. Doch in wenigen Stunden würden Hredlichli und er den gegenseitigen beruflichen Kontakt wieder lösen, was er mittlerweile fast bedauerte. Als er auf der Station eintraf, war er nicht überrascht, Murchison und Timmins bereits vorzufinden. Die Pathologin winkte ihm mit einer Hand zu und sagte, sie habe sich für den Rest des Tages aus ihrer Abteilung abgemeldet, weil hier der Ort sei, wo etwas passiere. Das klang zwar wie ein schmähliches Eingeständnis beruflicher Nachlässigkeit und Verantwortungslosigkeit, doch Gurronsevas hatte gelernt, nicht alles, was die Pathologin sagte, ernst zu nehmen. Wegen Gurronsevas’ Sorge, daß alles schiefgehen könnte, war Lieutenant Timmins von ihm gebeten worden, die zur Unterstützung geschickten Wartungstechniker bei den endgültigen Änderungen des Programms zu beraten, das im Synthesizer laufen würde, der den kleinen Speisesaal für PVSJs mit Essen versorgte. Timmins war viel zu beschäftigt, um Gurronsevas’ Ankunft oder selbst Murchison zu bemerken, und die Lebensmitteltechniker Dremon und Kledath stellten durch das ungeduldige Kräuseln ihrer Felle klar, daß sie keinen Rat brauchten. Murchison näherte sich dem Tralthaner und berichtete in lebhaftem Ton: „Wir haben unsere Analyse der Probe von dem Schutzfilm abgeschlossen, mit dem das Übungsgerät im Bewegungsraum neben dem Essensbereich der Chloratmer überzogen ist. Die Substanz ist bereits als unbedenklich freigegeben worden, und das ist sie auch immer noch, doch der Film auf diesem Übungsgerät hat auch eine geringe Menge eines unbekannten Stoffs enthalten, der wahrscheinlich versehentlich bei der Herstellung hineingeraten ist. Wird der Schutzfilm über einen langen Zeitraum hinweg einer Chloratmosphäre ausgesetzt, löst sich dieser Stoff heraus und setzt dabei winzige Mengen eines Gases frei, das für Chloratmer selbst in hohen Konzentrationen harmlos ist, obwohl es für ihre Umgebung und ihren Metabolismus etwas vollkommen Fremdes darstellt. Den Geruch des Gases hat der Illensaner in der Pathologie als „appetitanregend“ beschrieben. Das war eine gute Beobachtung und Schlußfolgerung von Ihnen.“ „Danke“, sagte Gurronsevas. „Doch den größten Teil der Anerkennung verdient Hredlichli. Es war nämlich die Oberschwester, die mich als erste darauf hingewiesen hat, daß ihr von einigen ihrer Kolleginnen, die dieses Übungsgerät vor den Mahlzeiten benutzt haben — offenbar holen sich die Illensaner eine Magenverstimmung, wenn sie sich nach dem Essen bewegen—, versichert worden ist, es habe ihnen dabei geholfen, Appetit zu bekommen. Wenn man in die richtige Richtung gewiesen wird, ist es viel leichter, an sein Ziel zu gelangen.“ „Ach, Sie sind viel zu bescheiden“, tadelte ihn Murchison. „Aber was planen Sie als nächstes, und wen haben Sie dafür vorgesehen?“ Soweit sich Gurronsevas erinnern konnte, war es das erste Mal, daß man ihm Bescheidenheit vorwarf. Timmins, der sich mit dem Kopf über das Bedienungspult gebeugt hatte, wandte sich urplötzlich um und sagte: „Die Antwort darauf kann ich auch kaum erwarten.“ Alle Augen waren nun auf Gurronsevas gerichtet. Selbst die Kelgianer schwiegen, und ihr Fell war vor Neugier zu starren, reglosen Büscheln aufgerichtet. Gurronsevas war klar, daß er mit äußerster Vorsicht antworten mußte, wenn er erzählen wollte, was er vorhatte, ohne zu verraten, wen er sich dafür ausgesucht hatte. „Die Sache mit der PVSJ ist für mich zwar eine verlockende, aber fast theoretische Aufgabe gewesen, weil sie darin bestanden hat, Gerichte zuzubereiten und anzurichten, die ich selbst nicht probieren konnte und die für mich sofort tödlich gewesen wären, wenn ich es versucht hätte“, erklärte er. „Mein nächstes Projekt wird reizvoller und gleichzeitig für alle Beteiligten weniger gefährlich sein, da das Essen weder mich noch irgendeinen anderen warmblütigen Sauerstoffatmer vergiften kann, auch wenn es vom Geschmack und von der Art her, auf die es angerichtet ist, auf mich persönlich abstoßend wirken könnte. Bei der Versuchsperson wird es sich diesmal um einen terrestrischen DBDG handeln, einem Mitglied der Spezies, der im Hospital mehr als ein Fünftel der Mitglieder des medizinischen und des Wartungspersonals angehören und deren Vorlieben beim Essen, wie ich aus meiner langen Erfahrung im Cromingan-Shesk weiß, nur schwer zu befriedigen sind“, fuhr er fort. „Danach hoffe ich mich mit den kelgianischen, melfanischen und nallajimischen Spezies befassen zu können, wenn auch nicht unbedingt in dieser Reihenfolge.“ Die Felle der Kelgianer gerieten in Wirbelbewegungen, die zu schnell über die Körper liefen, als daß Gurronsevas imstande gewesen wäre, ihre Empfindungen richtig zu deuten. Murchison lächelte, und Timmins sagte schnell: „Ich würde mich mit Vergnügen als Freiwilliger melden, Sir.“ „Lieutenant“, bremste ihn die Pathologin in entschiedenem Ton. „Stellen Sie sich gefälligst hinten an, erst mal komme ich dran.“ Gurronsevas wollte gerade mitteilen, daß er keine terrestrischen Freiwilligen mehr benötigte, als auf dem Bildschirm des Kommunikators im Labor die Gestalt von Hredlichli auftauchte. Wie Gurronsevas auf den ersten Blick sah, meldete sich die Oberschwester aus ihrer Privatunterkunft, denn die Gesichtszüge wurden nicht durch eine Druckhülle verwischt, sondern waren deutlich sichtbar. „Herr Chefdiätist“, sagte sie, „ich wäre Ihnen äußerst dankbar, wenn Sie mir einen neuen Bericht über die Fortschritte Ihres letzten Versuchs, Gree in Yursil-Gelee synthetisch zuzubereiten, zukommen lassen würden. Der Probe hatte ich voller Ungeduld entgegengesehen, sie hat mich jedoch nicht erreicht. Was ist mit ihr passiert?“ Lebensmitteltechniker Liresschi ist ihr passiert, dachte Gurronsevas und antwortete laut: „Seit unserem gestrigen Gespräch habe ich sehr gute Fortschritte erzielt. Genau gesagt: ich habe fünf Ergänzungen zur PVSJ-Verpflegung für die Zubereitung durch den Synthesizer fertiggestellt. Bei zweien handelt es sich um Hauptgerichte, und die anderen drei sind ergänzende oder kontrastierende Soßen, die wir für bereits existierende Speisen entwickelt haben. Morgen zur Hauptessenszeit werden Ihre illensanischen Freundinnen und Freunde die Ergebnisse probieren können. Aber vergessen Sie nicht, sie alle daran zu erinnern, daß die Gerichte synthetisch sind und der charakteristische, langweilige Geschmack synthetischer Nahrung, über den Sie sich beklagt haben, nicht beseitigt, sondern nur durch die neuen Bestandteile übertüncht worden ist. Eine der Zutaten in der Fryellisoße kommt auf Ihrem Heimatplaneten zwar nicht in der Natur vor, aber die pathologische Abteilung hat mir versichert, daß sie Ihrem Metabolismus nicht schadet“, setzte er seinen Bericht fort. „Ihr Reiz liegt in den appetitanregenden Wirkungen des Dufts und des Aussehens. Die Soße selbst ist geschmacksneutral, doch Sie werden Schwierigkeiten haben zu glauben, daß irgend etwas, das für Sie derart lekker aussieht und riecht, nicht auch’gut schmecken sollte. Was das Gree angeht, habe ich nur geringfügige Änderungen vorgenommen, die zum großen Teil den optischen Eindruck betreffen“, erklärte Gurronsevas weiter. „Die Oberfläche des durchsichtigen Yursil-Gelees weist kleine, unregelmäßige Spiralen auf, die beim Speisenden, wenn er sich vorbeugt, um zu essen oder sich zu unterhalten, den Eindruck erwecken, die eingebetteten synthetischen Gree-Käfer befänden sich in Bewegung und seien folglich noch am Leben. Dieser Eindruck ist optisch so überzeugend, daß die Geschmacksrezeptoren des Betreffenden sozusagen ausgeschaltet werden und das.“ „Zweifellos sieht das Gericht herrlich aus und schmeckt auch so“, fiel im Hredlichli ins Wort. „Aber was ist mit der Probe passiert?“ In sorgfältig gewählten Worten antwortete Gurronsevas: „Da das Gericht demnächst in die automatische Zubereitung gehen sollte, wollte ich es Ihnen durch Lebensmitteltechniker Liresschi zukommen lassen, der beabsichtigt hat, es für die Zubereitung durch den Synthesizer zu scannen und eine zusätzliche Geschmacksbeurteilung vorzunehmen. Liresschi hat das Gericht voll und ganz gebilligt, behauptete aber, es weise geschmackliche Finessen auf, die die Entnahme weiterer Proben erforderten, bis er rundum zufriedengestellt sei. Bedauerlicherweise war danach nicht mehr soviel übrig, daß es sich gelohnt hätte, den Rest an Sie weiterzugeben. Doch es wird mir ein Vergnügen sein, Ihnen eine andere.“ „Aber. aber Sie haben doch gesagt, die Probe würde für vier Portionen reichen!“ „Ja“, bestätigte Gurronsevas. „Der Lebensmitteltechniker ist ein Verächter der Kochkunst und ein gefräßiger Rüpel!“ schimpfte Hredlichli verärgert. „Ja“, bestätigte Gurronsevas abermals. Die Oberschwester stieß einen Laut aus, der nicht übersetzt wurde, doch bevor sie fortfahren konnte, sagte Gurronsevas schnell: „Ich möchte Ihnen für die Hilfe danken, die Sie mir während unserer gemeinsamen Gespräche geleistet haben. Aufgrund dieser Gespräche sind an der gegenwärtigen PVSJ-Verpflegung merkliche Verbesserungen vorgenommen worden, denen mit der Zeit weitere folgen werden. Von daher hat dieses Projekt das anfangs gesteckte Ziel erreicht, und ich muß jetzt mit einem neuen beginnen, das sich mit den Ernährungsbedürfnissen einer anderen Lebensform beschäftigt. Nochmals meinen allerherzlichsten Dank, Hredlichli.“ Für eine scheinbar lange Zeit kam von Hredlichli kein einziges Wort, und Gurronsevas fragte sich, ob es seinen Ausführungen an Feingefühl gefehlt hatte. Im Laufe der Jahre hatten sich die Illensaner bei ihren medizinischen Kollegen zwar höchstes berufliches Ansehen, nicht aber gerade Zuneigung erworben. Das lag größtenteils an der Schwierigkeit, persönlich mit ihnen in Kontakt zu kommen oder die Gelegenheit zu erhalten, Gespräche über ihre nichtmedizinischen Gedanken, Ansichten und Beschwerden mit ihnen zu führen, die die sauerstoffatmenden Spezies als selbstverständlich betrachteten. Ob nun zu Recht oder nicht, die PVSJs empfanden sich als kleine, benachteiligte, chloratmende Minderheit, der niemand zuhörte, so daß sowohl die allgemeine Stimmung des einzelnen als auch die der Gruppe darunter gelitten hatte. Bei der Arbeit an der Verbesserung der illensanischen Verpflegung hatte sich Hredlichlis Verhalten gegenüber Gurronsevas deutlich verändert, doch ob das darauf zurückzuführen war, daß der Tralthaner das Herz der Oberschwester auf dem Umweg über ihren Magen gewonnen hatte oder Hredlichli zu guter Letzt auf jemanden gestoßen war, der das, was sie zu sagen hatte, für wertvoll hielt, oder sie einfach einen Freund von einer artfremden Spezies gewonnen hatte, wußte Gurronsevas nicht. Auf einmal wünschte er sich, einer von den Mitarbeitern der psychologischen Abteilung wäre dagewesen — am liebsten Padre Lioren—, um sich erklären zu lassen, was er Falsches gesagt hatte und wie er es am besten zurücknehmen könnte. Da meldete sich plötzlich Hredlichli zu Wort. „Ich habe Ihnen etwas mitzuteilen, das für Sie möglicherweise sowohl ein Kompliment als auch eine Strafe darstellt“, sagte sie zögernd. „Allerdings bin ich mir nicht ganz sicher, weil wir Illensaner bis vor kurzem nicht die leiseste Ahnung von den Eßgewohnheiten und Bräuchen warmblütiger Sauerstoffarmer gehabt haben.“ Gurronsevas bewahrte höfliches Schweigen, und Hredlichli fuhr fort: „Ich habe mit meinen illensanischen Freundinnen über die Zusammenarbeit mit Ihnen gesprochen, und sie freuen sich über die Änderungen, die Sie an unserer Verpflegung vorgenommen haben, genauso wie ich. Wir haben den nichtmedizinischen Bibliothekscomputer befragt und herausgefunden, daß es auf der Erde, die zu den vielen Planeten gehört, auf denen sich das Zubereiten und Anrichten von Speisen zu einer bedeutenden Kunstform entwickelt hat, einen Brauch gibt, der bei einem Volksstamm entstanden ist, dessen Mitglieder sich „Franzosen“ nennen, und der uns gefällt. Am Ende eines besonders angenehmen Mahls bitten die Teilnehmer den Küchenchef, den sie als „Chef de cuisine“ bezeichnen, an ihren Tisch, damit sie ihm persönlich ihre Anerkennung aussprechen können. Wir hatten gehofft, daß Sie uns morgen zur Hauptmahlzeit im illensanischen Speisesaal aufsuchen, damit wir diesem Beispiel folgen können“, schloß die Oberschwester. Einen Augenblick lang war Gurronsevas außerstande zu sprechen. Schließlich antwortete er: „Ich kenne diesen terrestrischen Brauch und fühle mich tatsächlich sehr geschmeichelt, aber.“ „Es wird für Sie nicht gefährlich, Gurronsevas“, beruhigte ihn Hredlichli. „Ziehen Sie zum Schutz gegen die Atmosphäre an, was Sie wollen. Nötig ist ja nur Ihre Anwesenheit. Daß Sie etwas essen, erwarten wir ja gar nicht von Ihnen.“ 9. Kapitel Da Gurronsevas am Orbit Hospital letztendlich mehr als zehntausend Mitglieder des medizinischen und Wartungspersonals sowie einige tausend Patienten zufriedenzustellen hatte, war es weder vernünftig noch rationell oder auch nur gerecht, all seine Anstrengungen auf die Befriedigung eines einzelnen Individuums zu richten, auch wenn es sich dabei wahrscheinlich um die einflußreichste Persönlichkeit am Hospital handelte. Das Projekt mit O’Mara, so hatte sich Gurronsevas entschieden, mußte zu den Vorhaben mit anderen Spezies, die aller Wahrscheinlichkeit nach geringere Schwierigkeiten aufwerfen würden, parallel weiterlaufen. Bei dieser Entscheidung war er von seinen Spionen in der psychologischen Abteilung beeinflußt worden, die nach fünf Tagen, in denen sich Gurronsevas mit ziemlich subtilen Verfeinerungen der Gerichte des Chefpsychologen beschäftigt hatte, von keiner erkennbaren Veränderung der Stimmung Major O’Maras, seines Verhaltens nach den Mahlzeiten oder des Benehmens gegenüber Untergebenen oder sonst jemandem berichten konnten. Bei einer ihrer täglichen Zusammenkünfte in der Kantine äußerte Cha Thrat die Ansicht, der Major gehöre vielleicht zu jenen seltenen Charakteren, die über die Fähigkeit verfügten, beim ernsthaften Nachdenken über fachliche Fragen die eigenen Sinnesempfindungen zu ignorieren, und deshalb seien ihm die Veränderungen der Mahlzeiten womöglich gar nicht bewußt. Braithwaite stimmte ihr zu und erklärte, er habe den Unterschied gerochen, der sich durch Gurronsevas’ Abwandlungen der Gerichte O’Maras eingestellt habe, und würde sich gern als dankbarere und empfänglichere Versuchsperson zur Verfügung stellen. Woraufhin Gurronsevas antwortete, daß die durch eine unvoreingenommene und sogar feindselige Versuchsperson gewonnenen Daten wertvoller seien als diejenigen, die man mit einem dankbaren Freiwilligen erlange. „Da jedenfalls keine starke negative Reaktion von O’Mara erfolgt ist, bin ich davon ausgegangen, daß die Änderungen annehmbar sind, und habe meine abgewandelten Gerichte für Terrestrier bereits in den Synthesizer der Kantine eingegeben“, schloß Gurronsevas. „Sie, Lieutenant, und wahrscheinlich auch alle übrigen Terrestrier im Hospital werden mich schon wissen lassen, was Sie davon halten.“ „Das werden wir“, bestätigte Braithwaite mit einem Lächeln, während er die Speisekarte aufrief. „Welche Gerichte sind denn davon betroffen?“ „Ich brauche auch was Anständiges zu essen“, mischte sich Cha Thrat ein. „Und zwar genauso oft und in den gleichen Mengen wie ein terrestrischer DBDG.“ „Das ist mir schon klar, und ich habe die einzige sommaradvanische DBLF im Hospital keineswegs vergessen“, antwortete Gurronsevas. „Doch Ihre Spezies ist der Föderation erst vor vergleichsweise kurzer Zeit beigetreten, und während meiner Zeit im Cromingan-Shesk hatten wir nicht die Gelegenheit, Sommaradvaner zu verköstigen. Darum gibt es nur spärliche Angaben über Ihre Eßgewohnheiten und Vorlieben. Falls Sie die jetzt gleich mit mir besprechen möchten, höre ich Ihnen mit Freuden zu, und sei es nur, um mich vom Geschmack dieses unappetitlichen Breis abzulenken, der nur vom Aussehen her gestutztem Creggilon in Uxtsirup ähnelt. Doch mein Lieblingsgericht von den Speiseplänen anderer Spezies sind die nallajimischen Tausendfüßler namens Strill, bei denen es sich um wunderschön gemusterte Kriechtiere mit schwarzem und grünem Haar handelt, die etwa so lang sind“ — er zeigte den anderen die entsprechende Länge — „und natürlich lebend serviert werden, und zwar in einem genießbaren Käfig aus Cruulan-Blätterteig.“ „Bitte“, beschwerte sich Braithwaite, „ich will gerade essen.“ „Ich leide ebenfalls an einem zunehmenden Unbehagen in der Magengegend“, schloß sich ihm Cha Thrat an. „Wahrscheinlich stülpt sich gleich mein Innerstes nach außen.“ „Leiden ist gut für die Seele, Cha Thrat“, mischte sich Padre Lioren ein, „und falls sich Ihre Vermutung bewahrheiten sollte, werden wir herausfinden, ob Sie tatsächlich eine Seele besitzen.“ Gurronsevas bemühte sich noch, sich eine Bemerkung einfallen zu lassen, die sich sowohl auf die Kochkunst als auch auf die Theologie bezog, als sich ein Hudlarer, der die Abzeichen eines Assistenzarztes trug, dem Tisch näherte und die Sprechmembran vibrieren ließ. „Chefdiätist Gurronsevas?“ fragte er schüchtern und wartete verlegen auf eine Antwort. Wie Gurronsevas aus langer Erfahrung wußte, besaßen die Hudlarer von allen Spezies in der Föderation die dickste und unempfindlichste Haut, waren aber zugleich auch am verletzlichsten. „Ja, Doktor. Kann ich Ihnen helfen?“ „Vielleicht sind Sie in der Lage, mir und meinen FROB-Kollegen zu helfen“, antwortete der Hudlarer. „Doch ist das jetzt auch kein ungünstiger Zeitpunkt für Sie? Unser Problem ist zwar ernst, aber nicht dringend.“ „Ich habe noch ein paar Minuten Zeit, bevor ich mich auf den Weg zum Ladeplatz zwölf machen muß“, erwiderte Gurronsevas. „Falls Sie mehr Zeit brauchen, können wir uns beim Gehen weiter unterhalten. Was haben Sie auf dem Herzen, Doktor?“ Während des kurzen Wortwechsels hatte Gurronsevas mit allen vier Augen den Hudlarer gemustert, der, obwohl er nicht viel größer als der Tralthaner war, wenigstens das Vierfache an Körpermasse aufwies. Der Assistenzarzt besaß sechs tentakelartige Gliedmaßen, die ihm sowohl als Greif- als auch als Fortbewegungsorgane dienten, und wie viele Lebensformen mit ungeheurer Körperkraft, die gezwungen waren, inmitten von Wesen zu leben, die beträchtlich schwächer waren als sie, bewegte er sich vorsichtig und behutsam. Wie sich Gurronsevas erinnerte, hatten sich die Hudlarer, die der physiologischen Klassifikation FROB angehörten, auf einem Planeten mit großer Schwerkraft, hohem Druck und einer überaus dichten Atmosphäre entwickelt, die einer dickflüssigen Suppe ähnelte. Ihre Körper bedeckte eine Haut, die nur um die Augen herum durchsichtig war und die Widerstandsfähigkeit eines biegsamen Panzers aufwies. Durch sie waren die Hudlarer nicht nur gegen den geradezu brutalen Außendruck geschützt, der in ihrem heimischen Lebensraum herrschte, sondern sie ermöglichte es ihnen auch, bequem in jedem atmosphärischen Druck bis hin zum Vakuum im All zu arbeiten. Die Haut wies weder Nähte noch Körperöffnungen auf, die Sprechmembran diente gleichzeitig als Hörorgan, und die FROBs atmeten nicht. Die Nahrung wurde durch Absorptionsorgane aufgenommen, die den gesamten Rücken und beide Seiten des Körpers überzogen, und die Abfallstoffe schied ein ähnlicher Mechanismus auf der Unterseite aus. Beide Organsysteme standen unter willkürlicher Kontrolle. Befanden sich die Hudlarer nicht auf ihrem Heimatplaneten, mußten sie sich in kurzen Zeitabständen mit einem Nahrungspräparat besprühen, da sie einen hohen Energieverbrauch hatten. Das alltäglichste Problem der Hudlarer bestand im regelmäßig auftretenden Hunger. Wenn sie sich auf ihre Aufgaben oder auf ein interessantes Gespräch konzentrierten oder zu den Sprühgeräten in der Kantine eilten, kam es oft vor, daß sie, sowie ihnen die Nährstoffe ausgingen, auf einer Station oder einem Korridor zusammenbrachen, und sie konnten nicht wiederbelebt werden, bevor man sie nicht von neuem mit dem Nahrungspräparat besprüht hatte. Geschah das unverzüglich, kam es zu keinen schädlichen Nachwirkungen, deshalb wurde ein solcher Zustand auch weniger als medizinischer Notfall, sondern eher als eine hospitalinterne Plage betrachtet. Um die Zahl der Zwischenfälle mit Hudlarern zu verringern, die aus Mangel an Nährstoffen zur falschen Zeit am falschen Ort zusammenbrachen, war jede Station für Sauerstoffatmer im Hospital mit einem Vorrat an hudlarischem Nahrungspräparat zur Verwendung in diesen Nicht-Notfällen versehen. Doch wie Gurronsevas sah, waren die Absorptionsorgane des Hudlarers, der jetzt vor ihm stand, von einer dicken Schicht des Nahrungspräparats überzogen, deshalb konnte sein Problem nichts mit Essen zu tun haben. Es ist immer falsch, voreilige Schlüsse zu ziehen, sagte sich Gurronsevas, als der Hudlarer zu sprechen begann. „Sir“, sagte er, „hier sprechen alle von den Veränderungen, die Sie an der Verpflegung der Chalder, der Illensaner und der Terrestrier vorgenommen haben. Ich, das heißt, wir Hudlarer möchten nicht, daß Sie glauben, wir würden Ihnen nur ein Kompliment machen, um Ihre zukünftigen Maßnahmen zu beeinflussen, denn das Kompliment haben Sie auf jeden Fall verdient, ob Sie nun. Oh, gehen Sie jetzt zum Ladeplatz zwölf? Ich habe dort ebenfalls etwas zu erledigen. Soll ich Ihnen vorausgehen, Sir? Dann wären wir schneller da, weil die anderen Wesen, die die Korridore benutzen, sich ungeachtet etwaiger Unterschiede der medizinischen Dienstgrade bemühen werden, einen Zusammenstoß mit einem Hudlarer zu vermeiden.“ „Einverstanden, Doktor“, willigte Gurronsevas ein. „Aber ich bin mir nicht sicher, ob ich überhaupt etwas für Sie tun kann. Hudlarer sind — na ja, eben Hudlarer. Die Erfahrung, die ich mit der Verköstigung von Gästen Ihrer Spezies gemacht habe, unterscheidet sich nicht von dem, was hier im Hospital passiert, außer daß im Cromingan-Shesk um den Platz, an dem ein Hudlarer sitzt, ein leichter Schutzschirm aufgestellt wird, um in der Nähe sitzende Gäste vor schlecht gezieltem Nahrungspräparat zu schützen. Die Behälter haben wir damals nicht mit selbst zubereitetem Präparat gefüllt, sondern fix und fertig gekauft, und die einzige Aufgabe meines Küchenpersonals bestand darin, für das Herrichten des Sprühgeräts auf einer ordentlich geschmückten Platte zu sorgen. An was für Änderungen hatten Sie denn gedacht, Doktor?“ Fünf Minuten später gingen Gurronsevas und der Hudlarer den Gang entlang, der zum schwerelosen Verbindungsschacht führte und durch den sie ganz in die Nähe des Ladeplatzes zwölf gelangen würden, und noch immer hatte der Hudlarer kein einziges Wort gesprochen. Ob die Sprechmembran des Assistenzarztes aus Enttäuschung oder Schüchternheit reglos blieb, wußte Gurronsevas nicht. Schließlich antwortete der FROB: „Ich weiß es nicht, Sir. Vielleicht vergeude ich nur Ihre Zeit und strapaziere unnötig Ihre Geduld. Das Nahrungspräparat, das wir hier bekommen, ist optimal auf unseren Nährstoffbedarf abgestimmt und in keiner Weise zu bemängeln, doch wenn es in unsere Absorptionsorgane eindringt, hat es überhaupt keinen Geschmack und ist nicht besonders aufregend. Ich will keineswegs das Hospital oder Sie selbst kritisieren, denn wie Sie bereits wissen werden, schmecken alle hudlarischen Nahrungsmittel, die von meinem Heimatplaneten geliefert werden, wie das hier. Bevor die einzelnen Zutaten zum endgültigen Nahrungspräparat emulgiert und suspendiert werden, muß man sie trocknen und von allen Bestandteilen befreien, durch die das Präparat aller Voraussicht nach verderben könnte. Versuche, hudlarische Nahrungsmittel synthetisch herzustellen, sind erfolglos und äußerst unschmackhaft gewesen.“ Nun schwieg zur Abwechslung Gurronsevas. Zwar stand er dem Hudlarer wohlwollend gegenüber, doch hatte er ihm bereits eine Frage gestellt und beabsichtigte nicht, sie zu wiederholen. „Was für Veränderungen — wenn überhaupt — möglich sind, weiß ich nicht“, fuhr der Assistenzarzt schließlich fort. „Alle Hudlarer, die außerhalb unseres Heimatplaneten arbeiten, verwenden das Präparat und haben sich damit abgefunden. Aber wenn wir uns bloß aufs Essen freuen könnten, anstatt dieser tödlichen Langeweile beim Einsprühen entgegenzusehen, dann würden wir nicht so oft an den ungünstigsten Orten zusammenbrechen, da bin ich mir ganz sicher.“ Das schien Gurronsevas einleuchtend zu sein. Sie passierten den Eingang der Steuerungszentrale von Ladeplatz zwölf. Durch die transparente Kuppel konnte Gurronsevas die geöffneten Frachtschleusen des Entladedocks und den Laderaum des vor kurzem eingetroffenen Frachtschiffs sehen. Gerade wurden von den Traktorstrahltechnikern die ersten abgedichteten Container aus dem Schiff gezogen, die zur Bezeichnung von Herkunft und Inhalt mit leuchtenden Farben markiert waren. Um den Entladevorgang zu erleichtern, hatte man sowohl dem Dock als auch dem Laderaum des Schiffs Luft und Schwerkraft entzogen. Für die endgültige Aufstellung der Container war eine Schar von Verladearbeitern verschiedener Spezies zuständig, die rote und gelbe Schutzanzüge trugen. Gurronsevas fand, der ganze Vorgang hatte eine große Ähnlichkeit mit einer Horde von Kindern, die mit überdimensionalen Bauklötzen spielte. „Doktor, inwiefern unterscheidet sich der Geschmack des Präparats von der Nahrung auf Ihrem Heimatplaneten, und wieso besteht da überhaupt ein Unterschied?“ fragte er. Nach besten Kräften bemühte sich der Hudlarer, Gurronsevas das Wieso und Inwiefern in aller Ausführlichkeit zu erklären, und das Bild, das sich nun von dem Lebensraum auf Hudlar vor Gurronsevas’ Augen ausbreitete, war faszinierend und kaum zu glauben. Als Schüler war der Chefdiätist in den Geschichtsstunden, in denen die Planeten der Föderation behandelt wurden, mit den Grundkenntnissen über Hudlar in Berührung gekommen. Doch erst jetzt fing er an, diesen Planeten wie ein einheimischer Bewohner richtig einzuschätzen und zu verstehen. Allerdings enthielt das Wortgemälde des FROBs Lücken, weil dieser von Zeit zu Zeit und oftmals mitten im Satz eine Pause machte, als ob er nicht mit voller Konzentration bei dem wäre, was er sagte. Als Gurronsevas seinem starren Blick folgte, wurde der Grund dafür offensichtlich. „Das Schiff hat eine hudlarische Besatzung“, sagte Gurronsevas, wobei er auf den offenen Laderaum und die Gestalten deutete, die damit beschäftigt waren, Container für das Herausziehen mit dem Traktorstrahl an die richtige Stelle zu schaffen. „Kennen Sie jemanden an Bord?“ „Ja“, antwortete der Assistenzarzt. „Wir sind zusammen aufgewachsen. Eine Freundin der Familie, die zur Zeit dem weiblichen Geschlecht angehört und meine Lebensgefährtin werden soll.“ „Ich verstehe“, sagte Gurronsevas vorsichtig. Beim hudlarischen Fortpflanzungsmechanismus handelte es sich um ein Thema, mit dem zu befassen er kein Bedürfnis verspürt hatte, und in die psychischen Probleme eines liebeskranken Hudlarers wollte er sich auf keinen Fall verwickeln lassen. „Wenn ich Sie richtig verstanden habe“, fuhr er fort, indem er den Themenwechsel einfach überging, „besteht die suppenartige Atmosphäre auf Ihrem Heimatplaneten, aus der Sie die Nährstoffe direkt aufnehmen, aus kleinen, lebenden tierischen und pflanzlichen Organismen, die wegen der heftigen Stürme, die ununterbrochen über Ihren Planeten fegen, ständig in den unteren Schichten der Atmosphäre suspendiert bleiben. Die Giftstoffe, die ebenfalls vorhanden sind, werden von den Geschmacksrezeptoren in Ihren Absorptionsorganen erkannt, da sie eine stechende oder brennende Empfindung verursachen, und werden entweder gar nicht erst aufgenommen oder neutralisiert. Dabei steht die Stärke des Brennens oder Stechens in direktem Verhältnis zum Giftigkeitsgrad. Ist es vielleicht das Fehlen dieser unangenehmen Geschmacksempfindungen, über das Sie sich vor allem beklagen?“ „Genau so ist es, Sir“, bestätigte der Hudlarer prompt. „Der gelegentliche schlechte Geschmack ist — oder wäre — eine Erinnerung an die Heimat und an die Normalität.“ Kurz dachte Gurronsevas nach, dann sagte er: „Die Idee, süß mit sauer oder das Beißende mit dem Milden zu kombinieren, um die Geschmacksempfindung zu steigern, kann ich gut nachvollziehen. Aber offen gesagt, glaube ich nicht, daß man mir vom Hospital aus erlauben würde, in die Speisen einer Spezies absichtlich Giftstoffe hineinzumischen, erst recht nicht, wenn dadurch die übrigen Nahrungsmittel schnell ungenießbar würden.“ Zwar besaß der Hudlarer keine Gesichtszüge, die seine Gefühle hätten widerspiegeln können, doch die harten Muskeln, die die Sprechmembran umgaben, waren langsam schlaff geworden. „Trotzdem bin ich bereit, das Problem ins Auge zu fassen“, fuhr Gurronsevas fort. „Wie kann ich an Proben von diesen mäßig giftigen Stoffen gelangen? Müssen Sie die erst von Hudlar kommen lassen?“ „Nein, Sir“, antwortete der Assistenzarzt schnell, dessen Sprechmembran vor Aufregung wieder straff gespannt war. „Eine große Menge der hudlarischen Atmosphäre ist in das Frachtschiff gelangt, während es auf meinem Heimatplaneten beladen worden ist. Auf dem Freizeitdeck werden Sie noch einen Rest finden. Zwar wird die Atmosphäre inzwischen ziemlich verbraucht sein, doch die ungenießbaren Stoffe, die Sie benötigen, sind bestimmt reichlich vorhanden. Und falls Sie an einem Rundgang durch das Schiff interessiert sein sollten, während Sie die Proben entnehmen, würde ich mich freuen, das für Sie zu arrangieren.“ Gurronsevas fiel die Freundin des hudlarischen Arztes aus der Kindheit ein, die sich noch irgendwo an Bord des Frachters befinden mußte. Daß Sie das freuen würde, glaube ich Ihnen sofort, dachte er. 10. Kapitel Da der hudlarische Assistenzarzt lediglich Magnetscheiben an den Greiforganen und einen Kommunikator in einem mit Luft gefüllten Beutel, der vollständig abdichtend rund um die Sprechmembran angebracht werden mußte, ansonsten aber keinen wie auch immer gearteten Schutz vor der Umgebung benötigte, hatte er diese Ausrüstungsgegenstände sehr schnell angelegt und war lange vor Gurronsevas fertig. Als Hudlarer verfügte er allerdings auch über keine andere Möglichkeit, als durch die an den Tag gelegte Eile seine Ungeduld zum Ausdruck zu bringen. Als Gurronsevas etwas vom Eintreffen eines hudlarischen Frachters an Ladeplatz zwölf zu Ohren gekommen war, hatte er sich entschlossen, einige Zeit damit zu verbringen, den Entladevorgang zu beobachten. Das geschah aus beruflicher Neugier. Er wollte alle Seiten der Nahrungsversorgung, der Lagerung, der Verteilung und der Verarbeitungsanlagen des Hospitals kennenlernen und — falls nötig — in Frage stellen; selbst wenn er die dadurch erworbenen Kenntnisse nie benötigen würde, da er als Chefdiätist über ein hervorragendes Fachpersonal verfügte, das sich um die Versorgung mit Speisen und Getränken sorgte. Doch schon immer hatte er den Grundsatz befolgt, sich in jeder neuen Stellung voll einzusetzen, und er hatte keine Lust, eine lebenslange Gewohnheit zu ändern. Wenige Minuten später tauchte Gurronsevas zusammen mit dem hudlarischen Assistenzarzt, der die Führung übernahm und sich dicht über den Bodenplatten hielt, in das zeitweilige schwerelose Vakuum im gewaltigen Entladedock ein. Dabei wurden sie von den wiederholten Mahnungen begleitet, nicht den Verladearbeitern in den Weg zu kommen oder sich zwischen die Traktorstrahlprojektoren und die ausgeladenen Container zu begeben, die in scheinbar unbekümmertem Tempo bewegt und aufeinandergestapelt wurden. Als sie in die Schleuse selbst hinein wollten, drang eine Stimme aus Gurronsevas’ Kommunikator, die einen dreiminütigen Stopp der Entladearbeiten anordnete, um es zwei Mitgliedern des Hospitalpersonals zu ermöglichen, die Schleuse zu durchschreiten. Die Stimme, aus der Gurronsevas nicht auf die Spezieszugehörigkeit des Sprechers schließen konnte, klang sowohl ungeduldig als auch gebieterisch. Aus der Verlademannschaft löste sich ein fremder Hudlarer, der sich ihnen anschloß. Er verhielt sich höflich und freundlich, und das um so mehr, als der Assistenzarzt ihn über Gurronsevas’ Stellung am Hospital und dessen berufliches Interesse aufklärte, die Qualität des hudlarischen Nahrungspräparats in den Behältern zu verbessern. Dagegen, daß zwei Angehörige des Hospitalpersonals das Schiff besichtigen wollten, gebe es keinerlei Einwände, sagte der fremde Hudlarer, vorausgesetzt, ein Mitglied der Besatzung begleite sie. Im selben Atemzug bot er sich selbst für diese Aufgabe an und führte die beiden Besucher zu der in der Nähe befindlichen Besatzungsschleuse. Genau wie die Chalder nannten oder gebrauchten auch die Hudlarer ihre Namen nicht in der Gegenwart von jemandem, bei dem es sich nicht um einen Familienangehörigen oder einen engen Freund handelte, und dieser FROB hier hatte nicht einmal seinen Dienstgrad, seine Aufgaben oder seine Erkennungsnummer verraten. Folglich hatte Gurronsevas keine Ahnung, mit wem er es zu tun hatte. Nach der selbstbewußten Sprechweise des Hudlarers zu urteilen, die dieser anschlug, als er die Nahrungsaufnahmemechanismen seiner Spezies erörterte, handelte es sich bei ihm möglicherweise um den Bordarzt oder medizinischen Offizier des Schiffs. Ob es sich bei ihm oder ihr sogar um die hudlarische Freundin handelte, auf deren Ankunft der Assistenzarzt so sehnsüchtig gewartet hatte, wußte Gurronsevas ebenfalls nicht. Hudlarer standen im Ruf, äußerst zurückhaltend zu sein, zumindest in der Öffentlichkeit. „Sind Ihnen die Einstellungen der Schwerkraft und des Außendrucks einigermaßen angenehm?“ erkundigte sich der fremde Hudlarer, als sie das Mannschaftsquartier betraten. Er betrachtete Gurronsevas’ Schutzanzug, dessen elastische Teile fest gegen den Körper gepreßt waren. Hudlarer konnten zwar lange Zeit ohne Luft und Schwerkraft leben und arbeiten, doch wann immer es möglich war, zogen sie die von zu Hause gewohnten Bequemlichkeiten hoher Gravitation und großen atmosphärischen Drucks vor. „Ziemlich angenehm“, antwortete Gurronsevas. „Im Grunde kommen diese Umweltbedingungen denen auf meinem Heimatplaneten viel näher als die normale terrestrische Anziehungskraft von einem Ge, die im Hospital aufrechterhalten wird. Doch meinen Anzug werde ich lieber nicht öffnen, falls es Ihnen nichts ausmacht. Zwar ist Ihre Atmosphäre sauerstoffhaltig genug, um für mich nicht tödlich zu sein, aber sie enthält auch andere Bestandteile, von denen einige vielleicht noch am Leben sind, und die könnten mir Atembeschwerden verursachen.“ „Es macht uns nichts aus, wenn Sie Ihren Anzug geschlossen lassen“, sagte der fremde Hudlarer. „Auf dem Freizeitdeck werden Sie übrigens noch mehr von diesen Bestandteilen vorfinden. Dort können Sie auch die besten Proben der ungenießbaren Stoffe entnehmen. Möchten Sie sonst noch etwas besichtigen?“ „Ja, alles“, entgegnete Gurronsevas. „Aber vor allem den Essensbereich und die Küchen.“ „Das überrascht mich nicht, Chefdiätist“, sagte der Hudlarer, wobei er einen unübersetzbaren Laut ausstieß. „Sind Sie mit dem Aufbau dieser Schiffe vertraut?“ „Nur als Passagier“, antwortete Gurronsevas. „Als Passagier werden Sie ja bereits wissen, daß die meisten Raumschiffe der Föderation auf Nidia, auf der Erde und auf Ihrem schwerkraftträchtigen Heimatplaneten Traltha gebaut werden, weil diese drei Kulturen die zuverlässigsten Schiffe herstellen“, fuhr der Hudlarer fort. „Obwohl die Steuerungs- und Lebenserhaltungssysteme und die Mannschaftsunterkünfte an allen Produktionsorten speziell auf die Spezies der Benutzer abgestimmt werden, sind die tralthanischen Schiffe sowohl bei den kommerziellen Schiffsführern als auch beim Monitorkorps selbst am beliebtesten.“ „Das Korps behauptet sogar, daß selbst die tralthanischen Planierraupen von Uhrmachern zusammengesetzt worden sein müssen“, schloß sich Gurronsevas der Würdigung des tralthanischen Schiffsbaus voller Stolz an. Der Hudlarer schwieg einen Moment. „Stimmt. Doch ich möchte Sie keineswegs beleidigen, indem ich Ihnen ein geringes Allgemeinwissen unterstelle. Ich will Ihnen nur sagen, daß wir uns hier auf einem robusten Schiff befinden, das nach hudlarischen Vorgaben auf Traltha gebaut worden ist. Also können Sie sich getrost entspannen und sich trotz Ihres alles anderen als unbeträchtlichen Gewichts an Bord nach Lust und Laune frei bewegen, da unsere Anlagen und Ausrüstungsgegenstände gegen versehentliche Beschädigungen unanfällig sind.“ „Das freut mich zu hören“, antwortete Gurronsevas erleichtert und stampfte anerkennend abwechselnd mit seinen sechs schweren Füßen auf, und zwar mit einer Wucht, durch die er den Boden im Orbit Hospital stark eingebeult hätte. „Danke.“ Während er den beiden Hudlarern zum Kommandodeck folgte, dachte er, daß die Beleuchtung ein wenig schwächer als auf seinem Heimatplaneten war und durch irgendeine gallertartige Suspension in der Atmosphäre noch weiter verschlechtert wurde, die sich als grauer Film auf seinem Visier niederschlug, das er alle paar Minuten sauberwischen mußte. Im Gegensatz zu ihm fühlten sich die beiden Hudlarer offensichtlich nicht durch diese Schmutzpartikel gestört. An den Anlagen und Displays auf dem Kommandodeck zeigte Gurronsevas nur höfliches Interesse, am Bildschirm, auf dem die Entladearbeiten aus dem Blickwinkel des Frachters zu sehen waren, blieb er jedoch länger stehen. Wie ihm das hudlarische Besatzungsmitglied erklärte, wurde die Nährstoffsubstanz für die Synthesizer im Abschnitt der warmblütigen Sauerstoffarmer als erstes entladen, da sie unanfällig gegen Schäden oder chemische Veränderungen durch grobe Handhabung war. Die Substanz für Illensaner und die Behälter mit dem komprimierten Nahrungspräparat für Hudlarer mußten dagegen sanfter behandelt werden. Darum wurden sie nicht von den Traktorstrahltechnikern herumgeworfen, sondern von spezialisierten Verladeteams per Hand oder auf G-Schlitten zum jeweiligen Lagerraum transportiert. Sobald im Laderaum des Frachters und auf dem luftleeren Ladeplatz der normale atmosphärische Druck wiederhergestellt war, würden die internen Transporttrupps, die ohne Raumanzüge arbeiteten, zu den übrigen Verladearbeitern stoßen. Diesen Vorgang konnten Gurronsevas und die beiden Hudlarer schließlich auf dem Bildschirm verfolgen, doch angesichts des Volumens, über das das Entladedock und der Laderaum des Frachters zusammengenommen verfügten, stieg der atmosphärische Druck nur langsam an, so daß gerade genug Zeit bleiben würde, um die weniger zerbrechlichen Frachtstücke zu löschen. „Das Schiff hat von allen drei Nahrungssorten genügend geladen, um die Versorgung des Hospitals für ein viertel Einheitsjahr zu sichern“, erklärte der fremde Hudlarer weiter. „Für die Nahrungsversorgung der ausgefalleneren Lebensformen, wie diesen TLTU-Diagnostiker hier am Hospital, der heißen Dampf atmet und wer weiß was ißt, oder die VTXMs von Telfi, die von direkter Strahlenumwandlung leben, sind wir nicht verantwortlich. Und Sie, hoffe ich, auch nicht.“ „Nein“, antwortete Gurronsevas. „Wenigstens bis jetzt noch nicht.“ Nach seinem ersten Eindruck ähnelte der Essensbereich auf dem Schiff noch am ehesten dem gemeinschaftlichen Duschraum einer fremden Spezies, falls man ihn überhaupt mit etwas vergleichen konnte. Der kleine Speisesaal bot bis zu zwanzig Hudlarern gleichzeitig Platz, wenngleich der Raum gerade von nur fünf Besatzungsmitgliedern betreten wurde, als Gurronsevas und seine beiden Begleiter eintrafen. Anstatt sich der Unannehmlichkeit auszusetzen, sich seinen Schutzanzug und Helm von einer Schicht aus hudlarischem Nahrungspräparat verschmutzen zu lassen, riet man ihm, lieber draußen zu bleiben und die Vorgänge vom Gang aus durch ein Sichtfenster zu verfolgen. Seine beiden Begleiter, deren gut bedeckte Absorptionsorgane bewiesen, daß sie erst vor kurzem gegessen hatten, leisteten ihm Gesellschaft. Die übrigen Hudlarer eilten in den Raum, und der letzte schaltete die Anlage an. Sofort begannen die Sprühköpfe, die in engen Abständen an den Wänden und der Decke angebracht waren, mit hohem Druck Nahrungspräparat in den Raum zu pumpen, bis dieser mit dichtem Nebel gefüllt war. Gleich darauf sprangen in den Wänden verborgene Gebläse an, peitschten die dichte Atmosphäre im Raum zu einem Sturm auf und hielten die Nahrungspartikel auf diese Weise in der Schwebe. „Zwar ist das Präparat mit dem, das am Hospital und auf allen hudlarischen Schiffen und Raumunterkünften verwandt wird, identisch“, erklärte der fremde Hudlarer, „aber die heftige Luftbewegung im Speiseraum weist eine große Ähnlichkeit mit den ständigen Stürmen auf unserem Heimatplaneten auf, wodurch man sich beim Essen fast wie zu Hause fühlt und es einem vielleicht sogar ein wenig besser schmeckt. Wie Sie gleich sehen werden, erinnert das Freizeitdeck noch stärker an die Heimat, da dort jedoch keine Nahrungspartikel herumschwirren, können Sie sich dort auch ohne Probleme bewegen.“ Weil sich die übrigen Besatzungsmitglieder entweder im Speiseraum aufhielten oder die Fracht löschten, wurde das Freizeitdeck momentan nicht genutzt. Durch das Licht, das hier noch gedämpfter als auf dem Gang war, konnte Gurronsevas gerade noch die Einzelheiten von Trainingsgeräten, abgeschalteten Bildschirmen zum Lesen und zur Unterhaltung und Gebilde mit harten, unregelmäßigen Formen ausmachen, bei denen es sich womöglich um Skulpturen handelte. Da die Hudlarer wegen ihrer zähen Haut keine weichen Sitzgelegenheiten zum Entspannen brauchten, waren keine gepolsterten Liegen vorhanden. Aus einer straff gespannten, runden Membran, die in die Decke eingelassen war, drang ein Pfeifen und Jammern, das, wie man Gurronsevas erklärte, hudlarische Musik zur Entspannung darstellte, die jedoch einen fast aussichtslosen Kampf gegen das laute Heulen und Zischen des künstlichen Winds führte, der durch den Raum fegte. Einige der Böen waren gelegentlich derartig heftig, daß sie Gurronsevas von den sechs weit gespreizten tralthanischen Beinen zu blasen drohten. „Gegen meinen Anzug und das Visier klatschen dauernd irgendwelche kleinen Gegenstände, von denen sogar einige zu leben scheinen“, rief er über den Lärm hinweg. „Das sind vom Wind getragene Insekten mit Stacheln, die auf unserem Planeten heimisch sind und normalerweise im Boden leben“, klärte ihn der fremde Hudlarer auf. „Die geringen Mengen Giftstoffe, die die Stacheln absondern, reizen kurz unsere Absorptionsorgane, ansonsten sind sie wirkungslos. Für eine Spezies wie die Ihre, die über einen gut entwickelten Geruchssinn verfügt, entspricht die von den Insekten erfüllte Funktion der von scharf riechenden Duftpflanzen oder Gewürzen. Wie viele Tiere brauchen Sie?“ „Ein paar von jeder Art, falls es mehr als jeweils eins gibt“, antwortete Gurronsevas. „Am liebsten wären mir Insekten mit unversehrten Stacheln und Giftdrüsen. Ist das möglich?“ „Selbstverständlich“, bestätigte der Hudlarer. „Öffnen Sie einfach Ihre Probenflasche, und verschließen Sie sie wieder, wenn genügend Insekten hineingeblasen worden sind.“ Gurronsevas hatte bereits mit dem Gedanken gespielt, in der Hauptkantine des Hospitals einen Bereich für die ausschließliche Nutzung durch Hudlarer abzuteilen und dort Windmaschinen aufzustellen und einen kleinen Schwärm einheimischer Insekten auszusetzen, um den FROBs die Umgebung, in der sie ihre Mahlzeit einnahmen, angenehmer zu gestalten, doch diese Idee mußte er fallenlassen. Die Insekten, die gegen seinen Anzug geblasen wurden, versuchten mit großer Hartnäckigkeit, ihn durch den Anzugstoff zu beißen und zu stechen, und der Gedanke an das Chaos, das sie unter den ungeschützten Kantinenbesuchern anrichten könnten, falls sie aus dem abgeschlossenen Bereich der Hudlarer entkamen, war zu schrecklich, um die Sache ernsthaft ins Auge zu fassen. Gurronsevas kam zu dem Schluß, daß es sich bei dem Einsprühen mit dem Nahrungspräparat aus den Behältern um eine einfache und sehr bewährte Methode der Nahrungsaufnahme handelte, auch wenn das Präparat selbst vom Geschmack her an nichts erinnerte, was es auf Hudlar gab. Während die beiden FROBs weiterhin die Empfindungen beschrieben, die die Insekten verursachten, wenn sie über die äußeren Schichten der Absorptionsorgane herfielen, bemerkte Gurronsevas, daß ihre Gliedmaßen von einem leichten, periodischen Zittern ergriffen wurden. Wie er wußte, war dieser Zustand nicht auf Nahrungsmangel zurückzuführen, da sich die beiden erst vor kurzem eingesprüht hatten, und falls es sich um ein medizinisches Problem handelte, hätte es der Assistenzarzt erwähnt. Doch gab es nicht noch eine andere Möglichkeit? Abgesehen von Gurronsevas’ Anwesenheit, der einer anderen Spezies angehörte und folglich in sexueller Hinsicht keine Rolle spielte, waren die beiden FROBs jetzt seit fast zwei Stunden allein auf dem Freizeitdeck. Ob ihre Spezies für das, was die beiden womöglich vorhatten, ungestört sein mußte, wußte er zwar nicht, doch hegte er keinerlei Absicht, das herauszufinden. „Ich danke Ihnen beiden“, sagte er deshalb schnell. „Ihre Auskünfte sind sehr interessant gewesen und werden sich bei der Lösung Ihres Problems vielleicht als nützlich erweisen, obwohl ich im Moment noch nicht weiß, wie. Doch ich darf Ihre Freundlichkeit nicht länger mißbrauchen und werde Sie deshalb jetzt gleich verlassen. Danke, das schaffe ich schon alleine“, sagte er, als der fremde Hudlarer zum Ausgang gehen wollte. „Ich verfüge über einen sehr guten Orientierungssinn, darum ist es nicht nötig, daß Sie mich begleiten.“ Als er sich zum Gehen wandte, herrschte einen Augenblick lang Schweigen; dann sagte der Assistenzarzt: „Danke.“ „Das ist sehr rücksichtsvoll von Ihnen“, fügte seine Freundin hinzu. Seit Gurronsevas’ erstem Arbeitstag am Orbit Hospital war für ihn die Betätigung der in der Föderation einheitlichen Bedienungselemente der Luftschleusen reine Routine geworden, genauso wie die Überprüfung des Schutzanzugs vor dem Überwechseln in eine andere Umweltbedingung. Als sich die Außenluke öffnete, befand sich nach den Anzeigen in seinem Helm nur noch Luft für eine halbe Stunde in den Sauerstoffflaschen. Auch der Treibstoff für die Anzugdüsen wurde allmählich knapp, doch das war unwichtig, weil Gurronsevas wegen der Schwerelosigkeit mit einem Satz bis zur Frachtschleuse springen konnte und die Düsen nur für eventuelle geringfügige Kurskorrekturen zünden mußte. Während der Schiffsbesichtigung hatte sich der gewaltige Laderaum des Frachters fast vollständig geleert, doch als Gurronsevas den Kommunikator anschaltete, hörte er immer noch denselben ununterbrochenen Schwall von Anweisungen an die Verladearbeiter und Traktorstrahltechniker. Die Fracht, die wie ein nicht abreißender Strom durch die Schleuse floß, bestand mittlerweile aus Paketen mit zwei Lagen zu je hundert hudlarischen Sprühdosen, zwischen denen hie und da Reihen der leuchtend gelben und grünen, unter hohem Druck stehenden Behälter dahinflogen, in denen sich der giftige, auf Chlor basierende Brei befand, den man für die illensanischen Nahrungssynthesizer benötigte. Als sich die Außenluke der Besatzungsschleuse hinter ihm schloß, setzte Gurronsevas die sechs Füße vorsichtig auf die Wand des Schiffsladeraums, wartete, bis in der schnell dahinziehenden Kette aus Ladungsstücken, die an ihm vorbeibrausten, eine Lücke entstand, und sprang auf die Frachtschleuse zu. Sofort war ihm klar, daß er zwei äußerst schwerwiegende Fehler gemacht hatte. In den vergangenen zwei Stunden hatten sich Gurronsevas und seine Beinmuskeln von der Schwerelosigkeit auf dem Ladeplatz im Hospital auf die fünf G umgestellt, die auf dem hudlarischen Schiff herrschten. Deshalb war er eben mit viel zu viel Kraft von der Wand abgesprungen. Er flog in die falsche Richtung, drehte sich langsam um die eigene Achse und war dabei viel zu schnell. „Verdammt noch mal, was machen Sie da?!“ rief eine wütende Stimme aus seinem Kopfhörer. „Kehren Sie sofort auf den Boden zurück!“ … und er hatte vergessen, die Traktorstrahltechniker, die ihn beim Absprung wegen der eingeschränkten Sicht durch die Frachtschleuse hindurch nicht hatten sehen können, über seine Absicht zu unterrichten, ins Hospital zurückzukehren. Schnell zündete er die Anzugdüsen, verschätzte sich aber wieder und sah sich auf einen der illensanischen Behälter zuschlingern. „Traktorstrahltechniker drei!“ meldete sich die Stimme erneut. „Ziehen Sie den verdammten Tralthaner da raus!“ Plötzlich spürte Gurronsevas den heftigen Ruck des unsichtbaren Traktorstrahls, der ihn jedoch nicht in der Mitte traf, sondern nur am Oberkörper zog und seine Drehbewegung dadurch stark beschleunigte. „Geht nicht“, ertönte eine andere Stimme. „Er benutzt immer noch die Anzugdüsen. Halten Sie doch an, verdammt noch mal, damit ich Sie mit dem Strahl erfassen kann!“ Aber Gurronsevas hatte keineswegs die Absicht anzuhalten. Von hinten rauschte ein illensanischer Nahrungsbehälter auf ihn zu, der kurz vom Traktorstrahl berührt wurde. Gurronsevas ließ die Düsen mit voller Leistung brennen, ohne sich darum zu kümmern, in welche Richtung er flog, solange er einen Zusammenstoß mit dieser dahinrasenden Chlorbombe vermied. Einen Sekundenbruchteil später krachte er in ein Paket mit zweihundert hudlarischen Sprühdosen. Trotz der Schwerelosigkeit im Laderaum waren Masse und Trägheit eines sich drehenden tralthanischen Körpers beträchtlich. Gleiches galt für die Sprühdosen, von denen mehrere aufplatzten, so daß sich mit einer sanften Explosion ein riesiger Schwall von Nahrungspräparat ergoß, durch den die übrigen Dosen auseinanderstoben und dem illensanischen Behälter in den Weg trieben. Die schartige Kante einer aufgebrochenen Sprühdose mußte ihn aufgeschlitzt haben, denn es kam zu einer weiteren, heftigeren Druckentladung, und als die Bestandteile der hudlarischen und der illensanischen Nahrung chemisch miteinander reagierten, entstand eine sich rasch ausdehnende Wolke aus gelbbraunem, zischendem, heißem Gas, die auf die geöffnete Frachtschleuse zuzutreiben begann. „Alle Traktorstrahlen zum Schiff unterbrechen!“ rief die Stimme in eindringlichem Ton. „Durch dieses Zeug können wir nicht das Geringste sehen.!“ Noch immer flogen die Frachtstücke in ununterbrochener Reihe an Gurronsevas vorbei in die undurchsichtige Wolke rund um die Frachtschleuse hinein und durch sie hindurch, allerdings nicht alle. Einige stießen gegen die Kante der Schleuse und platzten mit derartiger Wucht auf, daß sie nachfolgende Pakete aus der Bahn warfen. Der Lärm, den die Zusammenstöße und Druckentladungen verursachten, riß nicht ab, und die Giftwolke schwoll rapide an, wobei dicke, längliche, gelbbraune Klumpen aus ihr herausschössen und sie innerhalb weniger Minuten die gesamte Frachtschleuse zu verschlingen drohte. Zwar konnten Hudlarer sowohl in den Umweltbedingungen der meisten Planeten der Föderation als auch im Vakuum überleben, doch der Kontakt mit Chlor bedeutete für sie den augenblicklichen Tod. Irgendwo heulte plötzlich eine Sirene los, deren kurze, eindringliche Signale die ständig wiederholten Worte einer neuen Stimme bekräftigten: „Giftalarm! Schwere Chlor-Sauerstoff-Reaktion auf Ladeplatz zwölf! Entgiftungstrupps zwei bis fünf sofort zu Ladeplatz zwölf…“ „Dringender Aufruf an alle hudlarischen Verladearbeiter!“ ertönte wieder die erste, gebieterische Stimme. „Räumen Sie unverzüglich den Schiffsladeraum, und suchen Sie Schutz im.“ „Hier diensthabender Offizier der Trivennleth“, fiel ihm eine neue Stimme ins Wort. „Wir können nicht alle rechtzeitig hereinholen. Nicht mal ein Viertel der Arbeiter wird sich in Sicherheit bringen können. Schlage vor, die Luftschleusen zum Laderaum zu öffnen und das Schiff loszureißen. Dazu sollte man jedoch nicht den Hauptantrieb zünden, sondern mit den Bugtriebwerken an Backbord maximalen Seitenschub geben, um das Schiff um neunzig Grad zu drehen und die strukturellen Schäden am Hospital so gering wie möglich zu halten.“ „Machen Sie das, Trivennleth!“ rief die erste Stimme. „An alle Arbeiter im Laderaum! Verschließen Sie wieder die Anzüge und halten Sie sich an etwas Stabilem fest. Es wird gleich zu einer massiven Druckverminderung kommen.“ Als die seitlichen Bugtriebwerke des Frachters Schub gaben, um ihn von der Schleuse loszureißen, konnte Gurronsevas über das Kreischen der Sirene hinweg rings um die Frachtschleuse ein starkes metallisches Knirschen und Ächzen hören. Plötzlich entwich durch den nun entstehenden Spalt zwischen Frachtschleuse und Schiffsladeraum unter hohem Pfeifen Luft, die man durch die Besatzungsschleusen in den Laderaum gelassen hatte und die die Gasschwaden, von denen die Sicht getrübt wurde, mit sich fortriß. Dadurch wurde auf der rechten Seite, wo die Dichtungen zwischen Laderaum und Frachtschleuse auseinandergezogen worden waren, ein dunkler, sich weitender halbmondförmiger Spalt sichtbar. Kurz darauf spürte Gurronsevas, wie er zusammen mit den anderen losen Frachtstücken von diesem Spalt angesogen wurde. Für einen Sekundenbruchteil kam es ihm so vor, als würden sämtliche Behälter und Sprühdosen in der Nähe gegen ihn prallen und ihm den Anzug von oben bis unten mit Nahrungsmitteln bespritzen. Dann befand er sich plötzlich außerhalb des Laderaums, und die Frachtstücke trieben von ihm weg. Wie Gurronsevas wußte, hätte er den Vorfall nicht überlebt, wenn er einen schweren Anzug getragen hätte. Doch dank der Elastizität war der leichte Schutzanzug unversehrt geblieben, obwohl man von seinem Träger nicht das gleiche behaupten konnte. Gurronsevas’ linke Seite und das mittlere und hintere linke Bein fühlten sich an, als ob er sich dort furchtbare Prellungen zugezogen hätte. Um sich von den Schmerzen abzulenken, richtete er die Augen auf die wenigen Stellen des durchsichtigen Helms, die nicht vom Nahrungspräparat verschmiert waren, damit er die Vorgänge verfolgen konnte, während er auf Hilfe wartete. Als der Frachter zur Seite geschwenkt war und sich auf diese Weise losgerissen hatte, waren die vorspringenden Teile der Frachtschleuse von Ladeplatz zwölf ein wenig verbogen worden, doch die Schleuse selbst stand noch immer offen, und ein Dunstkegel aus entwichener Luft — gemischt mit ungesicherten Frachtstücken, die gegeneinander stießen und platzten — ragte aus ihr hervor. Die Trivennleth hatte sich um neunzig Grad nach Steuerbord gedreht und lag jetzt parallel zur Außenhaut des Hospitals. Der Schiffsladeraum wies nur einen Bruchteil des Volumens vom Ladeplatz auf und mußte inzwischen luftleer sein, denn an seiner Schleuse waren weder Spuren von Nebel noch von herausfliegender Fracht zu sehen. Der diensthabende Offizier an Bord hatte entschlossen und geschickt gehandelt, dachte Gurronsevas und fragte sich, warum während des Notfalls nicht der Captain das Kommando übernommen hatte. Er zog gerade die Möglichkeit in Betracht, daß es sich beim kommandierenden Offizier um den FROB handelte, den er zusammen mit dem hudlarischen Assistenzarzt auf dem Freizeitdeck zurückgelassen hatte, als er sich einer Stimme im Kopfhörer bewußt wurde, die über ihn sprach. „…und wo ist dieser dämliche Tralthaner?“ fragte sie wütend. „Die Besatzung der Trivennleth befindet sich wohlbehalten im Vakuum im Laderaum, keine Verletzten. Das gleiche gilt für die sauerstoffatmenden Verladearbeiter. Chefdiätist Gurronsevas, bitte melden Sie sich! Falls Sie noch leben, antworten Sie, verdammt noch mal.“ Erst in diesem Moment stellte Gurronsevas fest, daß sein Anzug doch nicht ganz ohne Schaden davongekommen war. Das Sendelämpchen des Kommunikators wollte nicht aufleuchten. Allmählich wurde nicht nur der Luftvorrat gefährlich knapp, auch seine Hilferufe konnten von niemandem gehört werden. 11. Kapitel Es kann doch wohl nicht wahr sein, daß der bedeutendste Vertreter der Kochkunst vieler verschiedener Spezies in der Föderation sein Leben durch den Erstickungstod in einem von hudlarischem Nahrungspräparat überzogenen Raumanzug beenden soll, fluchte Gurronsevas in sich hinein. Wie subtil die Art seines Todes auch in Worte gefaßt werden mochte, als Schlüßeintrag unter einem beruflich bemerkenswerten Leben wäre sie auf jeden Fall ungerecht, unpassend und würdelos gewesen. Über den Abschiedsgruß, den einige seiner weniger ernsthaften Kollegen auf die für ihn errichtete Gedenksäule schreiben würden, konnte er nur vage Vermutungen anstellen, doch bis jetzt war er viel zu wütend und bestürzt, um wirklich Angst zu haben. Es mußte irgendeine Möglichkeit geben, seine mißliche Lage anders als über Funk zu verstehen zu geben. Doch die Stimmen, die er über den Empfänger hörte, der im Gegensatz zu der dämlichen Sendeeinheit einwandfrei funktionierte, behaupteten das Gegenteil. „Gurronsevas, bitte melden!“ forderte ihn eine der Stimmen auf. „Falls Sie mich hören, aber nicht antworten können, feuern Sie Ihr Notleuchtsignal ab. Immer noch keine Antwort, Sir.“ „Sie vergessen, daß er einen Hospitalanzug trägt, der nur für das Gebäudeinnere bestimmt ist“, gab eine zweite Stimme zu bedenken. „Der ist nicht mit Leuchtsignalen versehen. Und Gurronsevas hatte keinen Grund, eins einzustecken, weil er nicht damit gerechnet hat, das verdammte Hospital zu verlassen! Aber dafür ist er mit Kurzzeitdüsen ausgerüstet. Wie ein Tralthaner aussieht, wissen Sie ja, also halten Sie nach ihm Ausschau. Da er über Anzugdüsen verfügt, wird er sich unabhängig von der allgemeinen Richtung bewegen, in die die Ladung treibt, und versuchen, zur Frachtschleuse zurückzukehren — das heißt, falls er unverletzt und bei Bewußtsein ist.“ „Oder noch lebt.“ „Ja.“ Gurronsevas versuchte, die pessimistische Wendung, die das Gespräch genommen hatte, gar nicht zu beachten, und konzentrierte sich statt dessen lieber auf den nützlichen Rat, den es enthalten hatte. Eindrucksvoll umkreiste ihn die endlose Metallandschaft, die aus dem Hospitalgebäude, der stumpfen Torpedoform des Frachters und der Wolke aus zerstreuten Frachtstücken bestand, aus denen zum Teil immer noch ein dichter Nebel aus Chlor oder Nahrungspräparat strömte oder sprühte. Wie die erste Stimme zu verstehen gegeben hatte, sollte er damit beginnen, sich unabhängig von den Gegenständen zu bewegen, die ihn umgaben. Doch zuerst mußte er die Düsen zünden, um die Drehbewegung zu stoppen. Wegen seiner kaum vorhandenen Erfahrung im Manövrieren mit den Anzugdüsen brauchte er nicht nur mehrere Minuten, bis er sich nicht mehr drehte, sondern vergeudete obendrein eine beträchtliche Menge Treibstoff, der den Anzeigen zufolge ohnehin schon gefährlich knapp gewesen war. Nach seiner Schätzung stand ihm bestenfalls noch genügend Schub zur Verfügung, um sich langsam ein paar Minuten lang über eine Entfernung von einigen hundert Metern fortzubewegen, und die Geschwindigkeit würde zum Schluß weit hinter der zurückbleiben, die er brauchte, um sich aus der ausbreitenden Wolke aus Ladungstrümmern zu lösen, und ihn erst recht nicht zum Ladeplatz zurückbringen, bevor ihm die Luft ausging. Zwar waren die Stimmen im Kopfhörer ganz seiner Meinung, doch ansonsten hatten sie nichts Hilfreiches beizusteuern. „…außerdem haben wir das Anzugverzeichnis überprüft, Sir“, sagte gerade jemand. „Demnach ist kürzlich, vor einer knappen halben oder Dreiviertelstunde, ein Schutzanzug für Tralthaner samt Luftvorrat für drei Stunden und einem Standarddüsenaggregat entnommen worden. Wenn Gurronsevas die Düsen während der Besichtigung des hudlarischen Schiffs gezündet und den Anzug die ganze Zeit nicht geöffnet hat, wird er vielleicht nicht mehr weit kommen oder noch sehr viel länger atmen können. Rettungs- und Bergungstrupps machen sich schon bereit, aber wo sollen wir die nach ihm suchen lassen?“ „Angenommen, er verbraucht den restlichen Schub, um sich schnell zu drehen“, sagte eine andere Stimme. „Dadurch wäre es uns möglich, einen rasch rotierenden Körper von der ungefähren Masse eines Tralthaners mit optischen Mitteln zu orten und ihn.“ „Ich weiß nicht, Sir“, unterbrach sie die erste Stimme. „Auch einige von diesen Frachtstücken sind groß, weisen etwa die gleiche Masse auf und bewegen sich in ähnlicher Weise. Falls Gurronsevas das Pech gehabt hat, zwischen zwei zusammenstoßenden Frachtstücken eingeklemmt zu werden, dann hat er vielleicht nicht mehr viel Ähnlichkeit mit einem Tralthaner.“ „Befestigen Sie einen Traktorstrahlprojektor an der Außenhaut“, ordnete die zweite Stimme rasch an. „Setzen Sie den Strahl zusammen mit der Rettungsmannschaft ein, die sich verteilen soll, um die Trümmerwolke in einem Rutsch abzusuchen. Falls irgendwer etwas entdeckt, das wie unser verirrter Tralthaner aussieht, ziehen Sie es mit dem Strahl ins Hospital.“ „Traktorstrahlprojektoren sind nicht gerade transportabel, Sir“, wandte die erste Stimme ein. „Wir werden einige Zeit brauchen, um ihn in der richtigen Position festzuklemmen, und auch die Nachjustierung der.“ „Ich weiß, ich weiß. Erledigen Sie es einfach so schnell wie möglich.“ Durch die wenigen klaren Stellen im Helm sah Gurronsevas, daß sich seine Lage in bezug auf das Hospital stabilisiert hatte, denn die Frachtschleuse des Ladeplatzes, die durch die Entfernung zu einem kleinen, hell erleuchteten Quadrat zusammengeschrumpft war, kreiste nicht mehr um ihn herum. Durch die Schleuse schafften winzige terrestrische Gestalten ein Gerät, wahrscheinlich den Traktorstrahlprojektor, auf die Außenhaut. Wenige Sekunden später kamen die ersten Mitglieder der Rettungsmannschaft in düsengetriebenen Anzügen herausgeschossen, um sich über die zugeteilten Suchgebiete zu verteilen. Keiner von ihnen stürzte direkt auf Gurronsevas zu, der seinerseits ins Unglück stürzte. Immer noch breitete sich die Trümmerwolke rings um ihn aus und zog sich dabei auseinander, und der dichte Nebel aus Nahrungspräparat und Chlor löste sich zu einem etwas weniger undurchdringlichen Dunst auf, außer an einer Stelle in der Nähe, wo ein hudlarischer Sprühbehälter mit irgend etwas zusammengeprallt war, das den Sprühkopf abgerissen und den Behälter zum Drehen gebracht hatte. Nun spritzte während der Rotation der Inhalt in einem dünnen Strahl mit hohem Druck aus dem Behälter, so daß dieser von einer sich ständig erweiternden Spirale aus Nahrungspräparat umgeben war. Doch Gurronsevas war ihm zu nah und bewegte sich zu schnell, um den hellen, unwirklichen Nebelringen mit Hilfe der Düsen zu entkommen, und konnte nur die Arme um den Kopf schlingen, um die verbliebenen durchsichtigen Stellen des Helms zu schützen. Kurz bevor er den Außenrand der hellen, unwirklichen Spirale erreichte, hätte Gurronsevas fast glauben können, er nähere sich dem Staub im äquatorialen Orbit eines gewaltigen Planeten mit Ringsystem und dringe in ihn ein. Wenigstens ist mein Lebensende von einigen ungewöhnlichen und interessanten Erlebnissen begleitet, dachte er. Als er durch die Nebelringe hindurchgeflogen war, ohne daß sich die Sicht durch den Helm verschlechtert hatte, war er äußerst zufrieden. Jenseits der Ringe, etwa fünfzig Meter voraus, entdeckte er einen anderen Gegenstand, und zwar ein großes, anscheinend unbeschädigtes Paket mit hudlarischen Sprühbehältern, das sich im Verhältnis zu ihm selbst weder drehte noch fortbewegte. Folglich stellte es keine Bedrohung dar. Die Rettungsmannschaft schwärmte jetzt weit aus, doch keine der Stimmen meldete, Gurronsevas erspäht zu haben, und der Tralthaner selbst konnte nur eins der Mitglieder durch den Nebel sehen. Als er sich gerade fragte, ob er die Arme schwenken sollte, um zu versuchen, die Aufmerksamkeit dieses einzelnen Terrestriers auf sich zu lenken, fiel ihm wieder der rotierende Behälter mit dem Nahrungspräparat ins Auge, der die Ringe erzeugte. Bevor mein Leben zu Ende geht, habe ich ja vielleicht noch Zeit für ein paar weitere interessante Erlebnisse, dachte Gurronsevas mit zaghaft aufkeimender Hoffnung. Das unbeschädigte Paket mit hudlarischen Sprühbehältern schwebte ganz in der Nähe. Gurronsevas zündete die Anzugdüsen, um an das Paket heranzukommen. Trotz der Sauerstoffknappheit und der dringend gebotenen Eile flog er mit sehr geringer Leistung, um nur sanft gegen das Paket zu stoßen, damit es sich nicht zu drehen begann oder die Behälter mit dem hudlarischen Nahrungspräparat beschädigt wurden, die dicht an dicht wie ein riesiger Teppich aus Eiern zusammengepackt waren, der jetzt langsam aufstieg, um ihn aufzunehmen. Behutsam landete Gurronsevas darauf und bewegte sich mit größter Vorsicht so nahe zur Mitte der Schicht aus Behältern, wie es sein plumper Körperbau zuließ. Da man den hudlarischen Frachter in der Schwerelosigkeit des Orbits beladen hatte und beim Sprung durch den Hyperraum zum Hospital ebenfalls keine Gravitation aufgetreten war, wurde das aus zwei Lagen Behältern bestehende Paket nicht durch einen festen Container, sondern durch ein straff gespanntes, offenmaschiges Netz zusammengehalten. Darum konnte er zwischen den langen, dicht gepackten Zylindern hindurch zur gegenüberliegenden Seite des Pakets und dahinter bis zur Außenhaut des Hospitals sehen. Indem er durch den Spalt zwischen den Behältern blickte, die seinem Helm am nächsten waren, machte sich Gurronsevas am Paket fest und zündete die Anzugdüsen, um es in eine langsame, kontrollierte Rollbewegung zu versetzen. Als die hell erleuchtete Frachtschleuse des Ladeplatzes zwölf in dem Spalt zwischen den Behältern in Sicht kam, bremste Gurronsevas die Rollbewegung ab, brachte dann das Ziel unter leichtem Einsatz von Seitenschub in die Mitte dieses primitiven Fadenkreuzes und wartete kurz, um sicher zu sein, daß es dort blieb. Daraufhin zwang er sich zum Nachdenken. Nach Gurronsevas’ Schätzung befanden sich in der Schicht um ihn herum hundert Behälter mit Nahrungspräparat, deren Sprühköpfe alle senkrecht nach oben gerichtet waren. In der Mitte wurden etwa zwanzig dieser Behälter von seinem Körper bedeckt und waren deshalb für seine Zwecke nutzlos, doch die äußeren Behälter konnte er leeren, ohne sich von oben bis unten mit Nahrungspräparat zu bespritzen. Ganz vorsichtig streckte er alle Arme aus, wählte zwei Behälterpaare aus, die gleich weit von seiner Position in der Mitte entfernt waren, stellte die Ventile nicht auf Sprühnebel, sondern auf den maximalen Ablaßstrahl ein, und betätigte alle vier Sprühköpfe auf einmal. Als die Behälter ihren Inhalt mit hoher Geschwindigkeit in den Raum spritzten, spürte Gurronsevas einen ganz leichten Druck. Doch die Massenträgheit des Frachtpakets und seines eigenen gewaltigen Körpers mußte erst einmal überwunden werden, und sie war zu groß, als daß sich die Geschwindigkeit, mit der er sich vom Hospital wegbewegte, merklich reduziert hätte. Er wiederholte den Vorgang, bis er die Ventile sämtlicher Behälter in Reichweite geöffnet hatte und von spritzenden, auf dem Kopf stehenden Kegeln aus Nahrungspräparat umgeben war. Daß der Mittelpunkt der Schubkraft seines merkwürdigen Vehikels nicht von der beabsichtigten Flugrichtung abwich, war ungemein wichtig. Darum warf er alle paar Sekunden einen Blick durch die winzigen Lücken zwischen den Behältern, um sicherzugehen, daß die hell erleuchtete und inzwischen langsam anwachsende Öffnung zum Ladeplatz zwölf sich nicht zur Seite bewegte. Sowie sie wegzudriften drohte, korrigierte er den Kurs mit den Anzugdüsen. Nach den Anzeigen im Helm war ihm die Schubkraft schon vor Minuten ausgegangen. Wie er annahm, waren die Anzeigen von vornherein ungenau ausgelegt, damit sie einen leeren Tank anzeigten, wenn in Wirklichkeit noch eine kleine Sicherheitsreserve vorhanden war. Inbrünstig hoffte er, daß man bei seinen Sauerstoffflaschen nach derselben Konstruktionsphilosophie vorgegangen war. Die Atembeschwerden, das Pochen im Kopf und die zunehmenden Schmerzen in der Brust waren, so sagte er sich, wahrscheinlich psychosomatisch und vor allem durch sein Vorwissen bedingt. Doch er glaubte sich selbst nicht. Langsam entfernte er sich von der anschwellenden Trümmerwolke, und die Frachtschleuse vor ihm wurde immer größer. Die Mitglieder der Rettungsmannschaft meldeten weiterhin nur Mißerfolge. Mittlenoeile muß mich doch mal jemand bemerkt haben! dachte Gurronsevas aufgebracht, und fast im selben Augenblick wurde er auf einmal von allen gleichzeitig entdeckt. „Hier Rettungsmann vier! Sieht so aus, als wäre eins der hudlarischen Pakete bei einem ganz verrückten Zusammenstoß beschädigt worden, der die Behälter am einen Ende aufgerissen hat. Das Paket bewegt sich in entgegengesetzter Richtung zu den übrigen Frachtstücken und könnte eine Gefahr für das Personal.“ „Fünf hier! Verrückter Zusammenstoß, so ein Blödsinn! Unser vermißter Tralthaner sitzt auf dem Ding! O Mann, keine schlechte Idee! Aber der Kerl fliegt zu schnell aufs Hospital zu.“ „Rettungsteam, kann ihn einer von Ihnen abfangen?“ „Eins hier! Nein, nicht bevor er auftrifft. Wir bewegen uns alle in die falsche Richtung. An die Traktorstrahltechniker auf der Außenhaut! Können Sie ihm eine weiche Landung bereiten?“ „Nein, Eins. Der Projektor ist erst in zehn Minuten einsatzbereit.“ „Dann vergessen Sie das, und räumen Sie den Bereich für den Fall, daß er Ihnen auf dem Kopf landet.“ „Das kann ich mir nicht vorstellen, Eins. Wir haben seine Flugbahn berechnet und glauben, daß er es direkt durch die Schleuse schaffen wird. Dieser Tralthaner weiß genau, was er.“ „Hier Rettungsmann eins. Alle Traktorstrahltechniker im Innern des Gebäudes auf Pressorstrahlmodus umschalten. Fangen Sie ihn auf, wenn er hereingeflogen kommt. Entgiftungstrupp und medizinisches Team, halten Sie sich bereit.“ Gurronsevas’ Herz fing an, mit einer solchen Geschwindigkeit und einem derartigen Dröhnen zu schlagen, daß er Schwierigkeiten hatte, den Rest des Gesprächs zu verfolgen. Trotz des getrübten Blickfelds konnte er sehen, wie die helle Öffnung zum Ladeplatz zwölf auf ihn zuschnellte. Die Behälter mit dem Nahrungspräparat, die ihn antrieben, leerten sich allmählich, jedoch nicht gleichmäßig, so daß das Paket eine langsame Rolle schräg zur Seite zu machen begann, durch die es auf die Kante der Schleüsenöffnüng zugetrieben wurde. Für einen kurzen Augenblick glaubte Gurronsevas, er würde sicher hindurchkommen, doch eine Ecke seines Gefährts schlug gegen die Lukeneinfassung, und das ganze Paket brach in die einzelnen Behälter auseinander. Wie durch ein Wunder blieb er dabei unverletzt, doch plötzlich befand er sich mitten unter etwa zweihundert Behältern mit und ohne Nahrungspräparat, die allesamt schlingernd in hohem Tempo auf die Innenwand des Ladeplatzes zurasten. Diejenigen, deren Inhalt noch nicht ausgegangen war, entleerten sich jetzt rapide in alle Richtungen. Beim Vorbeiwirbeln traf einer der Behälter Gurronsevas an der Brust, wenn auch nicht so heftig, daß es ihm weh tat, doch auf einmal ging das Sendelämpchen des Kommunikators an. Wenn das Mistding nichts weiter als einen ordentlichen Schlag gebraucht hatte, dann…! „Lassen Sie ihn da doch nicht so hängen, verdammt noch mal!“ rief eine gebieterische Stimme. „Ziehen Sie ihn in die Besatzungsschleuse. An den diensthabenden Arzt! Halten Sie sich bereit.“ „Hier Gurronsevas!“ meldete er sich mit großer Mühe. „Ich brauche Luft, keine ärztliche Behandlung, und zwar dringend!“ „Sie sprechen wieder mit uns. gut!“ lautete die Antwort. „Einen Augenblick, in ein paar Minuten haben wir Sie an eine frische Sauerstoffflasche angeschlossen.“ Eine seinem Eindruck nach lange Zeit verbrachte Gurronsevas in der Schleusenkammer damit, sich die Schutzkleidung von jeder Spur einer möglichen Verseuchung durch Chlor befreien und anschließend ausziehen zu lassen, doch seine Verärgerung wurde dadurch gelindert, daß er während dieses Vorgangs wieder ohne Schwierigkeiten atmen — und denken — konnte. Der leitende Arzt, ein äußerst dienstbeflissener Nidianer, konnte nicht glauben, daß er ohne ernsthafte Verletzungen davongekommen war, und wollte ihn unbedingt auf eine Beobachtungsstation bringen, doch das ließ Gurronsevas nicht zu. Die beiden einigten sich schließlich auf den Kompromiß, daß sich der Tralthaner vom Nidianer mit einem Handscanner jeden einzelnen Quadratzentimeter des Körpers abtasten ließ. Dadurch hatte Gurronsevas jede Menge Zeit, den Stimmen im Kopfhörer zuzuhören, die viele interessante Vorgänge beschrieben, die er selbst nicht mit den Augen verfolgen konnte. Sie sprachen von kleinen Fahrzeugen ohne Innendruck, die ausgesandt wurden, um das verstreute Frachtgut zu untersuchen und zur Weiterverwendung oder späteren sicheren Beseitigung zu bergen, vom Wiederandocken der Trivennleth, vom provisorischen, schnell abbindenden Dichtungsmittel, das rings um die verbogene Frachtschleuse aufgetragen wurde, und von den Vorbereitungen zum Löschen der verbliebenen Fracht. Wie Gurronsevas ziemlich enttäuscht feststellte, wurde seine kühne und wagemutige Rettung durch eigene Hand jedoch mit keinem Wort mehr erwähnt. Vielleicht waren sie zu beschäftigt. Nachdem ihn der nidianische Arzt endlich entlassen hatte, erkundigte sich Gurronsevas nach dem Weg zur Betriebszentrale des Ladeplatzes zwölf, weil es noch etwas gab, das er den dort Beschäftigten zu sagen hatte. Als er eintrat, sahen die Mitarbeiter, bei denen es sich zumeist um Terrestrier handelte, zu ihm auf. Keiner von ihnen sagte ein Wort, noch lächelte irgend jemand. Indem er die Füße leise auf den Boden setzte, um Höflichkeit zu demonstrieren und zu zeigen, daß er sich psychologisch im Nachteil befand, ging er zu dem Terrestrier hinüber, der auf dem Platz des Leiters saß. „Ich möchte Ihnen meinen aufrichtigen Dank für die Rolle aussprechen, die Sie und Ihre Untergebenen bei meiner Rettung gespielt haben“, sagte Gurronsevas förmlich. „Und für alle eventuellen Kleinigkeiten, die ich zum Unfall mit Ihrem Frachtgut beigetragen habe, entschuldige ich mich hiermit.“ „Alle eventuellen Kleinigkeiten.?“ hakte der Leiter ungläubig nach. Dann schüttelte er den Kopf und fuhr fort: „Das Leben haben Sie sich selbst gerettet, Gurronsevas. Und der Einfall, die Behälter mit Nahrungspräparat als Antriebsaggregat zu benutzen, war, na ja, einzigartig.“ Als deutlich wurde, daß der Terrestrier kein weiteres Wort dazu äußern wollte, fuhr Gurronsevas fort: „Kurz nachdem ich ans Hospital gekommen bin, hat mir jemand, dessen Name ich nicht nennen möchte und den ich für einen Verächter der Kochkunst halte, gesagt, Essen sei nichts weiter als Brennstoff. Daß er buchstäblich die Wahrheit gesprochen haben könnte, ist mir bisher nicht klar gewesen.“ Der Leiter lächelte zwar, doch nur für einen kurzen Augenblick, und die Gesichtszüge der anderen veränderten sich sogar überhaupt nicht. Um zu wissen, daß er bei diesen Leuten im Moment kein hohes Ansehen genoß, brauchte Gurronsevas kein cinrusskischer Empath zu sein. Aber selbst wenn man hier auf einen Scherz nicht reagieren wollte, würde man ihm eine höfliche Bitte bestimmt nicht abschlagen. „Ich beabsichtige, unter anderem auch an der Verpflegung der Hudlarer einige wichtige Änderungen vorzunehmen“, sagte er deshalb. „Möglicherweise werde ich dafür die Erlaubnis und Mitarbeit des Verwaltungsleiters des Hospitals benötigen. Darf ich Ihren Kommunikator benutzen? Ich möchte mit Colonel Skempton sprechen.“ Der Leiter drehte sich auf dem Stuhl herum, um durch das Beobachtungsfenster — eine Platte aus einem durchsichtigen Material, das die gesamte Wand einnahm und an den wenigen kleinen Stellen, an denen kein Nahrungspräparat klebte, glasklar war — einen Blick auf das Team zu werfen, das an der beschädigten Frachtschleuse und auf dem in Unordnung gebrachten und mit Nahrungspräparat verschmutzten Ladeplatz arbeitete, bevor er sich wieder Gurronsevas zuwandte und sagte: „Colonel Skempton wird sich bestimmt mit Ihnen unterhalten wollen, da bin ich mir sogar ganz sicher.“ 12. Kapitel Wie sich schon bald herausstellte, war der Leiter des Ladeplatzes mit den Gedankengängen des Verwaltungsleiters keineswegs vertraut, denn Gurronsevas gelang es nicht, mit Colonel Skempton zu sprechen, obwohl er es dreimal versuchte. Als er sich zum vierten Mal um ein Gespräch bemühte, setzte ihn ein Untergebener des Colonels davon in Kenntnis, daß der gesamte Fall Gurronsevas dem Chefpsychologen übertragen worden sei, der Colonel Skemptons Lösungsvorschläge erhalten habe. Es sei demzufolge Major O’Mara, mit dem sich Gurronsevas unterhalten solle, und zwar unverzüglich. Die Atmosphäre im Vorzimmer der psychologischen Abteilung erinnerte Gurronsevas an eine Versammlung um den Leichnam eines geschätzten Freundes im Sterbezimmer, doch weder Braithwaite, noch Lioren oder Cha Thrat hatten eine Chance, mit ihm zu sprechen, da ihn Major O’Mara nicht warten ließ. „Chefdiätist Gurronsevas“, begann O’Mara ohne Einleitung, „Sie scheinen sich der Ernsthaftigkeit Ihrer Lage nicht bewußt zu sein. Oder wollen Sie mir etwa erzählen, Sie seien unschuldig und hätten recht, während sich alle anderen im Irrtum befinden?“ „Selbstverständlich nicht“, erwiderte Gurronsevas. „Ich gebe ja zu, daß ich eine gewisse Verantwortung für den Unfall trage, aber nur, weil ich mich genau zur falschen Zeit am falschen Ort befunden habe, und zwar unter Umständen, unter denen ein Unfall fast unvermeidlich war. Doch die gesamte Verantwortung dafür kann mir nicht zugeschoben werden, weil man jemanden, dem man keinen vollständigen Einfluß auf eine Situation gibt, auch nicht voll und ganz für das verantwortlich machen kann, was geschieht. Ich habe nur wenig Einfluß auf die Situation gehabt und trage deshalb auch nur eine stark beschränkte Verantwortung für den Vorfall.“ Eine lange Zeit starrte ihn O’Mara schweigend von unten an. Die sichelförmigen Haarbüschel über den Augen hatte er zu dicken grauen Strichen nach unten gezogen, und die Lippen waren fest zusammengepreßt, so daß er — recht vernehmlich — durch die Nasenöffnungen atmete. Schließlich ergriff er wieder das Wort. „Was die Frage der Verantwortung betrifft, bedarf es noch der Klärung. Kurz nach dem Unfall hat sich ein Hudlarer mit mir in Verbindung gesetzt, der behauptete, er trage gemeinsam mit Ihnen die Verantwortung für den Unfall. Was haben Sie mir dazu zu sagen?“ Gurronsevas zögerte. Sollte der hudlarische Assistenzarzt nicht nur in den Unfall auf dem Ladeplatz hineingezogen, sondern auch sein eventueller Fehltritt auf dem Frachter bekannt werden, dann verlor er womöglich seine Assistenzarztstelle am Hospital. Der FROB war jemand, der gute Manieren besaß, ihm mit seinen Vorschlägen zu den Schwierigkeiten mit der hudlarischen Nahrung behilflich gewesen war und der ohne Zweifel über Fachkompetenz verfügte, denn sonst wäre er erst gar nicht zur Ausbildung am Orbit Hospital angenommen worden. „Sie haben den Hudlarer mißverstanden“, antwortete Gurronsevas in bestimmtem Ton. „Er hatte etwas an Bord zu erledigen und hat mich auf die Trivennleth begleitet, wobei er mir als Führer und als Ratgeber hinsichtlich einiger Probleme mit der Verpflegung gedient hat. Er wollte mich auch wieder aus dem Schiff hinausbegleiten, doch habe ich darauf bestanden, allein zurückzukehren. Da ich Chefdiätist bin, er dagegen nur Assistenzarzt ist, hatte er keine andere Wahl, als sich zu fügen. In dieser Angelegenheit trifft den Hudlarer also keine Schuld.“ „Ich verstehe“, sagte O’Mara. Dann stieß er einen unübersetzbaren Laut aus und fügte hinzu: „Doch sollten Sie wissen, daß es mich nicht besonders beeindruckt, wenn man andere nicht verpetzen will. Also gut, Gurronsevas, das, was mir Ihr hudlarischer Assistenzarzt vor kurzem erzählt hat, wird offiziell nicht zur Kenntnis genommen, aber nur, weil in diesem Fall geteiltes Leid nicht halbes Leid sein muß. Haben Sie sonst noch etwas zu Ihrer Verteidigung zu sagen?“ „Nein“, antwortete Gurronsevas, „denn es gibt weiter nichts, was ich falsch gemacht habe.“ „Glauben Sie das wirklich?“ fragte der Major. Da Gurronsevas diese Frage bereits beantwortet hatte, überhörte er sie einfach, und entgegnete statt dessen: „Da wäre noch eine andere Sache. Um weitere Verbesserungen an der Verpflegung vorzunehmen, benötige ich Zutaten, die im Hospital zur Zeit nicht zur Verfügung stehen. Aber ich bin mir nicht sicher, ob man diese Artikel, die von vielen verschiedenen Planeten hierher transportiert werden müssen und von daher beträchtliche Kosten aufwerfen werden, einfach bestellen kann oder ob man dafür die besondere Erlaubnis der Hospitalverwaltung benötigt. Falls letzteres zutrifft, gebietet es schon die bloße Höflichkeit, daß ich den Verwaltungsleiter persönlich darum bitte. Aber aus irgendeinem Grund weigert sich Colonel Skempton, mit mir zu sprechen oder auch nur.“ O’Mara hatte eine Hand erhoben. „Der eine Grund dafür ist, daß ich ihm davon abgeraten habe, Sie zu empfangen, zumindest solange, bis sich die Aufregung gelegt hat. Doch es gibt noch weitere Gründe. Sie haben diesen Schlamassel auf Ladeplatz zwölf angerichtet — natürlich nicht absichtlich. Und eine schwere Verseuchung, eine Druckverminderung und die strukturellen Schäden an der Frachtschleuse und am Laderaum der Trivennleth sind eine kostspielige Sache, sowohl von der Arbeitszeit der Wartungsabteilung als auch von den Kosten her, die.“ „Das ist doch wohl nicht zu glauben!“ empörte sich Gurronsevas. „Wenn ich durch ein Fehlurteil und eine Verdrehung der Vorschriften des Monitorkorps für diese Schäden verantwortlich gemacht werden soll, dann werde ich sie natürlich bezahlen. Ich bin nicht arm, und falls mein Vermögen dennoch nicht ausreichen sollte, können Abzüge von meinem Gehalt vorgenommen werden, bis die Kosten voll bezahlt sind.“ „Wenn Sie so lange wie ein Groalterri leben würden, wäre das vielleicht möglich“, klärte ihn O’Mara auf. „Das ist jedoch nicht der Fall — außerdem wird man Sie sowieso nicht auffordern, den Schaden zu begleichen. Wie man festgestellt hat, sind die Traktorstrahltechniker in ihrer Arbeit dermaßen schnell und erfahren geworden, daß sie vielleicht ein bißchen zu viel Routine entwickelt haben, und deshalb werden die Sicherheitsbestimmungen für sie verschärft. Die finanzielle Seite wird von der Versicherung der Trivennleth und mit dem Etat des Monitorkorps geregelt und braucht Sie nicht weiter zu kümmern. Doch gibt es noch einen anderen Preis, den Sie auf jeden Fall zahlen müssen, und ich bin mir nicht sicher, ob Sie sich den erlauben können: Sie büßen Ihre gesamten Rücklagen an Wohlwollen ein. Während der Besichtigung der Trivennleth und Ihres anschließenden außerplanmäßigen Außeneinsatzes haben sich nämlich auf der AUGL-Station zusätzlich Vorfälle ereignet, die allerdings nicht eine ganz so große Katastrophe gewesen sind“, fuhr O’Mara fort, ohne Gurronsevas Zeit zum Sprechen zu lassen. „Die Chalder, die sich auf dem Weg der Besserung befinden, sind bei der Jagd auf die sich von selbst bewegende Beute in etwas zu starke Aufregung geraten und haben Oberschwester Hredlichli zufolge beinahe die gesamte Station zerstört. Genau gesagt: elf Abschnitte der Innenwandverkleidung sind stark verbogen und vier Schlafgestelle der Chalder so schwer beschädigt worden, daß sie nicht mehr zu reparieren sind, zum Glück ohne schlimme Folgen für die Patienten, die sich zu der Zeit in diesen Gestellen befunden haben. Wie ich weiß, ist Ihnen Hredlichli wegen der Verbesserungen, die Sie an der illensanischen Verpflegung vorgenommen haben, verpflichtet“, setzte der Major seine Ausführungen fort, „doch im Moment möchte ich nicht gerade behaupten, daß sie sich als Ihre Freundin betrachtet. Das gleiche gilt übrigens für Lieutenant Timmins, der nicht nur für die Reparatur der Schäden auf der Station der Chalder, sondern auch an den Hilfsunterbauten auf Ladeplatz zwölf verantwortlich ist. Doch es ist Colonel Skempton, um dessentwillen Sie sich Sorgen machen und dem Sie aus dem Weg gehen sollten. Der Colonel will nämlich, daß Sie aus dem Hospital hinausgeworfen und zurück auf Ihren früheren Heimatplaneten gebracht werden, und zwar sofort.“ Für einen Moment verschlug es Gurronsevas die Sprache. Ihm kam es vor, als wäre sein unbeweglicher, kuppeiförmiger Schädel ein untätiger Vulkan, der durch den doppelten Druck des Schamgefühls und der Wut über das Schicksal, das eine derart schreiende Ungerechtigkeit gegenüber jemanden zugelassen hatte, der fachlich so umfassend gebildet war wie er und dieser Einrichtung derart viel zu bieten hatte, kurz vorm Ausbruch stand. Da das vorherrschende Gefühl jedoch die Scham war, zwang sich Gurronsevas, das einzige zu sagen, das unter diesen Umständen angebracht war. Er wandte sich zum Gehen, wobei er gar nicht erst versuchte, den Lärm, den seine Füße beim Auftreten machten, zu dämpfen, und sagte: „Ich werde meine sofortige Kündigung einreichen.“ „Ich habe festgestellt, daß Ausdrücke wie „sofort“ oder „unverzüglich“ gewöhnlich sehr locker gebraucht werden“, verkündete O’Mara mit einer Stimme, die zwar leise war, Gurronsevas jedoch irgendwie mitten in der Drehung innehalten ließ. „Überlegen Sie es sich noch mal. Die nächsten Wochen fliegt möglicherweise kein Schiff mit dem Flugziel Traltha oder Nidia — oder wohin Sie sich sonst zu fliegen entschlossen haben — das Orbit Hospital an“, fuhr der Chefpsychologe fort. „Und falls Sie es vorziehen, auf eine unbedeutende tralthanische Planetenkolonie zu gehen, die nur selten von Schiffen kommerzieller Betreiber oder des Monitorkorps angeflogen wird, dauert es noch sehr viel länger. Durch diese Verzögerung wäre es Ihnen möglich, alle laufenden Projekte zu beenden, bevor Sie abreisen müssen. Das würde auch dem Hospital zugute kommen, vorausgesetzt, Sie verwickeln es nicht in weitere Beinahekatastrophen. Und Sie persönlich würden ebenfalls davon profitieren, denn je länger die Zeit ist, die Sie hier verbringen, desto geringer ist die Wahrscheinlichkeit, daß Außenstehende, zu denen auch Ihre Kollegen in den Hotels für viele verschiedene Spezies gehören, den Eindruck gewinnen, Ihre Trennung vom Orbit Hospital sei unfreiwillig vollzogen worden, und Ihr fachlicher Ruf würde nur minimalen Schaden davontragen. Versuchen Sie, sich zurückzuhalten — soweit das für einen Tralthaner möglich ist“, setzte O’Mara seine Ausführungen fort, wobei er kurz die Zähne entblößte. „Vermeiden Sie alles, womit Sie Colonel Skemptons Aufmerksamkeit erregen könnten, und ärgern Sie auch sonst keinen Verantwortlichen. Dann werden Sie rasch feststellen, daß Ihre Abreise alles andere als überstürzt stattfinden muß.“ „Aber gehen werde ich letztendlich trotzdem müssen“, warf Gurronsevas ein, womit er eher eine Feststellung traf, als eine Frage stellte. „Der Colonel hat darauf bestanden, daß Sie das Hospital schnellstens verlassen, und ich habe es ihm zugesichert“, entgegnete O’Mara. „Hätte ich das nicht getan, wären Sie in Ihrer Unterkunft unter Arrest gestellt worden.“ Der Chefpsychologe lehnte sich im Stuhl zurück und gab damit deutlich und wortlos zu verstehen, daß die Unterredung damit für ihn beendet war, doch Gurronsevas rührte sich nicht vom Fleck. „Ich verstehe“, sagte er. „Und ich möchte Ihnen gerne sagen, daß Sie gegenüber meinen Empfindungen in dieser Situation Feingefühl und Rücksicht bewiesen haben. Ihre Reaktion ist für mich, na ja, gleichzeitig überraschend und verwirrend, denn bisher hatte ich mir nicht vorstellen können, daß sich jemand mit Ihrem Ruf dermaßen verständnisvoll verhält.“ Verlegen brach Gurronsevas ab, weil er sich bewußt war, daß der Versuch, seine Dankbarkeit auszudrücken, ans Beleidigende grenzte. O’Mara beugte sich wieder vor. „Dann lassen Sie mich einen Teil Ihrer Verwirrung ausräumen“, schlug er grinsend vor. „Natürlich bin ich mir bewußt, daß Sie heimliche Versuche mit meinen Mahlzeiten angestellt haben, und das ist mir von Anfang an klar gewesen. Nein, das Vorzimmerpersonal hat Sie nicht verraten. Sie vergessen, daß ich Psychologe bin, und die ständigen nichtsprachlichen Anzeichen, die ich bei Braithwaite, Cha Thrat und Lioren beobachtet habe, waren unmöglich vor mir zu verbergen. Außerdem haben Sie sich selbst verraten, indem Sie den Geschmack von Gerichten wesentlich verbessert haben, die vorher so unschmackhaft gewesen sind, daß ich beim Essen gefahrlos an wichtigere Dinge denken konnte. Aber das kann ich jetzt nicht mehr. Ich verschwende kostbare Zeit damit, mich zu fragen, welche kulinarische Überraschung mich als nächstes erwartet, oder darüber zu grübeln, wie genau Sie einen bestimmten Geschmack erreicht haben. Nicht alle Änderungen, die Sie vorgenommen haben, sind Verbesserungen gewesen, und ich habe Ihnen bereits eine Liste meiner Reaktionen auf sämtliche Abwandlungen zusammen mit Vorschlägen für weitere Verbesserungen zukommen lassen.“ „Das. das ist wirklich äußerst liebenswürdig von Ihnen, Sir“, stammelte Gurronsevas erstaunt. „Ich bin weder liebenswürdig noch verständnisvoll, noch besitze iAh irgendeine der anderen Eigenschaften, die Sie mir zuzuschreiben versuchen“, widersprach O’Mara in scharfem Ton. „Ich habe keinen Grund, jemandem dankbar zu sein, der lediglich seine Arbeit tut. Gibt es noch etwas, das Sie mir sagen wollen, bevor Sie gehen?“ „Nein.“ Als Gurronsevas aus dem Büro stampfte, konnte er die beweglichen Einrichrungsgegenstände und die Dekorationsstücke auf O’Maras Schreibtisch klappern hören. „Was ist passiert?“ fragte Cha Thrat, nachdem Gurronsevas die Tür zu O’Maras Büro hinter sich geschlossen hatte. Nach der Art, wie ihn die drei anstarrten, war klar, daß sich die Sommaradvanerin auch im Namen von Lioren und Braithwaite erkundigte. Durch die Wut und Enttäuschung fiel es dem Tralthaner schwer, die Stimme auf Zimmerlautstärke zu halten, als er antwortete: „Ich muß das Hospital verlassen, nicht sofort, aber bald. Bis dahin habe ich, wie es O’Mara ausdrückt, meine Arbeit zu tun, ohne die Aufmerksamkeit auf mich zu lenken. Leider weiß der Major, daß Sie mir behilflich gewesen sind, die Änderungen an den Gerichten vorzunehmen. Zwar ist er damit zufrieden gewesen, aber er ist mir nicht dankbar. Hat jemand von Ihnen wegen dieser Verschwörung eine Bestrafung zu befürchten?“ Braithwaite schüttelte den Kopf. „Wenn uns O’Mara hätte bestrafen wollen, würden wir inzwischen davon wissen. Aber versuchen Sie doch, das Ganze von der positiven Seite zu sehen, Gurronsevas, und machen Sie es so, wie es O’Mara gesagt hat. Schließlich scheint der Major von einigen Sachen, die Sie tun, etwas zu halten und möchte, daß Sie die weiterfuhren. Wäre er unzufrieden gewesen, tja, dann hätten Sie das Hospital nicht bald verlassen müssen, sondern säßen schon längst auf dem erstbesten Schiff nach Nirgendwo. Sie wissen doch gar nicht, was in Zukunft noch geschehen wird.“ „Ich weiß nur, daß mich Colonel Skempton unter allen Umständen loswerden will“, murmelte Gurronsevas in kläglichem Ton. „Vielleicht könnten Sie dem Colonel heimlich Substanzen ins Essen mischen, die das Problem beseitigen“, schlug Lioren in sanftem Ton vor. „Padre!“ ermahnte ihn Braithwaite. „Ich meinte keine giftigen Substanzen, die zum Tode führen“, stellte Lioren klar, „sondern geschmacksverstärkende Zutaten ähnlich denen, die Sie bei Major O’Maras Gerichten verwendet haben. Unter den terrestrischen DBDGs gibt es ein geläufiges Sprichwort, nach dem der Weg zum Herzen eines Wesens direkt über dessen Magen führt.“ „Zweifellos ein fragwürdiger und sehr riskanter operativer Eingriff“, warf Cha Thrat ein. „Ich werde Ihnen den Sinn dieses Sprichworts später erklären, Cha Thrat“, mischte sich Braithwaite lächelnd ein. „Lioren, psychologisch gesehen ist das zwar ein vernünftiger Ratschlag, aber es ist unwahrscheinlich, daß Skempton durch Gurronsevas’ Kochkunst derart leicht zu beeinflussen ist. Nach seiner psychologischen Akte handelt es sich bei Skempton um einen Vegetarier, und das bedeutet, er ist.“ „Also, das verstehe ich jetzt nicht“, mischte sich Cha Thrat erneut ein. „Weshalb sollte sich ein Mitglied der Klassifikation DBDG, die zu den Allesfressern gehört, entschließen, Pflanzenfresser zu werden? Insbesondere, wo die Grundstoffe der Nahrung hier doch sowieso synthetisch sind. Handelt es sich dabei um eine Art religiöses Bedürfnis?“ „Vielleicht hat Skempton ähnliche Überzeugungen wie der Ull, der sagt, daß derjenige, der das Fleisch eines anderen Lebewesens ißt, sei es vernunftbegabt oder nicht, dessen Seele im eigenen Leib bewahrt“, gab Lioren zu bedenken. „Doch der Colonel hat mich in religiösen Angelegenheiten nie um Rat gefragt, deshalb kann ich diesbezüglich nichts mit Sicherheit sagen.“ „Für Pflanzenfresser zu kochen ist für mich nie ein Problem gewesen“, meinte Gurronsevas beiläufig. Braithwaite nickte, und Cha Thrat blieb stumm. Beide blickten den Padre an, der sämtliche Augen unverwandt auf Gurronsevas gerichtet hatte. „Darf ich Sie zudem daran erinnern, daß es sich beim Orbit Hospital um eine äußerst große Einrichtung handelt, die viele tausend Lebewesen beherbergt, die aufgrund der Natur der Arbeit, die sie verrichten, und der Gefühle und Motivationen, die diese Arbeit in ihnen hervorruft, gewöhnlich ein äußerst kurzes Gedächtnis haben, was gelegentliche persönliche Auseinandersetzungen betrifft?“ fragte Lioren leise. „Wenn man an einem Ort wie diesem nachtragend wäre, würde der allgemeine psychische Gesundheitszustand äußerst schlecht aussehen, und die Sorte von Leuten, die nachtragend sind, werden schon bei der Bewerbung durch die psychologische Durchleuchtung ausgesondert. Vielleicht ereignen sich andere Vorfälle — wenn auch hoffentlich nicht mit einem so großen Katastrophenpotential wie Ihr jüngstes Abenteuer—, die Colonel Skemptons Aufmerksamkeit in eine andere Richtung lenken und seine momentane Feindseligkeit Ihnen gegenüber verringern“, fuhr der Tarlaner fort. „Sie sagen, Sie müßten das Hospital bald verlassen, doch als Zeitmaß betrachtet, ist diese Frist unbestimmt, und vielleicht steht der Beschluß, daß Sie abreisen müssen, noch gar nicht dauerhaft fest. Für Gott oder das Schicksal oder irgendwelche willkürlichen Wirkungsweisen der Gesetze des Zufalls, an die Sie vielleicht glauben oder auch nicht, ist alles möglich.“ Lioren hielt kurz inne und fügte dann hinzu: „Mein Rat an Sie lautet: Befolgen Sie den Rat des Majors, und konzentrieren Sie sich auf die Arbeit, die zu leisten Sie allein in der Lage sind, und geben Sie die Hoffnung nicht auf.“ Dieser Ratschlag klang zwar vernünftig, war aber nach Gurronsevas Dafürhalten in geradezu lachhafter Weise übertrieben optimistisch. Doch als er die drei Mitarbeiter des Chefpsychologen verließ, setzte er die Füße leise auf und hatte keine Ahnung, weshalb er sich plötzlich ein ganzes Stück besser fühlte. 13. Kapitel Gurronsevas’ Optimismus hielt nur wenige Stunden an, und im Laufe der ersten drei Tage, in denen er sich zurückhielt, fühlte er sich immer niedergeschlagener, unsicherer und einsamer. Nur noch selten stattete er seinen Mitarbeitern beim Nahrungssynthesizer und der Pathologie einen kurzen Besuch ab, weil ihn die Beschäftigten an beiden Orten andauernd merkwürdig anstarrten, wenn sie seine Aufmerksamkeit auf etwas anderes gerichtet glaubten; doch ob diesen Blicken Mitleid oder krankhafte Neugier zugrunde lag, wußte er nicht. Abgesehen von diesen wenigen Stippvisiten blieb er in seiner Unterkunft, ging nicht an den Kommunikator und nahm ausschließlich Nahrung aus dem Essensspender zu sich, und dieses freiwillige Abkapseln trug kein bißchen dazu bei, seine gedrückte Stimmung zu heben. Am vierten Tag klopfte mittags jemand höflich, aber mit außerordentlicher Hartnäckigkeit an die Tür. Es war Padre Lioren. „Wir haben Sie in letzter Zeit nicht mehr in der Kantine gesehen“, begann er, bevor Gurronsevas etwas sagen konnte. „Sie könnten es mit der Zurückhaltung auch übertreiben, Gurronsevas, denn sich vollkommen zurückzuziehen erregt oft mehr Aufmerksamkeit, als sich wie gewöhnlich zu zeigen. Außerdem haben die meisten Spezies — mich selbst nicht ausgeschlossen — sowieso SchwierigkeitenATralthaner ohne einen Blick auf die Armbinden auseinanderzuhalten. Ich bin gerade auf dem Weg zur Kantine. Hätten Sie Lust, mich zu begleiten?“ „Meine Unterkunft liegt weitab von Ihrem üblichen Weg von der psychologischen Abteilung zur Kantine“, entgegnete Gurronsevas, den seine Verlegenheit innerlich wütend machte. „Stimmt“, bestätigte Lioren. „Vielleicht habe ich noch bei jemand anderem auf dieser Ebene vorbeigeschaut, ich könnte Ihnen aber auch aus therapeutischen Gründen eine Unwahrheit aufgetischt haben. Was von beidem zutrifft, werden Sie allerdings nie erfahren.“ Ohne zu wissen, warum, antwortete Gurronsevas: „Na gut, ich komme mit.“ Falls ihn tatsächlich mehr Kantinenbesucher beobachteten als sonst, dann wußte Gurronsevas jedenfalls nichts davon, weil er seine vier Augen auch nicht eine Sekunde lang von Lioren, Braithwaite, Cha Thrat und dem eigenen Teller abwandte — und von den Gesprächen, die an den Nachbartischen geführt wurden, drehte sich keins um ihn. Als er sich zu den anderen gesetzt hatte, hatte er sich laut gefragt, wie es den dreien gelungen war, von O’Mara die Erlaubnis zu erhalten, das Vorzimmer unbeaufsichtigt zu lassen. Daraufhin hatte ihm Braithwaite erklärt, es sei ein ungeschriebenes Gesetz des Orbit Hospitals, daß niemand geistesgestört werde, solange die Mitarbeiter der psychologischen Abteilung beim Essen seien. Bei dieser Äußerung hatte sich Gurronsevas der Verdacht aufgedrängt, es handle sich um eine weitere Unwahrheit aus therapeutischen Gründen, und war zu dem Schluß gekommen, daß man versuchte, ihn aufzuheitern. Doch dann wurde das Gespräch sehr schnell ernsthaft. „Wie uns zu Ohren gekommen ist, haben Sie in den letzten Tagen nicht gerade viel Zeit bei den Nahrungssynthesizern verbracht, und Abwandlungen bei der Kost hat es in jüngster Zeit auch nicht mehr gegeben“, kam Lieutenant Braithwaite auf den Punkt. „Ist das Ihre freie Entscheidung gewesen, oder wird Ihre Arbeit von anderen behindert? O’Mara würde das gerne wissen.“ Da Gurronsevas von drei Psychologen eingekreist war, kam er zu der Überzeugung, daß es sinnlos wäre, nicht die Wahrheit zu sagen. „Sowohl als auch“, antwortete er deshalb. „Ich hatte überhaupt keine Lust, jemandem zu begegnen, und meine Arbeit ist auch behindert worden, allerdings nicht von anderen, sondern durch das Fehlen notwendiger Zutaten. Eigentlich hatte ich vorgehabt, Skempton zu bitten, mir bei der Beschaffung zu helfen, weil diese Zutaten nicht auf der normalen Versorgungsliste stehen und vielleicht nur unter hohen Kosten hierher transportiert werden können, doch man hat mir verboten, mit dem Colonel zu sprechen.“ „Ich verstehe“, sagte Braithwaite. Nach kurzem Nachdenken fuhr er fort: „In diesem medizinischen Tollhaus bestellen wir derart viele seltsame und ungewöhnliche Sachen, Geräte und Medikamente und dergleichen, daß die Beschaffung im allgemeinen für keinen Abteilungsleiter ein Problem darstellt. Haben Sie zu Thornnastor ein freundschaftliches Verhältnis?“ „Thornnastor ist immer freundlich zu mir gewesen“, antwortete Gurronsevas. „Aber was der leitende Diagnostiker der Pathologie mit dieser Angelegenheit zu tun hat, ist mir völlig schleierhaft.“ „Natürlich ist Ihnen das nicht klar, zumindest bis jetzt noch nicht“, meinte Lioren. „Aber wenn Sie Thornnastor Ihre Schwierigkeiten erklären würden, müßte es möglich sein, den Colonel zu umgehen. Bei Skemptons erstem Assistenten, Creon-Emesh, handelt es sich nämlich um den Leiter der Beschaffungsabteilung. Creon-Emesh und Thornnastor sind seit vielen Jahren so eng befreundet, daß sie beide große Probleme damit hätten, sich gegenseitig einen Gefallen abzuschlagen.“ „Ich verstehe“, sagte Gurronsevas. „Wenn zwei Mitglieder einer Spezies eine derart lange emotionale und sexuelle Beziehung miteinander führen, denken und fühlen sie wie ein einziges.“ Mitten im Satz brach er ab, weil Braithwaite und Cha Thrat anscheinend Atembeschwerden hatten. Bevor er sich voller Sorge nach ihrem Wohlbefinden erkundigen konnte, erklärte Lioren: „Die beiden spielen seit mehr als einem Jahrzehnt bei jeder sich bietenden Gelegenheit Bominyat miteinander, und zwar, wie viele behaupten, auf dem Niveau von Planetenmeisterschaften. Bei Creon-Emesh handelt es sich jedoch um einen Nidianer, deshalb haben die beiden keine körperliche Beziehung zueinander.“ „Dann möchte ich mich hiermit bei beiden Betroffenen vielmals entschuldigen“, murmelte Gurronsevas verlegen. „Aber wenn Creon Emesh Skemptons Assistent ist, würde er dann nicht dem Colonel erzählen.“ „Würde er nicht“, unterbrach ihn Braithwaite in bestimmtem Ton. „Möglicherweise gebe ich vertrauliche Informationen aus Creon-Emeshs psychologischer Akte preis.“. „Ich würde sagen, daran gibt es keinen Zweifel“, warf Lioren ein. „…wenn ich Ihnen verrate, daß der Leiter der Beschaffungsabteilung ein intelligenter, tüchtiger und ehrgeiziger Mitarbeiter ist, der nichts davon hält, seinen Vorgesetzten mit Lappalien zu behelligen und auch nicht mit ernsten Problemen, wenn er sie selbst beheben kann. Kurz gesagt: Creon-Emesh ist einer dieser seltenen und hochgeschätzten Assistenten, die sich unaufhörlich bemühen, ihren Vorgesetzten überflüssig zu machen. Er achtet Skempton zwar, liebt ihn aber nicht und wird sich der momentanen Antipathie des Colonels Ihnen gegenüber bewußt sein. Wenn Sie Creon-Emesh die Bitte also vertraulich stellen und sie so formulieren, daß sie für ihn eine Herausforderung in der Tradition des Bominyat darstellt.“ „So verschlagen, wie der Lieutenant ist, sollte er unbedingt auch Bominyat spielen“, merkte Cha Thrat an. „…dann bekommen Sie vielleicht Ihre Zutaten, ohne daß der Colonel irgend etwas davon erfährt“, fuhr Braithwaite fort, ohne den Einwurf zu beachten. „Oder wäre es Ihnen lieber, wenn ich Creon-Emesh den Vorschlag mache?“ „Nein“, antwortete Gurronsevas. „Seinerzeit habe ich auch mal Bominyat gespielt, wenn auch nur auf dem Niveau von Stadtmeisterschaften, also haben Creon-Emesh und ich schon mal eine Gemeinsamkeit. Ich bin Ihnen sehr dankbar, sowohl für den Vorschlag als auch für Ihr Hilfsangebot, würde die Sache aber lieber selbst durchführen.“ „Wenn Sie ebenfalls Bominyatti sind, brauchen Sie sich überhaupt keine Sorgen zu machen“, sagte Braithwaite, wobei er die Hand hob, um Gurronsevas zu signalisieren, daß er den Dank zwar zur Kenntnis genommen hatte, aber zurückwies. „Doch genug von diesen unaufrichtigen diplomatischen Spielchen und der kalkulierten Beeinflussung von Verpflichtungen, die andere untereinander haben. Welche kulinarischen Überraschungen planen Sie für uns?“ Für einen Nidianer war Creon-Emeshs Freizeitunterkunft relativ geräumig, doch für die Mehrheit der anderen Spezies stellte sie einen winzigen Raum dar, der geradezu Platzangst hervorrief. Die Decke war derart niedrig, daß Gurronsevas mit dem Kopf an ihr entlangscheuerte, obwohl er die Knie so stark wie möglich gebeugt und die Arme fest verschränkt hielt, und sein Körper drohte die Zierpflanzen hinunterzuwerfen, die an den Wänden hingen, oder die absurd zerbrechlich anmutenden Möbel zu zerdrücken. Auf der einen Seite des Zimmers war ein Bereich freigeräumt worden, und dort stieg die Decke auf eine Höhe an, die für einen größeren Besucher — vermutlich für Thornnastor — gedacht war. Erleichtert begab sich Gurronsevas dorthin. „Sie sind bestimmt nicht bloß hier, um mit mir Bominyat zu spielen“, begann Creon-Emesh, bevor Gurronsevas etwas sagen konnte. „Das kann also warten. Wie Thorny mir immer wieder versichert, ähnelt meine Wohnung dem Bau eines tralthanischen Nagetiers. Also halten Sie sich lieber mit dem Lob bezüglich der Ausstattung meiner Unterkunft zurück, weil ich Ihnen das sowieso nicht abkaufen würde, und vergeuden Sie bitte keine kostbare Spielzeit. Was genau wollen Sie von mir?“ Gurronsevas bemühte sich, nicht beleidigt zu sein. Wie ihre zahlreichen Kritiker behaupteten, seien die Nidianer als Spezies nicht besonders stark oder intelligent und verfügten auch über keine wirksamen natürlichen Waffen, die es ihnen ermöglicht hätten, auf ihrem Heimatplaneten zur dominanten Lebensform aufzusteigen, sondern hätten sich diesen Platz ausschließlich durch ihre schlechte Laune und das bloße ungeduldige Verlangen, sich weiterzuentwickeln, erobert. Dennoch hielt es Gurronsevas für angebracht, seinem Gesprächspartner gegenüber wenigstens gutes Benehmen an den Tag zu legen. „Nichtsdestoweniger bin ich Ihnen dankbar, daß Sie diesem Treffen zugestimmt haben, zumal es zu einer Zeit stattfindet, in der Sie eigentlich Ihre Freizeit verbringen sollten.“ „Freizeit, Dienst, ha!“ rief der Nidianer voller Ungeduld mit einer Kopfbewegung zum Bildschirm, auf dem nicht etwa die Bilder von einem der Unterhaltungskanäle zu sehen waren, sondern Zahlenkolonnen. „Diesen Unterschied nicht zu kennen ist der Fluch, unter dem all diejenigen stehen, die mit Leib und Seele bei der Sache sind. Doch wenn das stimmt, was ich über Sie gehört habe, dann leiden Sie unter demselben Problem. Was genau wollen Sie denn nun von mir?“ „Auskünfte über die Vorgehensweise bei Bestellungen, Ihre Hilfe und Ihre Diskretion“, antwortete Gurronsevas frei heraus; die unverblümte Sprechweise des Nidianers war offenbar ansteckend. „Erklären Sie mir das“, forderte ihn Creon-Emesh auf. Wenngleich nicht allzu ansteckend, dachte Gurronsevas. Dies waren Umstände, unter denen mehr als nur ein paar erklärende Worte erforderlich waren. „Als ich ans Orbit Hospital gekommen bin, hatte ich nur wenige persönliche Habseligkeiten dabei, weil Tralthaner, wie Sie sehr gut wissen, keine Kleidung tragen und das Anlegen von Körperschmuck verachten“, erläuterte er. „Statt dessen habe ich eine Reihe von Krautern, Gewürzen und anderen würzigen Zutaten mitgebracht, die auf Traltha, auf der Erde, auf Nidia und auf anderen Planeten wachsen, auf denen Nahrungsmittel mit Phantasie und Einfallsreichtum zubereitet oder gekocht werden und nicht nur, um irgendwelche schädlichen Bakterien abzutöten, die sie enthalten könnten. Aus diesem persönlichen Vorrat habe ich verschiedene Zutaten verwandt, um die Standardgerichte einiger Testpersonen abzuwandeln, und diese abgewandelten Gerichte möchte ich nun zusammen mit einer Anzahl weiterer Verbesserungen, die ich plane, in die Speisekarte der Hauptkantine aufnehmen. Wenn ich gezwungen bin, das Hospital zu verlassen, würde ich mich gern an etwas anderes als an den Unfall auf dem Ladeplatz zwölf erinnern oder an die Zerstörung der Station der Chalder oder an.“ „Jaja, dafür habe ich vollstes Verständnis“, unterbrach ihn Creon-Emesh ungeduldig. „Aber was genau soll ich für Sie tun?“ „Solange es sich um einzelne Gerichte handelt, verbrauche ich von den Zutaten nur ganz geringe Mengen“, fuhr Gurronsevas fort, „doch wenn diese Gerichte in die allgemeine Speisekarte aufgenommen werden sollen — was ich von Anfang an beabsichtigt hatte—, wird der kleine Vorrat, den ich von Nidia mitgebracht habe, innerhalb einer Woche aufgebraucht sein.“ „Dann bestellen Sie doch einfach, was Sie brauchen“, schlug ihm Creon-Emesh vor. „Schließlich haben Sie ein Budget.“ „Ja, sogar ein üppiges, aber das reicht bedauerlicherweise nicht aus“, antwortete Gurronsevas mit betrübter Stimme. „Deshalb wollte ich ja mit Colonel Skempton sprechen, um mein Budget aufstocken zu lassen. Die Zutaten, die ich brauche, stammen von vielen verschiedenen Planeten, und allein die Transportkosten würden mein Budget um ein Vielfaches übersteigen.“ Creon-Emesh stieß plötzlich ein scharfes Bellen aus. „Sie sind ja naiver als das Monitorkorps erlaubt, Gurronsevas, und zweifellos sind Sie zu beschäftigt gewesen, um dieses Problem mit jemandem von der Beschaffungsabteilung zu besprechen. Doch Sie interessieren sich ausschließlich dafür, wie man die Nahrungsmittel zubereitet, und nicht dafür, wie sie zu uns gelangen. Wären Sie Skempton nicht ein Dorn im Auge geworden, hätte er Sie über unsere Vorgehensweisen unterrichtet, und zwar so, wie ich es jetzt tun werde. Hören Sie mir also genau zu. Wie Sie ja bereits wissen, ist das Monitorkorps für die Versorgung und Wartung des Orbit Hospitals verantwortlich“, fuhr der Nidianer rasch fort. „Für diese Zwecke verwendet das Korps einen sehr geringen Teil des Gesamtetats der Föderation, und aus diesem Topf müssen neben den Versorgungsgütern auch sämtliche Dienstleistungen finanziert werden. Zur Versorgung gehört nicht nur, daß man uns auf jede Spezies abgestimmte chirurgische Instrumente und Geräte, Medikamente, fremde Atmosphären und natürlich die Nährstoffsubstanzen zum Auffüllen der Synthesizertanks liefert, sondern auch die Nahrungsbehälter für die Hudlarer und Illensaner, bei denen die Einfuhr als Fertigprodukt praktischer ist als die eigene Herstellung. Zudem bringen uns die Mitarbeiter des Monitorkorps Patienten, deren Behandlung die medizinischen Möglichkeiten der Krankenhäuser auf den Föderationsplaneten übersteigt und die uns von dort zur Heilung überwiesen werden, oder die Opfer von Raumunfällen oder neu entdeckte Lebensformen, die verletzt oder krank sind oder eine sonstige medizinische Versorgung benötigen. Weil die Schiffe des Korps nicht speziell für umfangreiche Frachttransporte gebaut sind, werden Schiffe wie die Trivennleth gechartert, um diese Aufgabe zu erledigen. Von daher ist es Ihnen innerhalb des Ihnen gewährten Budgets mit ein bißchen phantasievoller Buchführung durchaus möglich, in jedem Teil der erforschten Galaxis Zutaten zu kaufen und die Transportkosten aus dem Gesamtetat des Monitorkorps für Versorgung und Wartung des Hospitals zu bezahlen, der viel zu groß ist, als daß man sich um die von Ihnen verursachten, relativ geringen Kosten Gedanken machen würde. Verstehen Sie, was ich Ihnen damit sagen will?“ Es war, als hätten die künstlichen Schwerkraftgitter im Boden versagt und Gurronsevas würde gleich nach oben schweben, so groß war der Stein, der ihm gerade vom Herzen gefallen war. Doch bevor er die richtigen Worte finden konnte, um seine Dankbarkeit auszudrücken und zu sagen, daß er den Hinweis sehr wohl verstanden habe, fuhr Creon-Emesh schon mit seiner leicht bellenden Stimme fort. „Natürlich betrifft Sie der Teil, der mit der Wartung des Hospitals zusammenhängt, nicht — obwohl Sie erst kürzlich Anlaß zu einer ganzen Menge Reparaturarbeiten, die noch immer am Gebäude durchgeführt werden müssen, Anlaß gegeben haben. Haben Sie zufällig eine Liste der Sachen dabei, die Sie brauchen?“ „Jaja, danke auch“, stammelte Gurronsevas. „Die wichtigsten Sachen habe ich mir allerdings eingeprägt. Aber wird das, was Sie für mich tun, nicht dazu führen, daß Sie Skempton genauso ein Dorn im Auge sein werden wie ich? Oder könnten Ihre Aufstiegschancen dadurch nicht auf andere Weise beeinträchtigt werden? Und sind Sie sicher, daß sich all das vor dem Colonel verheimlichen läßt?“ „Um Ihre drei Fragen der Reihenfolge nach zu beantworten, nein, nein und nein“, entgegnete Creon-Emesh ungeduldig. „Dem Colonel läßt sich nichts verheimlichen, das verhindert schon das Verfahren, nach dem wir vorgehen. Skempton wird alles, was wir tun, verfolgen können, doch er hat selbst oft genug gesagt, das Leben sei zu kurz, um kostbare Zeit mit der Überprüfung jeder einzelnen Bestellung zu vergeuden, von denen durchschnittlich mehrere tausend pro Tag eingehen. Das überläßt er lieber Untergebenen wie mir, denen er vertraut, die aber ganz offensichtlich nicht vertrauenswürdig sind. Solange die Erkennungscodes, die Flugstreckenanweisungen und die Bestellmengen nicht ungewöhnlich sind, werden Ihre Bestellungen ohne Frage angenommen werden. Falls bei einem der Artikel die Wahrscheinlichkeit bestehen sollte, daß er das Mißtrauen der Versorgungsabteilung erregt, werde ich Sie auffordern, noch einmal darüber nachzudenken. Und vergessen Sie nicht: von vornherein viel anzufordern ist besser, als regelmäßig kleine Mengen nachzubestellen, denn dadurch würde sich nur das Risiko vergrößern, daß man herausfindet, was Sie tun. Was brauchen Sie denn hauptsächlich?“ Der Tralthaner versuchte, dem kleinen Nidianer erneut zu danken, doch dieser schien ausschließlich daran interessiert zu sein, was Gurronsevas benötigte. Und da von Creon-Emesh die ganze Zeit über keinerlei Einwände kamen, wurden seine Forderungen immer anspruchsvoller und unverschämter. Doch erhielt seine wachsende Begeisterung schließlich einen Dämpfer, als der Nidianer plötzlich ein lautes Bellen ausstieß und die beiden kleinen Hände hob. „Nein, nein!“ wehrte er in entschiedenem Ton ab. „Morgens gepflückte orligianische Crelgiblätter können Sie nicht bekommen. Gurronsevas, seien Sie doch vernünftig!“ „Ich bin vernünftig“, widersprach Gurronsevas. „Die Blätter intensivieren auf unaufdringliche Weise den Geschmack von Speisen über alle Grenzen zwischen den Spezies hinweg und werden mittlerweile allgemein von den Köchen vieler warmblütiger sauerstoffatmender Lebensformen verwandt. Aber ich bin nicht nur vernünftig, sondern auch sehr enttäuscht.“ „Und vergeßlich sind Sie obendrein“, warf ihm der Nidianer vor. „Die Blätter würden hier frühestens drei Tage nach dem Pflücken eintreffen, weil sie gar nicht schneller durch den Hyperraum hergeschafft werden können. Unsere orligianische Beschaffiingsstelle hätte zwar keinerlei Probleme, die Blätter zu besorgen, doch ein Sprung durch den Hyperraum wird nur für dringend benötigte Medikamente oder für den Transport eines schwerkranken Patienten angeordnet. Bloß wegen einer Kiste Krauter einen sonst nur im Notfall durchgeführten Hyperraumflug von Orligia zum Orbit Hospital zu unternehmen würde ganz sicher die Aufmerksamkeit des Colonels erregen, und deshalb muß ich Ihnen diese Bitte abschlagen. Finden Sie sich mit gefriergetrockneten Blättern ab, die ganz normal als Frachtgut geliefert werden, und ich bin einverstanden.“ Gurronsevas dachte kurz nach und sagte dann: „Auf der Erde gibt es einen Ersatz, ein Gewürz namens Muskatnuß. Der Geschmacksunterschied ist so gering, daß ihn nur der allerfeinste Gaumen erkennt, und die Nüsse vertragen den Transport sehr gut. Mit Muskatnuß habe ich bereits die genießbare Schmutzkruste der mit hoher Temperatur gebackenen corellianischen Struul-Gerichte gewürzt, um dem ansonsten faden Fisch mehr Geschmack zu geben. Und auf Nidia hat die Soße, die ich zu Ihrem geschmorten Criggleyut bereitet habe, einen Hauch geriebenen Muskat enthalten, und zwar zur Betonung des.“ „Sie beabsichtigen, Criggleyut auf die Speisekarte zu setzen?“ unterbrach ihn Creon-Emesh aufgeregt. „Das ist eins meiner Lieblingsgerichte, seit mir das erste Haar meines Erwachsenenpelzes gesprossen ist!“ „Bei der erstbesten Gelegenheit“, bestätigte Gurronsevas und fügte dann hinzu: „Für die Zubereitung der nidianischen Gerichte und die anderer Spezies würden etwa fünfundzwanzig Kilo Muskatnuß genügen.“ Creon-Emesh schüttelte den Kopf. „Sie haben mir nicht zugehört, Gurronsevas. Ohne es Ihnen gegenüber zu erwähnen, habe ich die Mengen, die Sie bereits bestellt haben, verdrei- und vervierfacht, weil Sie einfach nicht genügend verlangen. Kleine Mengen erregen Aufmerksamkeit. Die Arbeiter auf dem Entladeplatz könnten alle kleinen Frachtstücke statt für Kisten mit Lebensmitteln für falsch gekennzeichnete Behälter mit dringend benötigten Medikamenten halten und diese zur Überprüfung öffnen, und das würde Skempton auf Sie aufmerksam machen. Bei einem Gewürz, das sich bei derart vielen Spezies großer Beliebtheit erfreut und lange lagerfähig ist, schlage ich eine Mindestbestellmenge von fünf Tonnen vor.“ „Aber ich verwende es doch nur in winzigen Mengen“, protestierte Gurronsevas. „Mit fünf Tonnen Muskatnuß würden wir ja hundert Jahre auskommen!“ „Ich schätze, in hundert Jahren wird das Orbit Hospital immer noch existieren und die Patienten werden sich nach wie vor Nahrung in die Eßöffnungen schieben“, meinte Creon-Emesh. „Gibt es sonst noch was? Ich würde nämlich gern noch eine Partie Bominyat mit Ihnen spielen, bevor Sie gehen.“ 14. Kapitel Der Besuch in der pathologischen Abteilung des Hospitals erinnerte Gurronsevas an Nidia und daran, wie er täglich zu den Metzgereien für verschiedene Spezies gegangen war, um frisches Fleisch für die Gerichte zu kaufen, die im Cromingan-Shesk auf der Fleisch- und Allesfresserkarte standen. Hier im Orbit Hospital durfte er nicht offen sichtbar ganze oder teilweise zerlegte Tiere servieren, weil diese einmal Intelligenz besessen harten und die Vorschriften des Hospitals in diesem Punkt streng waren: Kein echtes, frisches oder ungefrorenes Fleisch durfte jemals verwendet werden. Thornnastor, der leitende Diagnostiker der Pathologie, der wegen der vielen im Kopf gespeicherten Schulungsbänder immer gleich mehrfach geistesabwesend war, sprach zwar nur selten mit Gurronsevas, doch die Äußerungen von Pathologin Murchison und den übrigen Mitarbeitern der Abteilung waren hilfreich, freundlich und, wie in diesem Fall, sogar schmeichelhaft. „Guten Morgen“, begrüßte ihn Murchison, wobei sie von irgend etwas Organischem aufblickte, das sie gerade mit dem Scanner untersuchte und das Gurronsevas nicht identifizieren konnte. „Sie haben uns schon wieder überrascht. Mein Mann, Diagnostiker Conway also, bedankt sich vielmals für das, was Sie mit den synthetischen Steaks angestellt haben, wie übrigens auch ich und sicherlich eine ganze Reihe anderer Terrestrier. Das war erstklassige Arbeit, Gurronsevas.“ Als leitender Diagnostiker der Chirurgie war Conway in der medizinischen Rangordnung lediglich Thornnastor untergeordnet, und zudem handelte es sich bei ihm um Murchisons Lebensgefährten. In Gurronsevas’ momentaner Lage konnte ihm die Dankbarkeit wichtiger Mitarbeiter des Hospitals nur nützlich sein. Er war höchst erfreut und sagte bescheiden: „Ich habe nur wenig verändert, vor allem die Weise, auf die das Steak zubereitet wird. Das ist nur eine Kleinigkeit gewesen, eine Umsetzung der Erkenntnisse aus der Psychologie des Essens, nichts weiter.“ „Ihre Ersatzkost für Diagnostiker ist keine Kleinigkeit“, warf Thornnastor ein, wobei er Gurronsevas ein Auge zuwandte und ihn zum ersten Mal seit drei Tagen direkt ansprach. Dem konnte Gurronsevas nur beipflichten. Seiner Ansicht nach waren sämtliche Diagnostiker und Chefärzte des Hospitals, die mit anderen Spezies zusammenhängende Lehraufträge hatten, wenig mehr als verkrüppelte Feinschmecker gewesen, die von dem Alien, von dem das jeweilige Schulungsband stammte und mit dem sie ihren Geist teilen mußten, mehr oder weniger behindert wurden, da dieser ihnen oftmals seine eigenen fremdartigen Standpunkte, Gefühlsreaktionen und — zwangsläufig — Vorlieben beim Essen aufzwang. Wie Gurronsevas gehört hatte, waren die Schulungsbänder für den Betrieb des Orbit Hospitals unverzichtbar, da kein Arzt, wie brillant oder begabt er auch war, das gesamte physiologische und pathologische Wissen im Kopf behalten konnte, das für die Behandlung derart vieler Patienten verschiedener Spezies erforderlich war. Doch mit den Bändern im Kopf wurde das Unmögliche zur reinen, wenn auch manchmal unangenehmen Routine. Ein Arzt, der einen Patienten von einer anderen Spezies zu behandeln hatte, speicherte bis zum Abschluß der Behandlung die Aufzeichnung der Gehirnströme einer medizinischen Kapazität von derselben Spezies im Gehirn. Danach ließ er diese Aufzeichnungen wieder löschen, weil mit dem Schulungsband die gesamte Weltanschauung des Bandurhebers übertragen wurde, obwohl dieser eigentlich gar nicht gegenwärtig war und der Bandbesitzer sich dessen auch bewußt war. Doch eine unstoffliche Persönlichkeit, die früher auf ihrem Gebiet führend gewesen war, ordnete sich nicht so leicht unter, so daß in vielen Fällen der Eindruck vermittelt wurde, nicht mehr der Bandbesitzer, sondern der Bandurheber habe das Sagen. Lediglich Chefärzten und Diagnostikern, deren geistige Stabilität erwiesen war und die ständige Lehraufträge hatten oder an laufenden Forschungsprojekten arbeiteten, war es gestattet, ihre Bänder über lange Zeiträume im Kopf gespeichert zu lassen — doch dieses Vorrecht hatte offenbar seinen Preis. Psychologische Probleme gingen Gurronsevas nichts an, auch wenn er vielleicht eins davon gelöst hatte. Nach und nach führte er immer mehr Ersatzgerichte für Diagnostiker in der Speisekarte auf, und schon bald könnte er jeder Lebensform, die beim höheren Arztpersonal vertreten war, die geeignete Mahlzeit anbieten. Nicht länger würde man beobachten müssen, wie Wesen wie Thornnastor — der über einen für einen Tralthaner von seiner Größe normalen Appetit verfügte — auf ihren Bänken am Eßtisch saßen und die in dem vergeblichen Bemühen, das Essen vor ihrem artfremden Alter ego zu verbergen, die Augen vom Teller abwandten, weil sich dessen Ekel sonst auf den Bandbesitzer übertragen hätte. Jetzt konnte ein Kantinenbesucher, der von einem Schulungsband geplagt wurde, einfach das Gericht bestellen, das er benötigte, und darum bitten, es so auf dem Teller anzurichten, daß der Bandurheber seine gute Laune behielt — und die Fälle von Angehörigen des höheren Arztpersonals, die zeitweilig unfreiwillig in Hungersnot gerieten, dürften bald der Vergangenheit angehören. Wie Gurronsevas zu Ohren gekommen war, hatte sogar der scharfzüngige Chefpsychologe O’Mara ansatzweise Schmeichelhaftes über diese speziellen Veränderungen geäußert. Doch jemand, der als führender Vertreter der Kochkunst für verschiedene Spezies in der ganzen Föderation anerkannt war, sollte sich lieber in Bescheidenheit üben. „Sie haben völlig recht: das war wirklich keine Kleinigkeit“, sagte Gurronsevas zu Thornnastor. „Doch im Grunde handelt es sich nur um einen simplen, wenn auch glänzenden Einfall von mir — einer von den vielen, die noch folgen werden.“ Thornnastor gab das tiefe Stöhnen von sich, mit dem sich ein Tralthaner um den anderen besorgt zeigt und ihn zur Zurückhaltung ermahnt. Murchison faßte schließlich diese wortlose Mahnung in Worte. „Seien Sie vorsichtig, Gurronsevas“, sagte sie. „Nach dem Zwischenfall mit der Trivennleth sollten Sie es lieber nicht darauf ankommen lassen, mit allen Mitteln auf sich aufmerksam zu machen.“ „Vielen Dank für Ihre Besorgnis, Pathologin Murchison“, sagte Gurronsevas, „aber ich werde durch die Überzeugung bestärkt, daß jemandem wie mir, der einzig und allein für das Allgemeinwohl arbeitet, nichts allzu Unerfreuliches zustoßen kann.“ Murchison lachte leise. „Sofern Ihr Besuch bei uns nicht bloß dem geselligen Beisammensein dient — was ja ein einzigartiges Phänomen wäre—, welche Probleme machen Ihnen denn heute zu schaffen?“ Gurronsevas schwieg einen Augenblick, um seine Gedanken zu ordnen, und antwortete dann: „Genaugenommen habe ich zwei Probleme. Was das erste betrifft, brauche ich Ihren Rat zu den Veränderungen, die ich am Nahrungspräparat der Hudlarer vorzunehmen gedenke.“ Kurz berichtete er von seinem Besuch auf der Trivennleth und dem Einfall, der ihm in dem unaufhörlichen künstlichen Sturm gekommen war, durch den zahllose Insekten durch das Freizeitdeck des Schiffs gepeitscht wurden. Dann holte er die Probenflasche hervor und deutete auf einige der Insekten, die immer noch versuchten, sich durch Stechen oder Beißen einen Weg durch die transparenten Wände ins Freie zu bahnen. Den Hudlarern zufolge hatten die Stiche dieser Insekten auf die Absorptionsorgane eine wohltuende und appetitanregende Wirkung, die keineswegs schädlich war und ihnen den Eindruck vermittelte, sich in der dicken, suppenartigen und für sie frischen Atmosphäre ihres Heimatplaneten aufzuhalten. „Obwohl sich die hudlarischen Mitarbeiter sehr darüber freuen würden, ist mir klar, daß es unangebracht ist, einen Schwärm ihrer einheimischen Insekten in der FROB-Abteilung freizusetzen“, fuhr Gurronsevas fort. „Statt also die Insekten freizulassen, habe ich vor — die Zustimmung und Mitarbeit der pathologischen Abteilung vorausgesetzt—, den Inhalt ihrer Giftdrüsen analysieren und dem Nahrungspräparat eine Spur der giftigen Substanz beimengen zu lassen, die weit unter einem Volumenprozent liegen wird. Falls man den Giftstoff in Form eines feinen Pulvers herstellen könnte, wäre es durch eine einfache Veränderung des Sprühkopfs möglich, ab und zu winzige Giftmengen in das herausspritzende Nahrungspräparat zu mischen, so daß die Absorptionsorgane von dem gelösten Gift genauso zufällig gereizt würden wie von den echten Insektenstichen.“ „Das kann ich einfach nicht glauben!“ fiel ihm Thornnastor ins Wort, wobei er alle vier Augen in Gurronsevas’ Richtung drehte. „Haben Sie vergessen, daß dies hier ein Hospital ist, in dem wir Patienten heilen und nicht versuchen sollen, sie zu vergiften? Sie haben ernsthaft vor, den Hudlarern absichtlich Gift ins Essen zu mischen, und wir sollen Ihnen dabei auch noch helfen?“ „Das ist vielleicht eine etwas zu dramatische Vereinfachung, aber im Grunde ist es genau das, was ich will“, antwortete Gurronsevas. Murchison schüttelte zwar ablehnend den Kopf, hatte jedoch die Zähne entblößt. Weder sie noch Thornnastor sagten etwas. „Zwar bin ich selbst kein Arzt“, fuhr Gurronsevas fort, „aber alle medizinisch ausgebildeten Hudlarer, mit denen ich diesen Einfall besprochen habe, stimmen mit mir überein, daß sie mehr Freude am Essen hätten, wenn man dem Nahrungspräparat winzige Mengen Gift hinzufügen würde, und sie sind sich alle ganz sicher, daß es keine schädlichen Auswirkungen hätte. Wenn ich allerdings an die Spätfolgen denke, die das Kauen von orligianischem blauen Hanf, das Rauchen terrestrischen Tabaks oder das Trinken von gegärtem dwerlanischen Scrant hat, bin ich in Fragen des subjektiven Genusses Gewißheiten gegenüber eher mißtrauisch. Deshalb bitte ich Sie um Ihre Hilfe, um herauszufinden, ob diese Veränderung der hudlarischen Kost schädlich ist oder nicht. Aber falls sie unbedenklich ist, dann denken Sie bloß mal an die Folgen“, setzte Gurronsevas seine Ausführungen fort, ohne den anderen die Chance zu einer Antwort zu geben. „Keine Hudlarer brechen mehr aus Nahrungsmangel zusammen, weil das Präparat so fade ist, daß sie glatt vergessen haben, es sich aufzusprühen. Im Gegenteil, sie denken immer daran, weil sie der nächsten Mahlzeit mit freudiger Erwartung entgegensehen. Und falls sich das veränderte Präparat hier im Hospital als erfolgreich erweist, gibt es keinen Grund, weshalb es nicht auch auf Schiffen, Bauplätzen im All und überall, wo Hudlarer fern von ihrem Heimatplaneten arbeiten, eingeführt werden sollte. Obendrein wäre es für den Großen Gurronsevas ein weiterer kulinarischer Triumph, der in der gesamten Föderation widerhallen würde, obwohl ich Ihnen versichern kann, daß so etwas für mich keine große Rolle spielt. Selbstverständlich würde ich mich Ihrer Abteilung sehr verpflichtet fühlen, für den Rat und die Hilfe, die Sie mir gewährt ha.“ „Ich verstehe“, schnitt ihm Thornnastor das Wort ab. „Doch falls sich die von Ihnen beabsichtigten Veränderungen als ungefährlich herausstellen sollten, wären sie für mich wichtig genug, um sie bei der nächsten Diagnostikerversammlung zu besprechen, bei der bedauerlicherweise auch Colonel Skempton zugegen sein wird. Wollen Sie das Risiko eingehen, seine Aufmerksamkeit zu erregen?“ „Nein, natürlich nicht“, antwortete Gurronsevas in entschiedenem Ton. Nach einer kurzen Pause fuhr er fort: „Wenngleich ich mit der Vorstellung kaum leben kann, den Hudlarern bloß aus eigener moralischer Feigheit eine Veränderung des Essens vorenthalten zu haben, noch dazu eine, bei der sich vielleicht vorteilhafte und weitreichende Folgen für sämtliche Speziesangehörige ergeben, die sich nicht auf dem Heimatplaneten aufhalten.“ Bevor er etwas entgegnete, richtete Thornnastor wieder drei Augen und einen Teil seiner Aufmerksamkeit auf den Untersuchungstisch. „Lassen Sie Pathologin Murchison die Insekten da“, meinte er. „Haben Sie vorhin nicht noch von einem zweiten Problem gesprochen?“ „Ja“, bestätigte Gurronsevas, wobei er sich bereits zum Gehen wandte. „Dabei handelt es sich allerdings eher um ein technisches als um ein medizinisches Problem. Es geht darum, ein neues Gericht eine genau berechnete Zeit lang mit Hochtemperatur zu backen, so daß die genießbare Kruste hart ist, während die Füllung kalt bleibt. Dafür brauche ich nichts weiter zu tun, als den Wartungsebenen, auf denen ich mich bereits gut auskenne, wieder einmal einen längeren Besuch abzustatten, um mich mit den Nahrungsvertriebs- und Wärmetauschsystemen neben dem Fusionsreaktor vertraut zu machen. Das Ganze ist weder mit giftigen Zusätzen noch mit Veränderungen oder Gefahren für bestehende Bauteile und Anlagen verbunden. Das Verfahren, das ich im Auge habe, ist absolut sicher, und es kann gar nichts schiefgehen.“ „Das glaube ich Ihnen“, sagte Pathologin Murchison, als sie von Gurronsevas die Probenflasche entgegennahm, „aber warum habe ich so ein ungutes Gefühl dabei?“ Als sich Major O’Mara acht Tage später mit beachtlichem psychosomatischem Erfolg bemühte, Gurronsevas durch eine Standpauke das dicke tralthanische Fell über die Ohren zu ziehen, erinnerte sich dieser nur zu gut an Murchisons Worte und an sein eigenes dummes Gefühl der Gewißheit. Und seine Erklärungs- und Entschuldigüngsversüche trugen lediglich dazu bei, den Chefpsychologen noch mehr in Rage zu bringen. „…es ist mir ganz egal, ob es bloß ein einfacher technischer Vorgang gewesen ist, der alle zwei Wochen von Wartungstechnikern routinemäßig durchgeführt wird“, sagte O’Mara leise in einem eigenartigen Ton, der mit abnehmender Lautstärke immer zorniger zu werden schien. „Auch daß laut Wartülngshandbüch derartige Störungen von Bauteilen normal sind und wegen der Hilfsanlage kein Grund für einen Alarm bestanden hat, interessiert mich nicht. Diesmal waren Sie dort, und das ist normalerweise Grund genug für eine Katastrophe. Statt eines schadhaften Reinigungskolbens, der eine Leitung zur Notversorgung mit Kühlmittel verstopft hat und den man hätte herausholen müssen, haben die Sensoren eine große Menge unbekannter Asche angezeigt, die dort nicht hätte sein dürfen. Aufgrund der Befürchtung, die Asche deute auf eine schwerwiegende Verseuchung hin, ist der Reaktor abgeschaltet und das gesamte Hospital in Alarmbereitschaft versetzt worden.!“ „Die Asche ist harmlos“, warf Gurronsevas sein. „Dabei handelt es sich um ein einfaches organisches Gemisch aus.“ „Wir wissen, daß die Asche harmlos ist!“ unterbrach ihn der Chefpsychologe. „Das haben Sie mir ja schon gesagt, und auch, was Sie damit anzustellen versucht haben. Aber die Mitarbeiter der Wartungsabteilung haben davon bisher keine Ahnung und untersuchen zur Zeit mit äußerster Sorgfalt Umstände, die ihrer Ansicht nach außergewöhnlich und möglicherweise lebensbedrohend sein könnten. Nach meiner Schätzung brauchen die wenigstens zwei Stunden, um die Wahrheit herauszufinden und Colonel Skempton davon zu unterrichten, der dann bestimmt mit mir sprechen will. Und zwar wieder einmal über Sie!“ O’Mara machte eine kurze Pause, und als er fortfuhr, schien der Zorn in seiner Stimme von Mitleid gemildert zu werden. „Zu dem Zeitpunkt werde ich dem Colonel mit absoluter Sicherheit mitteilen können, daß Sie das Hospital verlassen haben.“ „Aber. aber Sir!“ protestierte Gurronsevas. „Das ist ungerecht! Die Störung des Bauteils ist ein Unfall gewesen! Ich habe nur am Rande damit zu tun gehabt, und der Verstoß ist doch verzeihlich. Außerdem — zwei Stunden! Das ist eine unzumutbare Zeitbeschränkung. Ich habe noch jede Menge Anweisungen, die ich dem Personal am Nahrungssynthesizer geben muß, und.“ „Wir können es uns beide nicht leisten, Zeit damit zu vergeuden, uns über die Auffassungen von Gerechtigkeit und zumutbarem Verhalten zu streiten“, fiel ihm O’Mara mit leiser Stimme ins Wort, „und Zeit für persönliche Verabschiedungen werden Sie auch nicht haben. Lioren wartet bereits, um Ihnen beim Räumen Ihrer Unterkunft zu helfen und Sie unverzüglich zum Schiff zu führen, das.“ „Wohin fliegt es denn?“ „…das Sie nach Erfüllung des eigentlichen Auftrags entweder hierher zurückbringt, damit Sie sich Ihrem Schicksal stellen, oder mit Ihnen zu einem Planeten Ihrer Wahl fliegt, immer vorausgesetzt, Sie begehen nicht irgendeine Dummheit, die den Captain verärgert“, fuhr O’Mara fort, wobei er Gurronsevas Frage gar nicht beachtete, da er sie ohnehin beantwortete. „Welche Beschäftigung sich auch an Bord für Sie ergibt, bemühen Sie sich bitte, nicht in Schwierigkeiten zu geraten. Viel Glück, Gurronsevas. Und jetzt verschwinden Sie, und zwar sofort!“ 15. Kapitel Im Gegensatz zu O’Mara konnte man mit Lioren vernünftig reden, zumindest insofern, daß ihn Gurronsevas davon überzeugen konnte, die beim Räumen der Unterkunft eingesparte Zeit dafür zu nutzen, seinen Lebensmitteltechnikern anständige Anweisungen zu hinterlassen. Doch auch so gingen viele kostbare Minuten verloren, weil Gurronsevas’ Untergebene mehr Zeit darauf verwandten, seine Abreise zu bedauern und ihm alles Gute zu wünschen, als seinen Anweisungen zuzuhören — und das in einem derartigen Ausmaß, daß Gurronsevas völlig bestürzt war, als die Zeit abgelaufen war und er das Hospital verlassen mußte. Er hatte jedoch keine besonders weite Reise anzutreten. „Das. das verstehe ich nicht“, protestierte er. „Dies hier ist ein Schiff. Ein kleines, unbemanntes Schiff, dessen Energieversorgung — nach der Stille und der schwachen Beleuchtung zu urteilen — heruntergefahren ist, und das hier ist auch keine Passagierkabine. Wo bin ich überhaupt? Was soll ich hier?“ „Wie Sie jetzt sehen können, befinden Sie sich auf dem Unfalldeck der Rhabwar, eines speziellen Ambulanzschilfs“, klärte Lioren ihn auf, wobei er die Beleuchtung einschaltete, „und Sie sollen hier geduldig und ganz ruhig auf den Abflug warten. Während Sie dies tun, werden die wenigen, die Ihren derzeitigen Aufenthaltsort kennen, mit einem Minimum an moralischen Bedenken behaupten können, Sie befänden sich nicht mehr im Hospital, weil das genaugenommen der Wahrheit entspricht. Als Tralthaner sind Sie es ja gewohnt, im Stehen zu schlafen, und körperlich werden Sie sich hier wohl fühlen“, fuhr er fort. „Versuchen Sie nicht, das Schiff zu erkunden. Abgesehen von dieser Ebene ist das Schiff für den Betrieb durch Terrestrier oder andere Lebensformen von gleicher oder geringerer Körpergröße bestimmt. Die Offiziere und das medizinische Team der Rhabwar werden sich Ihnen gegenüber sehr viel freundlicher verhalten, wenn Sie den Rumpf und die Ausrüstung nicht beschädigen. Der Essensspender des Unfalldecks befindet sich dort“, erklärte Lioren weiter, wobei er auf den bezeichneten Gegenstand deutete, „und die Computerkonsole im Personalraum dort drüben ermöglicht es Ihnen, sämtliche Informationen über die Rhabwar abzurufen, die Sie irgendwie gebrauchen könnten. Sehen Sie sich diese Informationen vor dem Abflug ganz genau an! Sollten Sie sich langweilen, können Sie auch die Schulungsund Bildungskanäle anschalten, aber benutzen Sie nicht den Kommunikator, denn offiziell sind Sie ja gar nicht hier. Tun Sie nichts, womit Sie Aufmerksamkeit erregen könnten. Verlassen Sie auf gar keinen Fall das Schiff, auch nicht ganz kurz, und zeigen Sie sich vor allem nicht im Bordtunnel oder Einstiegsgang. Ich werde so oft wie möglich bei Ihnen vorbeischauen.“ „Ach, bitte“, sagte Gurronsevas. „Bin ich so eine Art blinder Passagier? Weiß die Besatzung, daß ich hier bin? Und wie lange muß ich warten?“ Lioren blieb in der Schleusenkammer stehen. „Über Ihre genaue Rolle hier an Bord hat man mir nichts gesagt. Das medizinische Team der Rhabwar weiß, daß Sie hier sind, aber nicht die Schiffsoffiziere. Deshalb dürfen die auch nicht vor dem ersten Sprung in den Hyperraum mitbekommen, daß Sie an Bord sind. Wie lange Sie warten müssen, weiß ich nicht. Nach dem, was mir zu Ohren gekommen ist, etwa fünf Tage, vielleicht aber auch länger. Die Verantwortlichen haben offenbar noch Probleme, sich zu entscheiden. Falls ich in dem Punkt etwas Sicheres erfahre, teile ich Ihnen das sofort mit.“ Bevor Gurronsevas an eine weitere Frage denken konnte, verschwand Lioren im Bordtunnel. Der Tralthaner wartete kurz, bis sich die Verwirrung in seinem Kopf gelegt und in Neugier verwandelt hatte. Dann machte er sich daran, die Umgebung genauer zu untersuchen, indem er sich mit größter Vorsicht fortbewegte und die Füße auf nichts setzte, das nicht mindestens so stabil wie der Boden war. Jede Wand des Raums war von einem großen Sichtfenster durchbrochen. Eins dieser Fenster zeigte eine ausgedehnte Metallfläche ohne besondere Merkmale, bei der es sich wahrscheinlich um die Außenhülle des Hospitals handelte, ein anderes einen Teil des Andockgerüsts, und aus den übrigen beiden sah man nach draußen über die blendend weiße Oberfläche der Deltaflügel der Rhabwar. Von den Wandbereichen um und zwischen den Fenstern ragten Apparaturen in den Raum hinein, deren Verwendungszweck für Gurronsevas selbst dann ein vollkommenes Rätsel dargestellt hätte, wenn sie richtig beleuchtet gewesen wären. In der Mitte des Bodens und der Decke befanden sich die runden Einstiegsöffnungen des Verbindungsschachts, durch den man auf die Ebenen vor und hinter dem Unfalldeck gelangte. Der Schacht war mit einer Leiter für verschiedene Spezies ausgestattet, für einen Tralthaner jedoch zu eng. Rings um die Computerkonsole, auf die Lioren gedeutet hatte, standen zahlreiche Gegenstände, bei denen es sich offenbar um abgeschaltete medizinische Überwachungsgeräte handelte. Da sich Gurronsevas immer noch zu verwirrt und uninformiert fühlte, um konstruktiv denken zu können, rief er die Hauptdatenbank des Hospitals auf, gab als Sprache der Textdarstellung auf dem Monitor Tralthanisch ein, schaltete die zusätzliche Sprachausgabe an und forderte die verfügbaren Informationen über das AmbulanzschiffRhabwar an. Auf dem Bildschirm flammte eine Mitteilung auf, die von der Sprachausgabeeinheit mit herablassender Stimme wiederholt wurde. „Die Informationen zu diesem Thema sind ohne Zugriffsbeschränkung abrufbar“, verkündete die Stimme. „Bitte geben Sie genau an, was Sie wissen wollen, oder wählen Sie aus den folgenden Möglichkeiten aus: Philosophie der Schiffskonstruktion. Grundriß des Schiffs. Technische und medizinische Systeme, Subsysteme und Anlagen. Betriebsenergiereserven und Einsatzdauer. Spezialgebiete der Besatzung und des medizinischen Personals. Medizinisches Logbuch der bisherigen Einsätze. Kurze nichttechnische Übersicht.“ Als Gurronsevas den letzten Punkt aus dem Menü auswählte, fühlte er sich wie ein ungebildetes Kind. Doch als die zu diesem Punkt vorhandenen Informationen auf dem Monitor erschienen und gleichzeitig vom Lautsprecher verkündet wurden, verwandelte sich diese Empfindung schnell in Überraschung und Verwunderung; denn die Übersicht begann mit einer Lektion in Geschichte, mit einer illustrierten Erörterung der Entstehung und Entwicklung der Allianz, aus der sich die heutige galaktische Föderation gebildet hatte, und zwar aus einem philosophischen Blickwinkel, der Gurronsevas vollkommen neu war. Auf dem Bildschirm erschien eine kleine, aber messerscharfe dreidimensionale Darstellung der galaktischen Doppelspirale mit ihren wichtigsten stellaren Merkmalen sowie dem Rand einer Nachbargalaxie, gesehen aus Entfernungen, die nicht mehr zu messen waren. Während Gurronsevas zuhörte, tauchte nahe am Bildschirmrand eine kurze hellgelbe Linie auf, der eine zweite und schließlich eine dritte folgten: sie stellten die Verbindungen zwischen der Erde mitsamt den frühen, von Terrestriern gegründeten Kolonien und den Systemen von Orligia und Nidia dar, bei denen es sich um die ersten extraterrestrischen Kulturen handelte, mit denen die Erde einst Kontakt aufgenommen hatte. Dann kam eine zweite Gruppe von Linien hinzu, die diejenigen Planeten kennzeichneten, die von den Tralthanern besiedelt oder kontaktiert worden waren. Bevor sich Orligianer, Nidianer, Tralthaner und Terrestrier die Planeten, die jeweils nur der eigenen Spezies zugänglich waren, gegenseitig zugänglich gemacht hatten, mußten erst mehrere Jahrzehnte vergehen. In jenen Tagen, erläuterte die korrekte, ausdruckslose Stimme, neigten die intelligenten Lebensformen noch zu gegenseitigem Mißtrauen und Argwohn, und in einem Fall, nämlich bei den frühen Kontakten zwischen Orligia und der Erde, waren diese Vorbehalte so stark gewesen, daß man sich den ersten und bisher einzigen interstellaren Krieg erklärt hatte. Wie Gurronsevas erst jetzt bemerkte, wurden in der kurzen Übersicht nicht nur die Entfernungen, sondern auch die Zeitspannen stark verkürzt dargestellt. Das Geflecht aus goldenen Linien breitete sich auf dem Bildschirm schneller aus, als zunächst die Kontakte und dann die Handelsbeziehungen zu den hochentwickelten und in sich gefestigten Zivilisationen von Kelgia, Illensa, Hudlar, Melf und den ihnen angeschlossenen Kolonien geknüpft wurden. Optisch stellte sich diese Entwicklung nicht geordnet dar. Die Linien schössen nach innen zum Zentrum der Galaxis, schnellten zurück zum Rand, stellten im Zickzack Verbindungen zwischen Zenit und Nadir her und sprangen sogar durch den intergalaktischen Raum zu den Planeten der laner — obwohl es in diesem Fall die laner gewesen waren, die mit den Raumflügen angefangen hatten. Als alle Mitgliedsplaneten der galaktischen Föderation durch die Linien miteinander verbunden waren, sah das Ergebnis eher wie eine Kreuzung aus einem DNS-Molekül und der Kinderzeichnung eines Brombeerstrauchs aus. Waren die genauen Koordinaten des Zielplaneten bekannt, konnte man durch den Subraum genauso leicht zu einem benachbarten Sonnensystem wie zu einem am anderen Ende der Galaxis fliegen. Doch erst einmal mußte man einen bewohnten Planeten finden, bevor man dessen Koordinaten ins Logbuch eintragen konnte, und das erwies sich als keine leichte Aufgabe. Ganz allmählich hatte man einige der weißen Flecken auf den Sternkarten vermessen und kartographisch erfaßt, doch die Erfolge waren enttäuschend gewesen. Wenn die Aufklärungsschiffe des Monitorkorps tatsächlich einmal eine Sonne mit Planeten entdeckten, war das schon kein alltäglicher Fund — und noch seltener kam es vor, daß sich unter den Planeten einer befand, auf dem es Leben gab. War dann eine dieser einheimischen Lebensformen auch noch intelligent, brach auf den Planeten der Föderation Jubel aus, der allerdings durch die natürliche Sorge abgeschwächt wurde, aus dieser Entdeckung könnte sich womöglich eine Bedrohung des galaktischen Friedens ergeben. Das war der Moment, in dem man die Kontaktspezialisten des Monitorkorps losschickte, damit sie die schwierige, zeitraubende und oftmals gefährliche Aufgabe verrichteten, eingehende Kontakte herzustellen. Auf dem Bildschirm erschien eine Reihe von Tabellen mit Einzelheiten über die durchgeführten Vermessungseinsätze und die Zahl der daran beteiligten Schiffe und Besatzungsmitglieder sowie die Summe der Kosten, die zu viele Ziffern aufwies, um noch glaubwürdig zu sein. „In den vergangenen zwanzig Jahren haben die Kontaktspezialisten drei Erstkontaktverfahren eingeleitet, die alle zur Aufnahme der jeweiligen Spezies in die Föderation geführt haben“, fuhr die Stimme fort. „Im gleichen Zeitraum ist das Orbit Hospital im galaktischen Sektor zwölf bis zur vollen Betriebsbereitschaft fertiggestellt worden, und von dort aus hat man ebenfalls Erstkontakte aufgenommen, aus denen sich schließlich die Beitritte von sieben neuen Spezies zur Föderation ergeben haben.“ Gurronsevas mochte es sich nur eingebildet haben, doch als die herablassende Stimme des Datenbankcomputers ihre Ausführungen fortsetzte, schien sich ein Anflug von Stolz in ihren Tonfall einzuschleichen. „In keinem dieser sieben Fälle wurde das dadurch erreicht, daß man langsam und geduldig die gegenseitige Verständigung aufbaute und ausweitete, bis der Austausch komplexer philosophischer und soziologischer Vorstellungen möglich war, sondern indem man einen kranken oder nach einem Unfall im Raum treibenden Alien rettete und medizinisch versorgte. Durch diese Hilfe hat das Hospital das Wohlwollen der Föderation gegenüber neuentdeckten intelligenten Lebensformen einfacher und direkter demonstriert als durch jeden zeitraubenden Gedankenaustausch. Deshalb hat man erst vor kurzem den Schwerpunkt in der Erstkontaktpolitik verlagert.“ So, wie man nur eine Methode kannte, durch den Hyperraum zu reisen, gab es auch nur ein Verfahren, ein Notsignal zu senden, wenn ein Schiff durch einen Unfall oder eine Fehlfunktion im Normalraum zwischen den Sternen gestrandet war. Der mit festem Leitstrahl arbeitende Sübraumfülnk war keine zuverlässige interstellare Kommunikationsmethode, da er durch die Strahlung von dazwischenliegenden Sternkörpern Störungen und Verzerrungen ausgesetzt war und überdies Unmengen von Schiffsenergie benötigte — Energie, die ein in Not geratenes Schiff zumeist gar nicht mehr aufbringen konnte. Doch eine relativ simple „Notsignalbake“ brauchte keine Nachrichten zu übermitteln — sie war einfach ein nuklearbetriebenes Gerät, das ein Peilsignal sendete, einen Hilferuf im Subraum, der immer wieder sämtliche verwendbaren Funkfrequenzen durchlief, bis er einige Tage oder Stunden später verstummte. Da sämtliche Schiffe der Föderation vor dem Abflug Einzelheiten über Kurs und Passagiere einreichen mußten, war die Position des Notsignals normalerweise ein guter Hinweis auf die physiologische Klassifikation der Spezies, die in Schwierigkeiten geraten war. Dann wurde ein Ambulanzschiff mit der entsprechenden Mannschaft und Ausrüstung zur Lebenserhaltung an Bord von seinem Heimatplaneten geschickt. Aber es hatte Fälle gegeben, und zwar viel mehr als allgemein angenommen, in denen für die Föderation unbekannte Wesen in ein Unglück verwickelt waren und dringend Hilfe benötigten — Hilfe, die die Ambulanzschiffe mitsamt ihren Besatzungen nicht zu leisten vermochten. Nur wenn das betreffende Bergungsschiff groß genug war und über ausreichende Energiereserven verfügte, um die Hyperraumantriebshülle zu vergrößern und das verunglückte Schiff darin einzuschließen, oder aber die Unfallopfer unversehrt befreit werden und in eine für sie passende Umweltbedingung auf dem Föderationsschiff geschafft werden konnten, transportierte man sie ins Orbit Hospital im galaktischen Sektor zwölf. Folge davon war, daß viele bisher unbekannte Lebensformen, die über eine hohe Intelligenz und eine fortgeschrittene Technik verfügten, starben und allenfalls noch als interessante Studienobjekte für die Pathologie dienten. Ein weiterer Umstand, den man berücksichtigen mußte, war, daß es die Föderation wann immer möglich vorzog, mit raumfahrenden Lebensformen in Kontakt zu treten. Spezies, die zwar intelligent, aber nicht raumfahrend waren, warfen möglicherweise zusätzliche Probleme auf, weil man sich nie sicher sein konnte, ob man ihre zukünftige Entwicklung durch einen umfassenden Kontakt förderte oder nur behinderte, ob man ihnen technisch unter die Arme griff oder einen vernichtenden Minderwertigkeitskomplex bereitete, wenn die großen, fremdartigen Raumschiffe wie aus heiterem Himmel auf ihren Planeten herabfielen. Lange Zeit hatte man nach einer Lösung für diese Probleme gesucht und sie in den vergangenen Jahren schließlich auch gefunden. Man hatte entschieden, ein Schiff zu bauen und auszurüsten, das nur auf diejenigen Notsignale reagieren sollte, deren Positionen sich nicht mit den von den Föderationsschiffen eingereichten Flugplänen deckten — ein ganz besonderes Ambulanzschiff, das den Hilferufen von Lebensformen folgte, die der Föderation bislang unbekannt waren. Als sich Gurronsevas immer stärker auf die Darstellungen auf dem Monitor konzentrierte, schienen sich vor seinem geistigen Auge und auf dem verdunkelten Urif alldeck mehr und mehr Bilder zerstörter Schiffe und durchs All treibender Trümmermassen aufzutürmen und die toten oder kaum noch lebenden Körper anzuhäufen, die sie enthielten. Manchmal mußten die arg mitgenommenen Lebewesen mit größter Vorsicht aus den Trümmern gezogen werden, weil sie einer Spezies angehörten, die der Föderation unbekannt war, und Aliens, die aufgrund ihrer Verletzungen unter starken Schmerzen litten und geistig verwirrt waren, konnten auf die fremden und furchterregenden Ungeheuer, die sie zu retten versuchten, gewalttätig reagieren. Doch es hatte auch andere Fälle gegeben, in denen das in Not geratene Schiff keine Beschädigungen aufwies und es die Besatzung war, die dringend Hilfe benötigte. Dann mußte sich der kommandierende Offizier der Rhabwar, ein Experte für Technik fremder Spezies, einen Weg in das Alienschiff hineinbahnen, um dessen fremdartigen und womöglich lebensgefährlichen technischen Rätseln auf die Spur zu kommen, bevor die verletzten oder kranken Besatzungsmitglieder, die vielleicht ebenfalls gewalttätig auf die Annäherung ihrer Retter reagierten, behandelt werden konnten. Von derartigen Fällen war das Logbuch voll. Es stand auch die umfassende Schilderung eines Einsatzes darin, den die Rhabwar auf den Notruf eines Schiffs hin unternommen hatte, in dem sich die blinden Aliens und ihre mit normaler Sehkraft ausgestatteten und ungeheuer gewalttätigen Gehirnpartner, die sogenannten „Beschützer der Ungeborenen“, befunden hatten. Zudem war von dem gewaltigen Gruppenwesen mit unbekanntem Namen und Herkunftsort die Rede, dessen kilometerlanges Kolonisierungsschiff im interstellaren Raum auseinandergefallen war. Um die in alle Richtungen verstreuten Einzelteile wieder zusammenzusetzen und auf den ursprünglichen Zielplaneten zu transportieren, waren sowohl eine großangelegte militärische Operation als auch ein größerer chirurgischer Eingriff erforderlich gewesen. Und dann hatte es noch die Dwerlaner, die laner, die Duwetz und noch viele andere gegeben. Gurronsevas wußte zu wenig über Medizin, um alle klinischen Einzelheiten zu verstehen, aber das spielte jetzt keine Rolle mehr. Von den Informationen und unglaublichen Ereignissen, die sich vor ihm auf dem Bildschirm ausbreiteten, wurde er derart gefangengenommen, daß er sich nicht die Mühe gemacht hätte, etwas zu sich zu nehmen, wenn der Essensspender von der Computerkonsole aus weniger bequem zu erreichen gewesen wäre. Allmählich machte er sich wegen der Gefahren, die ihm beim nächsten Einsatz der Rhabwar womöglich bevorstanden, Sorgen, doch in gewisser Weise bedauerte er es fast, daß ihm die Voraussetzungen fehlten, aktiv daran teilzunehmen, insbesondere als ihm die Besatzungsliste des Schiffs verriet, daß er zwei Mitglieder des medizinischen Teams bereits gut kannte, nämlich Prilicla und Murchison. Die Bilder von Wrackteilen fremder Raumschiffe und den unbekannten Spezies angehörenden Insassen verschwanden vom Schirm und wurden durch eine schematische Darstellung des Ambulanzschiffs ersetzt. Nun begann die Stimme, die Aufteilung des Schiffsdecks, die Unterkünfte für Besatzung und Unfallopfer und die Hauptsysteme zu beschreiben, wobei die entsprechenden Bereiche graphisch hervorgehoben wurden. Da die Erklärungen, die auf Gurronsevas einstürmten, bald nur noch nichtssagende Lichter und Geräusche waren, machte er ihnen durch einen Tastendruck ein Ende. Er hatte jegliches Zeitgefühl verloren, war müde und hungrig, und sein Kopf war zu voll von seltsamen und außergewöhnlichen Informationen, als daß er hätte schlafen können. Vielleicht war es die schiere Erschöpfung, die derart phantastische Vorstellungen in seinem Gehirn aufkommen ließ, doch als er sich einiges von dem ins Gedächtnis zurückrief, was der Chefpsychologe und andere ihm gegenüber gesagt und getan hatten, und insbesondere das, was hätte getan werden müssen und nicht geschehen war, riefen die eigenen Gedanken in ihm Angst, Unsicherheit, noch größere Verwirrung und sogar ein wenig Hoffnung hervor. Bei der Rhabwar handelte es sich tatsächlich um ein ganz besonderes Ambulanzschiff, und schon bald sollte es zu einem der höchst ungewöhnlichen und wahrscheinlich gefährlichsten Einsätze aufbrechen, für die es gebaut worden war. Doch wozu sonst sollte O’Mara einen in Ungnade gefallenen Chefdiätisten an Bord dieses Schiffes schicken, wenn er nicht vorhatte, ihm eine erneute Chance zu geben? 16. Kapitel Die nächsten vier Tage vergingen wie im Fluge und ohne die geringsten Anzeichen von Langeweile. Erst wenn er durch die vollständige geistige und körperliche Erschöpfung gezwungen wurde, die Computerkonsole zu verlassen, ging er zu seinem versteckten Ruheplatz hinter einem mehrteiligen Wandschirm, der als Sichtschutz zwischen den Betten für die Verletzten diente, um dort — wenngleich nicht immer mit Erfolg — zu versuchen, ein wenig abzuschalten. Dann, am fünften Tag, wurde er durch die plötzlich aufflammende Beleuchtung und eine Stimme geweckt, die laut rief: „Gurronsevas, hier ist Lioren! Wachen Sie bitte schnell auf! Wo stecken Sie überhaupt?“ Da man ihn so abrupt aus dem Schlaf gerissen hatte, war er noch zu benommen, um etwas zu sagen, doch indem er den Wandschirm, hinter dem er verborgen war, zur Seite schob, beantwortete er die Frage trotzdem und signalisierte auf diese Weise, daß er allmählich wach wurde. „Sind Sie seit unserem letzten Gespräch noch mal ins Hospital gegangen oder haben Sie mit irgend jemandem auch nur ein paar Worte gewechselt?“ fragte Lioren in ungewohnt scharfem Ton, wie ihn Gurronsevas bisher noch nicht bei ihm gehört hatte. „Nein“, antwortete er wahrheitsgemäß. „Dann haben Sie also auch keine Ahnung, was in den letzten beiden Tagen geschehen ist?“ erkundigte sich Lioren in einem Tonfall, der die Frage wie eine Beschuldigung klingen ließ. „Überhaupt keine?“ „Nein“, bestätigte Gurronsevas erneut. Lioren schwieg kurz und fuhr dann mit freundlicherer Stimme fort: „Ich glaube Ihnen. Wenn Sie auf der Rhabwar geblieben sind und von nichts wissen, dann besteht ja die Hoffnung, daß Sie vielleicht keine Schuld daran haben.“ Die Andeutung, er könne gelogen haben, gefiel Gurronsevas gar nicht, und er bemühte sich, seinen Ärger im Zaum zu halten, als er sagte: „Ich habe die ganze Zeit damit verbracht, ausnahmsweise mal das zu tun, was man mir gesagt hat, nämlich mich eingehend mit den Informationen über das Ambulanzschiff zu beschäftigen und außerdem über meine mögliche zukünftige Stellung hier am Hospital nachzudenken. Genau darüber würde ich mich gern mit O’Mara unterhalten, wenn er ein paar Minuten Zeit hätte. Wären Sie jetzt so freundlich, mir zu sagen, wovon Sie überhaupt reden?“ Lioren zögerte abermals wie jemand, der versucht, jemandem eine schlechte Nachricht so schonend wie möglich beizubringen, und antwortete dann: „Ich habe Ihnen zwei Mitteilungen zu machen. Die erste ist ein wenig ungenau und könnte sich für Sie als unerfreulich erweisen. Die zweite wird für Sie auf jeden Fall ärgerlich sein, sofern Sie mir nicht versichern können, daß Sie wirklich nichts mit den momentanen Zuständen zu tun haben. Mir ist es lieber, Ihnen zuerst die weniger unerfreuliche Nachricht mitzuteilen. Dabei geht es um den nächsten Einsatz der Rhabwar“, fuhr Lioren fort. „Wissen Sie, das ist kaum mehr als ein Gerücht, weil der Einsatz momentan auf ganz hoher Ebene von Leuten erörtert wird, die nur selten tratschen. In dieser Angelegenheit sind eine ganze Menge kostspieliger Hyperraümfülnksprüche hin- und hergeschickt worden. Zu dem Einsatz gehört auch der Kontakt mit einer neu entdeckten intelligenten Spezies, doch es bestehen Zweifel, ob das Ambulanzschiff in der Lage ist, mit der Situation fertig zu werden. Das medizinische Team der Rhabwar glaubt, helfen zu können, und die Kontaktspezialisten betonen immer wieder, daß es ihre Aufgabe sei. Ich glaube, die endgültige Entscheidung hat man bereits getroffen, aber die Durchführung ist durch die Epidemie verzögert worden.“ „Was für eine Epidemie?“ Lioren zögerte und antwortete dann: „Wenn Sie die ganze Zeit über keinen Fuß ins Hospital gesetzt und mit niemandem dort gesprochen haben, können Sie natürlich nichts davon wissen. Zudem vergrößert sich dadurch die Wahrscheinlichkeit, daß Sie nicht für die Zustände verantwortlich sind.“ „Was für Zustände?“ verlangte Gurronsevas vor Verzweiflung so laut zu wissen, daß seine Stimme bis zum anderen Ende des Bordtunnels zu hören sein mußte. „Was für eine Epidemie? Und was habe ich damit zu tun?“ „Ich hoffe, nichts“, bekräftigte Lioren erneut. „Hören Sie auf zu schreien, dann kläre ich Sie darüber auf.“ Laut Lioren hatte sich vor drei Tagen unter dem Personal und den Patienten des Hospitals eine unbekannte Epidemie ausgebreitet. Nur die warmblütigen Sauerstoffarmer waren betroffen, wenn auch nicht alle. Hudlarer, Nallajimer und einige andere Lebensformen waren von der Seuche verschont geblieben, wie auch — aus unbekanntem Grund — mehrere Mitglieder der ansonsten von ihr befallenen Spezies; diese Einzelfälle waren offenbar immun oder hatten das Glück gehabt, nicht mit den Erregern in Berührung gekommen zu sein. Ein Symptom der Krankheit war Übelkeit, die im Laufe der ersten beiden Tage immer stärker wurde. Danach waren die Erkrankten nicht mehr in der Lage, Nahrung normal durch den Mund zu sich zu nehmen, und mußten intravenös ernährt werden. Schwerwiegender war jedoch der Umstand, daß im gleichen Zeitraum ein allmählicher Verlust der Fähigkeit auftrat, ein logisch zusammenhängendes Gespräch zu führen oder die Bewegungen von Fingern und Gliedmaßen zu koordinieren. Da zu viele Mitarbeiter des Hospitals so krank waren, daß sie weder den eigenen medizinischen Zustand noch den ihrer Patienten richtig untersuchen konnten, war es noch zu früh, um zu sagen, ob die intravenöse Ernährung in allen Fällen erfolgreich war, doch gab es erste Anzeichen, daß die beiden Krankheitssymptome Übelkeit und Gehirnfunktionsstörungen bei denen, die intravenös ernährt wurden, allmählich abklangen. „Aber wir können nicht jeden erkrankten warmblütigen Sauerstoffatmer — insgesamt sind es annähernd vierhundert — auf unbestimmte Zeit intravenös ernähren“, setzte Lioren seine Ausführungen fort. „Selbst wenn alle rund um die Uhr arbeiten, verfügen wir nicht über genügend medizinische Mitarbeiter von anderen Spezies, um solch eine Aufgabe zu bewältigen. Todesfälle hat es bislang nicht gegeben, aber weil wir auch noch normale Patienten im Hospital haben, die trotz allem behandelt oder operiert werden müssen, sind wir gezwungen, Auszubildende und Assistenzärzte einzusetzen, deren Fähigkeiten für derartige Tätigkeiten nicht ausreichen — da sind Tote nur eine Frage der Zeit. Für eine ordentliche Untersuchung stehen uns nicht genügend Kräfte zur Verfügung, weil die dafür Zuständigen trotz der Vorsichtsmaßnahme, die Kranken und die medizinischen Mitarbeiter derselben Spezies voneinander zu isolieren, ebenfalls erkrankt sind. Verschont geblieben sind einige Angehörige des höheren medizinischen Personals“, berichtete Lioren weiter. „Diagnostiker Conway hat mir erzählt, in seinem Fall könne das daran gelegen haben, daß er zum fraglichen Zeitpunkt gerade mit einem auf Nallajimer bezogenen Projekt beschäftigt gewesen und es ihm wegen des Schulungsbands schwergefallen sei, etwas zu essen, das nicht wie Vogelfutter ausgesehen habe. Doch wenn das einen Einfluß darauf gehabt hat, daß er nicht krank geworden ist, und wenn ein Zusammenhang zwischen dem Verzehr der Gerichte für warmblütige Sauerstoffatmer und dem Auftreten der Symptome besteht, dann.“ „Spielen Sie etwa auf eine Lebensmittelvergiftung an?“ fiel ihm Gurronsevas ins Wort, wobei er sich bemühte, seine Wut zu zügeln. „Das ist nicht nur beleidigend, sondern auch unerhört und. und ganz unmöglich!“ „… dann dürfte die Diagnose in Anbetracht der weitverbreiteten und überall gleichzeitig ausbrechenden Übelkeit auf Lebensmittelvergiftung lauten“, fuhr Lioren fort, wobei er den Einwurf nicht beachtete, die Frage aber trotzdem beantwortete. „Die Rohmasse, die man zur synthetischen Herstellung der Nahrung verwendet, wird vor dem Verschiffen gründlich auf Qualität und Reinheit überprüft und für den Transport so versiegelt, daß eine Vergiftung durch Chemikalien oder Strahlung praktisch ausgeschlossen werden kann. Nach denselben strengen Sicherheitsvorschriften werden zwar auch die zahlreichen neuen geschmacksverstärkenden Zutaten behandelt, die Sie vor kurzem eingeführt haben, doch weil es so viele verschiedene sind, ist es wahrscheinlicher, daß Giftstoffe oder Krankheitserreger über diesen Weg ins Essen gelangt sind. Und ich stimme Ihnen durchaus zu: daß irgendeine giftige Substanz ins Nahrungsversorgungssystem des Hospitals geraten sein soll, ist äußerst unwahrscheinlich, aber keineswegs unmöglich.“ „Nichts ist unmöglich“, reagierte Gurronsevas verärgert. „Doch Ihre Vermutung kommt dem so nah, daß man.“ „Also, ich will nicht gefühllos klingen“, fiel ihm Lioren ins Wort, „aber wenn der Ausbruch der Epidemie auf vergiftetes Essen zurückzuführen ist, dann werden Sie beruflich in Mißkredit geraten. Noch größer wäre allerdings die Erleichterung der medizinischen Mitarbeiter, weil eine solche Krankheitsursache bedeuten würde, daß sie vor einem medizinischen Problem stünden, das relativ einfach zu beheben wäre. Sollte jedoch nicht eine Lebensmittelvergiftung der Auslöser sein und es sich bei der Übelkeit um das sekundäre Symptom einer Krankheit handeln, die das Gehirn mehrerer verschiedener Spezies angreift, dann haben wir es mit einem sehr viel ernsthafteren Problem zu tun. Das würde nämlich bedeuten, im Hospital fliegt ein bislang unbekannter Erreger herum, der imstande ist, die Barriere zwischen den Spezies zu überwinden. Daß das nach allem, was wir wissen, ebenfalls unmöglich ist, weiß sogar ein medizinischer Laie wie Sie. Doch auf Cromsag habe ich die bittere Erfahrung gemacht, daß man keine Möglichkeit ausschließen sollte.“ Das mit den Krankheitserregern wußte Gurronsevas bereits. Seit dem Moment, als er von Traltha zu seinem ersten Raumflug aufgebrochen war, hatte man ihm immer wieder gesagt, daß für ihn keine Gefahr bestünde, sich die Krankheiten oder Infektionen anderer Spezies zuzuziehen. Doch wie er hatte munkeln hören, waren die medizinischen Kapazitäten auf der ständigen Suche nach der berühmten Ausnahme, die die Regel bestätigte. Was dem Padre auf Cromsag widerfahren war, davon hatte Gurronsevas keine Ahnung, und er war sich sicher, daß jetzt nicht der geeignete Zeitpunkt war, ihn danach zu fragen. „Es ist äußerst dringend, die Möglichkeit einer Lebensmittelvergiftung so schnell wie möglich zu bestätigen oder auszuschließen“, fuhr Lioren fort. „Die normalen pathologischen Untersuchungs- und Analyseverfahren sind im Moment zu langsam und unzuverlässig. Obendrein sind die für die Untersuchung Zuständigen entweder zu sehr mit der Behandlung von Patienten beschäftigt oder zählen inzwischen selbst zu den Patienten, oder sie haben die Theorie über die Lebensmittelvergiftung als Krankheitsursache bereits ausgeschlossen, weil sie ihnen zu unwahrscheinlich vorkommt, um damit kostbare Zeit zu vergeuden. Doch Sie, Gurronsevas, wissen, wo und wonach Sie zu suchen haben. Schließlich sind Lebensmittel Ihr Fachgebiet, Herr Chef diätist.“ „Aber. aber das ist ja eine unverzeihliche Frechheit!“ empörte sich Gurronsevas. „Das ist eine persönliche Beleidigung! In meinem ganzen Leben habe ich es noch nicht mit einer Einrichtung oder einem Nahrungsversorgungsbetrieb zu tun gehabt, der im Umgang mit Lebensmitteln eine derart nachlässige Haltung gegenüber den hygienischen Anforderungen an den Tag gelegt hat, daß er seine Stammgäste gleich massenweise vergiftet!“ „Vielleicht handelt es sich gar nicht um eine Lebensmittelvergiftung“, erinnerte ihn Lioren in bestimmtem Ton. „Das ist es ja, was Sie und ich herausfinden müssen.“ „Na schön“, lenkte Gurronsevas ein. Er holte tief Luft und versuchte, sich innerlich zu beruhigen, bevor er fortfuhr: „Ich würde die Patienten gern nach der genauen Zusammensetzung der verdächtigen Gerichte fragen und danach, wann sie ihre Mahlzeit eingenommen haben und ob ihnen am Geschmack oder an der Konsistenz etwas Ungewöhnliches aufgefallen ist. Zudem möchte ich von jedem einzelnen wissen, welchen Teil des Hospitals er aufgesucht und womit er sich beschäftigt hat, um eventuelle Gemeinsamkeiten zu entdecken und herauszufinden, mit welchem Infektionsherd die Patienten außer dem Essen noch in Berührung gekommen sein könnten. Anschließend will ich den Arbeitsvorgang in der Hauptkantine und die Funktion der Hilfscomputer für Lebensmittel überprüfen und ein Verzeichnis der Essensbestellungen und der vom Synthesizer ausgegebenen Gerichte für die Zeit abrufen, in der die Infektion zum ersten Mal aufgetreten sein soll. All diese Informationen würde ich mir am liebsten sofort verschaffen.“ „Wie sich ein ganz bestimmter Patient verhalten hat, kann ich Ihnen genau sagen“, merkte Lioren leise an. „Aber Gurronsevas, denken Sie bitte daran, daß die Idee mit der Lebensmittelvergiftung allein von mir stammt. Offiziell befinden Sie sich gar nicht im Hospital, und falls Sie in dieser Sache unschuldig sind, wäre es falsch, sich jemandem zu zeigen.“ „Wenn die Symptome in allen Fällen gleich sind, reicht vielleicht die Befragung eines Patienten aus“, räumte Gurronsevas ein, der sich nicht zu einer weiteren halben Rechtfertigung aufgelegt fühlte. „Um wen und was handelt es sich denn überhaupt?“ „Der Patient ist Lieutenant Braithwaite“, antwortete Lioren. „Ungefähr zwanzig Minuten nach unserer Rückkehr aus der Kantine.“ „Sie haben zusammen gegessen?“ unterbrach ihn Gurronsevas sofort. „Das ist genau die Auskunft, die ich brauche. Können Sie sich daran erinnern, welche Gerichte Sie oder der Lieutenant bestellt haben? Erzählen Sie mir alles, was Sie noch über die Mahlzeiten wissen. Jede kleine Einzelheit.“ Lioren dachte kurz nach und sagte dann: „Vielleicht ist es ein Glück gewesen, daß ich mir etwas aus der tarlanischen Speisekarte ausgesucht habe, einen einzelnen Gang des Shemmutara-Menüs mit Faas-Quark. Wie Sie sehen, bin ich, was Essen betrifft, nicht gerade abenteuerlustig. Braithwaites Gericht habe ich mir nicht genau angeschaut — auch die Kennziffern, die er beim Bestellen eingegeben hat, nicht—, weil sich bei mir immer eine gewisse Beklommenheit einstellt, wenn ich terrestrische Nahrungsmittel sehe. Wir haben nur die Hauptgänge genommen, weil der Lieutenant direkt nach dem Essen einen Termin bei O’Mara hatte. Aber ich habe bemerkt, daß auf seinem Teller eine flache Scheibe synthetisches Fleisch gelegen hat, diese Masse, die Terrestrier als „Steak“ bezeichnen, zusammen mit mehreren runden, leicht gebräunten gelben Gemüsestückchen und zwei anderen Pflanzenarten, die wie ein Haufen aus kleinen grünen Kugeln und runden blaßgrauen Stielen mit einem gewölbten Dach ausgesehen haben, wobei das Äußere der letzten Art besonders ekelhaft aussieht. Auf dem Tellerrand hat sich ein kleiner Klecks einer bräunlich gelben, halbfesten Substanz befunden — vielleicht eine Art Würze. Und, ja, über das Steak war eine dickliche braune Flüssigkeit gegossen.“ Gurronsevas fragte sich, was von Lioren wohl sonst noch alles bemerkt worden wäre, wenn er genauer hingesehen hätte. „Hat Braithwaite beim Essen oder danach irgend etwas über das Gericht gesagt?“ wollte er wissen. „Ja“, antwortete Lioren, „aber das ist nichts Ungewöhnliches gewesen. Ein paar andere Mitarbeiter, die keine Terrestrier gewesen sind und in Hörweite von mir gesessen haben, hatten dasselbe Gericht bestellt und sich ebenfalls darüber unterhalten. Einige der warmblütigen Sauerstoffatmer hier am Hospital haben nämlich die Angewohnheit, auf der Suche nach neuen Geschmackserlebnissen einen Blick über den Zaun der eigenen Spezies zu werfen, und dieser Brauch hat noch weiter um sich gegriffen, seitdem Sie die Rezepte verändert haben. Das ist äußerst schmeichelhaft für Sie oder ist es zumindest gewesen, bis diese.“ „Erzählen Sie mir nur, was Braithwaite gesagt hat“, unterbrach ihn Gurronsevas ungeduldig. „Und zwar alles.“ „Gut, ich versuche, mich daran zu erinnern“, sagte Lioren mit einer Geste, die unter Tarlanern möglicherweise Verärgerung bedeutete. „Ach ja. Braithwaite sagte, das Essen habe einen eigenartigen, sandigen Geschmack, und das sei seltsam, weil er dasselbe Gericht schon öfter bestellt habe, ohne daß ihm etwas Merkwürdiges daran aufgefallen sei. Wie er weiterhin bemerkte, würden Sie ständig mit den Rezepturen herumexperimentieren, und die neueste Abwandlung sei vielleicht was für Kenner, doch falls das zutreffe, sei er nicht Masochist genug, um daran Gefallen finden zu wollen. Danach hat er schnell weitergegessen, ohne etwas zu sagen, weil er nicht zu spät zu der Besprechung mit O’Mara kommen wollte. Auf dem Weg zur psychologischen Abteilung hat er sich dann über — wie er es bezeichnete — eine leichte Übelkeit im Magen beklagt und diese auf eine durch zu schnelles Essen hervorgerufene Verdauungsstörung zurückgeführt“, fuhr Lioren fort. „Auf der Besprechung, die kurze Zeit später abgehalten wurde und an der O’Mara, Braithwaite und Cha Thrat teilgenommen haben, ging es um die psychologischen Persönlichkeitsdiagramme der neuesten Gruppe von Auszubildenden. Da eher abteilungsinterne als persönliche Angelegenheiten besprochen worden sind, war die Verbindungstür zum Vorzimmer nicht geschlossen. Ich habe zwar alles gehört, was dann vorgefallen ist, aber nicht alles gesehen. Einzelheiten über das letztere habe ich später von Cha Thrat erfahren.“ Lioren stieß eine Folge von schwachen unübersetzbaren Lauten aus und räusperte sich geräuschvoll. „Entschuldigen Sie, Gurronsevas, aber das, was ich Ihnen jetzt erzählen werde, ist nicht zum Lachen. Braithwaite hatte angefangen, sich über zunehmende Übelkeit zu beklagen, auf Cha Thrats teilnahmsvolle Erkundigungen nach seinem Zustand jedoch mit lauten Beschimpfungen reagiert, wobei er der Sommaradvanerin und O’Mara Beleidigungen an den Kopf geworfen hat, die alles andere als höflich gewesen sind. Dann ist er plötzlich dem Major gegenüber — wenn auch ungewollt — ausgesprochen aufsässig geworden und hat sich schließlich über die Ausdrucke auf dem Schreibtisch erbrochen. Kurz daraufhat der Lieutenant sowohl die Fähigkeit zu logisch zusammenhängender Rede als auch die zur Muskelkoordination verloren und ist auf Veranlassung O’Maras zur medizinischen Untersuchung auf ein Krankenzimmer gebracht worden. Zu dieser Zeit haben sich die verschiedenen Stationen allmählich mit ähnlichen Fällen gefüllt. Das alles liegt jetzt dreiundvierzig Stunden zurück. Obwohl die Symptome inzwischen bei sämtlichen Erkrankten fast vollständig abgeklungen sind, hat der Major von dem Augenblick an soviel Zeit wie möglich bei Braithwaite verbracht, um nachzuweisen zu versuchen, ob das abnorme Verhalten seines Assistenten auf einen neuen Krankheitserreger zurückzuführen ist, der das Gehirn der Erkrankten befallen und dessen Funktionen angegriffen hat — diese Theorie vertritt das höhere Arztpersonal—, oder ob es sich um eine Begleiterscheinung der Lebensmittelvergiftung handelt — das ist die Erklärung, die ich selbst bevorzuge. Falls ich mich irre, wäre es besser, wenn Sie sich außerhalb des Blickfelds der Mitarbeiter und hoffentlich auch außer Reichweite der Infektion halten“, schloß Lioren seine Ausführungen. „Sollte ich recht haben, wird der Chefpsychologe alles andere als zufrieden mit Ihnen sein.“ Mit dem Großen Gurronsevas ist hier offenbar niemand zufrieden, dachte der Tralthaner, oder zumindest hält die Zufriedenheit nie lange an. Er versuchte, gegen die Wut und Enttäuschung anzukämpfen, die ihn überkamen, indem er sich auf das vorliegende Problem konzentrierte, dessen Lösung für ihn als Meisterkoch eigentlich nur ein kleineres Rätsel sein dürfte. „Ich brauche Zugriff auf das Nahrungsversorgungsprogramm“, stellte er klar. „Aber keine Angst, dafür werde ich mich nicht zu erkennen geben müssen.“ Liorens Beschreibung hatte es Gurronsevas ermöglicht, das verdächtige Gericht zu identifizieren und mit ziemlicher Genauigkeit den Zeitpunkt abzuschätzen, zu dem die Symptome — falls es sich wirklich um eine Lebensmittelvergiftung handelte — aufgetreten waren. Um den aktuellen Bedarf ermitteln zu können und um die Nachbestellung und die Entnahme nichtsynthetischer Zutaten aus den Vorräten zu erleichtern, wurden die Kennummern der bestellten Gerichte täglich erfaßt und gespeichert. Da die Essensauswahl der Kantinenbesucher von psychologischen Faktoren wie zum Beispiel den persönlichen Empfehlungen durch Freunde, dem neuesten Trend beim Essen oder einem neuen Gericht auf der Speisekarte, das alle mal probieren wollten, abhing, veränderte sich die Gesamtzahl der Bestellungen bei jedem Gericht von Tag zu Tag. Doch Gurronsevas war der betreffende Tag und die verdächtige Speise bekannt, und jetzt wurde ihm die Zahl, nach der er suchte, auf dem Bildschirm angezeigt. Er gab sämtliche Zutaten ein und forderte gerade die vollständigen biochemischen Analysen dazu an, als sich plötzlich Lioren dem Bildschirm näherte. „Irgendwelche Fortschritte?“ fragte er in einem Ton, der unterstellte, daß ihm die Antwort bereits bekannt war und gar nicht gefiel. „Ja und nein“, antwortete Gurronsevas, wobei er ein Auge auf Lioren wandte. „Ich bin mir ziemlich sicher, das verdächtige Essen identifiziert und die Ausgabemenge herausgefunden zu haben, aber die.“ „Da können Sie sich ganz sicher sein“, unterbrach ihn Lioren. „Wie viele Kranke nach dem Auftreten der Symptome insgesamt auf die Stationen gebracht worden sind, weiß ich genau. Die Zahl stimmt mit Ihrer völlig überein. Das sieht gar nicht gut für Sie aus, Gurronsevas.“ „Ich weiß, ich weiß“, grummelte der Tralthaner und deutete verärgert auf den Bildschirm. „Aber sehen Sie sich das mal an. Die Essenszutaten sind völlig harmlos und einfach. Sie sind vollkommen unschädlich und meinen Anweisungen gemäß hinzugefügt worden. Nach der Verarbeitung und Formung der Bestandteile des Gerichts im Synthesizer sind nur drei nichtsynthetische Zutaten zugegeben worden. Dabei handelt es sich um winzige Mengen der orligianischen und kelgianischen Gewürze Chrysse und Merner Meersalz in der Soße und um ein wenig terrestrischen Muskat, der zum Schluß über alles gestreut wird. Von diesen Zutaten kann keine eine Lebensmittelvergiftung verursacht haben. Könnten nicht Giftstoffe von außen ins Essen gelangt sein, vielleicht durch ein Leck in einem benachbarten Abflußrohr.? Ich muß sofort persönlich mit meinem ersten Assistenten sprechen.“ „Sie dürfen sich mit niemandem im Hospital in Verbindung setzen.“, begann Lioren zu protestieren, doch Gurronsevas beachtete ihn nicht. „Hauptsynthesizerabteilung, Cheflebensmitteltechniker Sarnyagh“, meldete sich der Nidianer, dessen Kopf auf dem Bildschirm erschien. Falls er bei Gurronsevas’ Anblick ein überraschtes, verärgertes oder beunruhigtes Gesicht machte, dann konnte der Tralthaner das unter der dichten Behaarung jedenfalls nicht erkennen. Wie nicht anders zu erwarten, sagte der Nidianer: „Sir, ich dachte, Sie hätten das Hospital verlassen.“ „Das habe ich auch“, bestätigte Gurronsevas ungeduldig. „Seien Sie bitte still, und hören Sie mir genau zu.“ Als der Tralthaner seine Ausführungen beendet hatte, antwortete Sarnyagh voller Ungeduld: „Sir, das ist gleich die erste Frage gewesen, nachdem die Beschwerden angefangen hatten. Wir haben unser gesamtes Personal zusammengerufen und die nächsten beiden Schichten damit verbracht, die Frage zu beantworten, auch wenn uns die Wartungsabteilung versichert hat, daß eine derartige gegenseitige Verunreinigung durch die Anordnung und die Konstruktion der betreffenden Rohrleitungen ausgeschlossen sei. Die Vorratsbehälter der Nahrungssynthesizer und das Lager mit den geschmacksverstärkenden Zutaten haben wir ebenfalls überprüft, und die haben sich alle als frei von Giftstoffen erwiesen. Fällt Ihnen sonst noch etwas ein, Sir?“ „Nein“, erwiderte Gurronsevas gereizt und brach die Verbindung ab. Seine vorherige Unruhe steigerte sich rasch zur Verzweiflung, doch im hintersten Winkel des Kopfes stieg in ihm eine vage Ahnung auf, die sich allerdings noch weigerte, ans Licht zu treten. Es war wie ein schwaches Jucken, das durch irgend etwas hervorgerufen worden war, das der Lebensmitteltechniker gesagt haben könnte. „Wenn der Fehler nicht im Versorgungssystem steckt, dann muß er im Essen zu finden sein, was aber nicht der Fall ist“, fuhr Gurronsevas, an Lioren gewandt, fort. „Vielleicht sollte ich mir mal die Zutaten genauer ansehen, obwohl sie auf den jeweiligen Herkunftsplaneten und auch an anderen Orten schon seit Jahrhunderten verwendet werden. Dazu muß ich die Datenbank mit den nichtmedizinischen Nachschlagewerken aufrufen.“ Selbst in der vergleichsweise kleinen allgemeinen Datenbank des Orbit Hospitals war eine verwirrende Vielfalt an Informationen über Gewürze vorhanden, und um die drei von Gurronsevas gesuchten zu finden, war ein sorgfältiges Durchforsten des Hintergrundmaterials (" erforderlich, das trotz der Hilfe des Computers nur sehr langsam voranging. Gurronsevas erfuhr viele interessante, aber überflüssige Dinge über die Rolle, die das Merner Meersalz in der lokalen kelgianischen Exportwirtschaft spielte, doch die einzigen Todesfälle, die mit diesem Salz in Verbindung standen, waren schon zu Beginn der kelgianischen Geschichte aufgetreten, als sich bekriegende Einheimische im damals noch nicht ausgetrockneten Merner Meer ertrunken waren. Für die orligianischen Chrysse-Polypen galt das gleiche, und die Verweise auf die terrestrische Muskatnuß waren zwar zahlreich, enthielten aber keine brauchbaren Einzelheiten, bis Gurronsevas schließlich auf einen sehr alten Eintrag stieß, der vielleicht als nachträglicher Einfall hinzugefügt worden war. Mit einem Mal sprang das Jucken aus dem hintersten Winkel des Kopfs auf eine Stelle über, an der sich Gurronsevas kratzen konnte und wo sich der vage Verdacht zur Gewißheit verdichtete: Sein Küchenpersonal hatte womöglich unter zu großem Druck gestanden oder mitten in einem plötzlich auftretenden Notfall vielleicht eine kleine Veränderung vorgenommen und sie wieder vergessen oder für zu unbedeutend gehalten, um sie einem Vorgesetzten gegenüber zu erwähnen. Auf einmal stampfte Gurronsevas nacheinander heftig mit allen sechs Füßen auf. Als die nicht befestigten Geräte auf dem Unfalldeck aufgehört hatten zu scheppern, fragte Lioren: „Gurronsevas, was ist denn los? Ist mit Ihnen etwas nicht in Ordnung?“ „Was los ist?“ wiederholte Gurronsevas, während er auf die Tasten des Kommunikators einschlug, als ob jede von ihnen ein Todfeind von ihm wäre. „Ich versuche, noch einmal diesen armseligen Lebensmitteltechniker Sarnyagh anzurufen. Nicht mit mir in Ordnung ist, daß ich am liebsten einen brutalen, blutigen Mord an einem anderen vermeintlich vernunftbegabten Lebewesen begehen würde!“ „Das werden Sie ganz bestimmt nicht tun!“ rief Lioren ihn zur Räson. „Bitte beruhigen Sie sich. Ich glaube — und ich bin mir sicher, daß Sie mir darin zustimmen werden—, Sie reagieren mit übertriebenen Äußerungen auf einen Umstand, zu dessen Klärung aller Wahrscheinlichkeit nach keine körperliche Gewalt erforderlich ist.“ Als zum zweiten Mal Sarnyaghs Bild auf dem Monitor erschien, verstummte Lioren. In einem Ton, der sich zu gleichen Teilen aus Achtung und Ungeduld zusammensetzte, fragte der Lebensmitteltechniker: „Sir, gibt es noch etwas, das Sie mich zu fragen vergessen haben?“ Gurronsevas bemühte sich innerlich um Ruhe und antwortete: „Ich verweise Sie auf meine ursprünglichen Anweisungen bezüglich der Zusammensetzung und der Art des Anrichtens von Menüpunkt elf einundzwanzig für die terrestrische Spezies DBDG, der zusätzlich für den Verzehr durch Lebensformen der physiologischen Klassifikationen DBLF, DCNF, DBPK, EGCL, ELNT, FGLI und GLNO geeignet ist und auf deren Wunsch serviert wird. Vergleichen Sie die ursprüngliche Zusammensetzung mit derjenigen, die das Gericht tatsächlich gehabt hat, als es nach dem Würzen mit geschmacksverstärkenden Zutaten serviert worden ist, und bringen Sie mir beide auf den Schirm. Erklären Sie mir, weshalb eine unbefugte Änderung vorgenommen worden ist.“ Falls es keine Veränderung gegeben hatte, würde das Gurronsevas gleich ernstlich in Verlegenheit bringen. Aber er war sich sicher, daß dieser Fall nicht eintreten konnte. Sarnyagh blickte nach unten auf die Tastatur und gab kurz etwas ein. Über seiner pelzigen Brust erschienen als eine strahlende Auflage zwei kurze Zahlenkolonnen, in denen zwei der Mengenangaben hervorgehoben waren. „Ach ja, jetzt weiß ich’s wieder“, sagte er. „Das ist eine kleine Abänderung gewesen oder eher die Korrektur eines Fehlers, der ihnen anscheinend unterlaufen war. Falls Sie sich erinnern können, Sir, haben Sie in Ihrem Rezept für diese Zutat das Nullkommanullachtfünffache des Gesamtgewichts des Gerichts angegeben, was — bei allem Respekt — für eine Pflanze, die als genießbar verzeichnet ist, eine geradezu lächerlich geringe Menge darstellt. Deshalb bin ich davon ausgegangen, daß der von Ihnen beabsichtigte Wert acht Komma fünf lauten mußte. Habe ich mich geirrt? Bin ich vielleicht zu vorsichtig gewesen?“ „Sie haben sich geirrt und sind nicht vorsichtig genug gewesen“, entgegnete Gurronsevas, wobei er sich bemühte, dem Nidianer keine Beleidigungen an den Kopf zu werfen und die Stimme auf Zimmerlautstärke zu halten. „Hätten Sie nicht am Geschmack erkennen können, daß da etwas nicht gestimmt hat?“ Sarnyagh zögerte, da er offenbar befürchtete, in der Patsche zu sitzen, und im voraus versuchen wollte, sich herauszureden, und erwiderte dann schnell: „Ich bedaure, daß ich weder über Ihre umfassende Erfahrung im Kochen noch über Ihre unübertroffene Fähigkeit verfüge, eine große Vielzahl an Gerichten anderer Spezies abzuschmecken und einzuschätzen. Ich ziehe die einfache Hausmannskost von Nidia vor und wage es nur ab und zu mal, etwas aus der kalten Küche der Kelgianer zu probieren. An terrestrisches Essen habe ich mich nur wenige Male gewagt, ich finde es zu klumpig. Außerdem hat es zu viele kontrastierende Farben und stößt mich schon vom Aussehen her ab, deshalb hätte ich gar nicht wissen können, ob der Geschmack in Ordnung war oder nicht. Auch wenn die Änderung geringfügig gewesen ist und ich Sie vorher um Erlaubnis gefragt hätte, wenn Sie erreichbar gewesen wären, habe ich die im Rezept angegebene Menge nicht ohne sorgfältige Überlegung erhöht. Vor der Änderung habe ich das Ganze mit dem medizinischen Computer überprüft, um sicherzugehen, daß die Zutat nicht als giftig verzeichnet ist, und das war nicht der Fall“, fuhr Sarnyagh fort. „Obendrein war der Küchenvorrat, den Sie aus dem Cromingan-Shesk mitgebracht hatten, allmählich zur Neige gegangen. Als ich Nachschub bestellt habe, habe ich festgestellt, daß die besagte Zutat vor kurzem gleich tonnenweise in die Lager gebracht worden war. Dort ist so viel vorhanden, daß wir bei der Verwendungsmenge, die sie im Rezept angegeben haben, einige Jahrhunderte damit auskommen würden. Deshalb bin in damals zu dem Schluß gekommen, daß Ihnen ein Fehler unterlaufen sein mußte, und habe ihn entsprechend berichtigt. Haben Sie noch weitere Anweisungen für mich, Sir?“ Wie Gurronsevas nur zu gut wußte, war diese überreichliche Menge Muskat lediglich aus verwaltungstechnischen und rechtmäßig fragwürdigen Gründen bestellt worden. Durch die Großbestellung hatte man erreichen wollen, daß das Gewürz nicht aus dem relativ geringen Budget von Gurronsevas’ Abteilung, sondern aus dem praktisch unerschöpflichen Versorgungsetat des Monitorkorps bezahlt wurde. Doch das konnte Gurronsevas nicht sagen, ohne daß Skempton etwas von dieser Mauschelei zu Ohren gekommen wäre, und das wollte der Tralthaner auf keinen Fall, nicht einmal, wenn der Colonel — wie es wahrscheinlich erschien — inoffiziell bereits davon wußte. Nicht die Spur von Schuld sollte den Leiter der Beschaffungsabteilung, Creon-Emesh, treffen, der ihm gegenüber äußerst hilfsbereit gewesen war. Und Sarnyagh hatte es meisterhaft verstanden, den Großteil der Verantwortung für seinen Fehler zurück auf Gurronsevas zu schieben, und sich auf diese Weise die besten Aussichten verschafft, ungeschoren davonzukommen. Er fühlte sich in seine Jugend versetzt, als er aus eigenem Schaden gelernt hatte, daß man den Vorgesetzten unterstellt wird, weil diese mehr — und nicht weniger — wissen als ihre ehrgeizigen Untergebenen. „Meine Anweisung an Sie lautet: Machen Sie die unerlaubte Änderung des DBDG-Menügangs elf einundzwanzig rückgängig, und stellen Sie auf der Stelle das ursprüngliche Rezept wieder her“, befahl er in kühlem Ton. „Ich bin äußerst ungehalten über Sie, Sarnyagh, doch jetzt müssen erst mal alle erforderlichen Disziplinarmaßnahmen warten, bis ich.“ „Aber Sir!“ fiel ihm Sarnyagh ins Wort. „Das ist ungerecht und kleinlich. Nur weil ich aus eigener Initiative eine harmlose Änderung vorgenommen habe und Sie das, wie ich Ihnen versichern kann, zu Unrecht als Gefahr für Ihre Autorität betrachten, wollen Sie mich. Sir, hier gibt es viel wichtigere und dringendere Aufgaben zu erledigen. Wir befolgen die Anweisungen, die uns vor kurzem die beiden Diagnostiker Thornnastor und Conway erteilt haben, und sind gerade dabei, das gesamte Essenszubereitungs- und — ausgabesystem technisch auf eventuelle undichte Stellen hin zu überprüfen, durch die das Essen verunreinigt worden sein könnte. Ich weiß, das ist unmöglich, aber hier im Hospital hat eine Krankheit um sich gegriffen, von der man glaubt, es könnte sich um eine Lebensmittelvergiftung handeln, und deshalb.“ „Dieses spezielle Problem ist bereits gelöst“, unterbrach ihn Gurronsevas in bestimmtem Ton. „Tun Sie einfach das, was ich Ihnen gesagt habe.“ Als Sarnyaghs Kopf vom Bildschirm verschwunden war, sagte Gurronsevas zu Lioren: „Vielleicht werde ich ihn doch nicht umbringen. Aber wenn Sie mir sagen könnten, wie man jemandem Verletzungen beibringen kann, die nicht lebensgefährlich sind, aber eine lange und unangenehme Genesungszeit erfordern, wäre ich Ihnen sehr dankbar.“ „Ich hoffe, Sie machen nur Spaß“, antwortete Lioren etwas verunsichert. „Aber ist das Problem wirklich gelöst? Und wenn ja, wie?“ „Ich mache nur Spaß“, beruhigte ihn Gurronsevas. „Ja, Ihre seuchenartige sogenannte Lebensmittelvergiftung ist vorüber. Ich erkläre es Ihnen schnell, damit Sie gleich Diagnostiker Conway Bescheid sagen können. An der ganzen Sache ist einfach eine.“ „Nein, Gurronsevas“, schnitt ihm Lioren freundlich das Wort ab. „Das ist Ihr Fachgebiet. Conway gehört zu den wenigen, die wissen, daß Sie hier sind. Sie sparen Zeit, wenn Sie es ihm selbst erklären.“ Als Gurronsevas wenige Minuten später von der unbefugten Änderung berichtete, die Sarnyagh am DBDG-Gericht elf einundzwanzig vorgenommen hatte, blickte ihn Diagnostiker Conway aufmerksam aus dem Bildschirm heraus an. „Das Ganze ist nur passiert, weil ich bis vor ein paar Minuten nichts von einer wenig bekannten Nebenwirkung des terrestrischen Muskats gewußt habe, bei dem es sich um ein Gewürz handelt, das ich gerade bei diesem Gericht gerne verwende“, setzte Gurronsevas seine Erklärung fort. „Auch wenn man die Muskatnuß nicht mehr im Verzeichnis giftiger Pflanzen findet — wahrscheinlich, weil sie wegen der unerfreulichen Begleiterscheinungen im Magen als Droge unbeliebt geworden ist—, ist sie in ferner Vergangenheit als schwaches Halluzinogen bekannt gewesen. Das liegt mehrere Jahrhunderte zurück, als der Gebrauch gehirnschädigender Drogen in verschiedenen Kulturen gebräuchlich war. Bei der Menge Muskat, mit der das DBDG-Gericht elf einundzwanzig gewürzt worden ist und die das Einhundertfache des im Rezept angegebenen Quantums betragen hat, mußten die terrestrischen DBDGs und die Vertreter anderer Spezies zwangsläufig an nach und nachl zunehmenden Halluzinationen, an einem Mangel an körperlicher und geistiger Koordination und an Übelkeit von der Art, wie man sie mir beschrieben hat, leiden, zumal sie zum ersten Mal Muskat in diesen Mengen zu sich genommen hatten. Der Fehler wird in diesem Moment bereinigt, und innerhalb der nächsten zwei Stunden wird die Nahrungsversorgung der DBDGs wieder reibungslos funktionieren“, fügte Gurronsevas hinzu. „Die Symptome werden rasch abklingen, und dem historischen Hinweis in der Datenbank zufolge werden alle Betroffenen, die keine gewohnheitsmäßigen Konsumenten sind — und das trifft ja auf Ihre Patienten zu—, schon in wenigen Tagen vollkommen genesen sein. Ich bin mir sicher, der Notfall ist vorüber.“ Für einen Augenblick war von Diagnostiker Conway kein anderer Laut als ein langes, langsames Ausatmen zu hören. Die im Schädel eingebetteten Augen des Terrestriers drehten sich in ihren Höhlen, um an Gurronsevas vorbei einen Blick auf Lioren und das Unfalldeck dahinter zu werfen; dann lächelte er und antwortete: „Sie haben also doch recht gehabt, Padre Lioren, und wir haben uns wegen einer weitverbreiteten, aber im Grunde simplen Verdauungsstörung unnötig geängstigt. Und Sie, Gurronsevas, haben unsere Probleme innerhalb weniger Minuten behoben, ohne überhaupt im Hospital gewesen zu sein. Das war ausgezeichnete Arbeit, Herr Chefdiätist. Aber haben Sie einen Vorschlag, was wir mit dem verantwortlichen Lebensmitteltechniker machen sollen?“ „Nichts“, meinte Gurronsevas. „Für das berufliche Verhalten meiner Untergebenen habe ich schon immer die Verantwortung übernommen, und dazu gehören auch deren Fehler. Sarnyagh wird nach meiner Rückkehr ins Hospital bestraft — falls ich überhaupt jemals zurückkehren sollte.“ Hinter ihm stieß Lioren einen leisen unübersetzbaren Laut aus. Conway nickte und sagte: „Ich verstehe. Doch Ihre Rückkehr wird noch einige Zeit auf sich warten lassen. Jetzt, wo der Schrecken der Epidemie gebannt ist, wird die Rhabwar innerhalb der nächsten Stunde starten.“ 17. Kapitel Nach Liorens langem Abschiedsgruß und seinen noch längeren Ermahnungen, nicht zu viel Unternehmungsgeist an den Tag zu legen und sich Freunde zu machen, hatte Gurronsevas über so vieles nachzudenken, daß ihm erst wenige Minuten vergangen zu sein schienen, als er in seinen Überlegungen erneut wie erwartet unterbrochen wurde. Er vernahm das Geräusch von Schritten, die darauf hindeuteten, daß mehrere Lebewesen durch die Besatzungsschleuse an Bord gingen, und auch die Schritte von jemandem, der durch den Hauptverbindungsschacht nach hinten zum Maschinenraum stieg. Gleichzeitig wurde das andere Ende des Bordtunnels von einer weiteren Gruppe betreten, die sich rasch näherte. Nach dem Wirrwarr aus Sprachlauten fremder Spezies zu urteilen, das aus dem Tunnel herüberdrang, schätzte Gurronsevas, daß es sich um vier verschiedene Stimmen handelte, die allerdings zu leise sprachen, als daß sein Translator sie hätte trennen und übersetzen können. Schnell dämpfte er das Licht, schob den Wandschirm vors Bett und versteckte sich dahinter. Als die Neuankömmlinge das Unfalldeck betraten, wurde die Beleuchtung auf volle Helligkeit geschaltet. Die Stimmen verstummten, und das laute unverkennbare Zischen und dumpfe Krachen der sich schließenden Luftschleuse war zu hören. Die sich hinziehende Stille wurde schließlich von einer Stimme unterbrochen, die sich leise der musikalischen Schnalze und gerollten Laute ihrer cinrusskischen Muttersprache bediente, so daß Gurronsevas gar keine Übersetzung gebraucht hätte, um den Sprecher zu erkennen. „Ich nehme an, Sie befinden sich ganz in der Nähe, Freund Gurronsevas“, sagte Prilicla. „Im Moment steht das Unfalldeck nicht in Hör- und Sichtkontakt mit dem Kontrollraum, und das wird sich bis zum Eintritt in den Hyperraum auch nicht ändern. Sie befinden sich unter Freunden, Gurronsevas, also schieben Sie bitte den Wandschirm beiseite, und zeigen Sie sich.“ Als sich Gurronsevas und die vier Neuankömmlinge gegenseitig musterten, herrschte für kurze Zeit Schweigen. Dann rief das kelgianische Mitglied des medizinischen Teams: „Gurronsevas! Sind Sie etwa der Gurronsevas? Ich dachte, Sie hätten das Hospital verlassen!“ Murchison lachte leise und antwortete für den Tralthaner: „Sie haben recht, Oberschwester, das hat er ja auch.“ „Guten Tag auch, Freund Gurronsevas“, sagte Prilicla, während er sich anmutig in die Luft erhob, um schließlich über dem Kopf des Tralthaners zu schweben. „Pathologin Murchison und mich kennen Sie ja schon, und wir beide sind von Ihrer Anwesenheit nicht überrascht worden, weil uns O’Mara bereits über Ihre Anwesenheit an Bord und auch über den Grund dafür aufgeklärt hat. Doch Doktor Danalta und Oberschwester Naydrad hatten — wie Sie bei der Kelgianerin am aufgeregten Zustand des Fells erkennen können — nicht mit Ihnen gerechnet und haben Sie bisher vielleicht nur von weitem gesehen. Da es in einem Schiff von dieser Größe jedoch keine Entfernungen gibt, werden wir keine andere Wahl haben, als sehr enge Bekannte und, wie ich glaube, Freunde zu werden.“ Ein großer Haufen aus einer mattgrünen, runzligen gallertartigen Masse näherte sich schwabbelnd Gurronsevas, stülpte ein Auge, ein Ohr und einen Mund aus und sagte: „Wir sind uns zwar schon mehrmals begegnet, doch als ein Wesen, das verschiedene Gestalten annehmen kann und das von seinen Kollegen gern als Verwandlungskünstler bezeichnet wird, habe ich zu dem jeweiligen Zeitpunkt persönliche oder medizinische Gründe gehabt, anders als jetzt auszusehen. Mich wundert nur, daß Sie überhaupt nicht überrascht sind und auch keine Abneigung zeigen, die sich bei vielen äußert, die mir zum ersten Mal begegnen. Ich bin sehr erfreut, Ihre nähere Bekanntschaft zu machen.“ „Ganz meinerseits, Doktor Danalta“, antwortete Gurronsevas. „Mit Ihrem Namen und Ihrer Arbeit bin ich bereits vertraut, weil ich mir die Logbuchaufzeichnungen über die letzten Einsätze und auch über die Rolle, die Sie bei vielen davon gespielt haben, angesehen habe, um mir. na ja, um mir die Wartezeit ein wenig zu verkürzen. Auch wenn ich die medizinischen Einzelheiten nicht begriffen habe, war es doch ein faszinierendes Erlebnis für mich. Zum Schluß hatte ich gar keine Lust mehr, mir die Zeit mit etwas anderem zu vertreiben.“ Prilicla ließ sich langsam auf dem Boden nieder. Sein unglaublich zerbrechlich wirkender, schillernder Körper zitterte, doch dabei handelte es sich um das langsame, leichte Vibrieren, das eine angenehme emotionale Ausstrahlung in seiner Umgebung verriet. „Freund Gurronsevas ist zwar zu höflich, um das zu erwähnen, aber er ist ausgesprochen neugierig“, stellte der Empath fest. „Da es sich bei Murchison, Naydrad und mir um ziemlich normale Lebensformen handelt, nehme ich an, daß sich die Neugier auf Sie bezieht, Freund Danalta. Würde es Ihnen etwas ausmachen, diesen Wissensdurst zu stillen?“ „Natürlich würde ihm das was ausmachen“, warf Naydrad ein, wobei sich ihr Fell verächtlich kräuselte. „Unserem medizinischen Supermann hier gefällt doch nichts mehr, als Fremde zu beeindrucken.“ Wie Gurronsevas sah, war es Danalta außerdem gewohnt, mit der Unhöflichkeit der Kelgianerin mit Leichtigkeit fertig zu werden, denn er stülpte rasch einen kelgianischen Arm mit drei Fingern aus und machte damit eine Geste, die Naydrads Fell noch mehr in Wallung brachte. „Das wäre mir sogar ein Vergnügen“, willigte er erfreut ein. „Aber was interessiert Sie denn besonders an mir, Gurronsevas?“ Während man das Gespräch fortsetzte, war durch die Sichtfenster ringsum zu sehen, wie sich die Rhabwar durch das weit in den Raum ausgreifende Labyrinth der Außenkonstruktion des Hospitals und zwischen den Flugstreckenmarkierungen hindurchschob. Sobald sich das Schiff im freien Raum befand, würde man, wie Gurronsevas erfahren hatte, Schub geben und sich bis zur vorgeschriebenen Sprungdistanz entfernen, von wo aus die Rhabwar beim Eintritt in ein von ihr selbst erschaffenes künstliches Universum die empfindlicheren Ausrüstungsgegenstände des Hospitals nicht mehr in Mitleidenschaft ziehen könnte. Doch die Zeit bis dahin ging sehr schnell und auf äußerst angenehme Weise vorüber, denn Danalta sprach gern von sich selbst und verstand es, das Thema interessant zu gestalten, was für Leute seines Schlags relativ ungewöhnlich war. Danaltas physiologische Klassifikation lautete TOBS. Er gehörte einer Spezies an, die sich auf einem Planeten mit einer äußerst exzentrischen Umlaufbahn entwickelt hatte, die zu derart starken Klimaschwankungen führte, daß zum Überleben ein Höchstmaß an körperlicher Anpassungsfähigkeit erforderlich war. Die Spezies war auf ihrem Planeten zur dominanten Lebensform geworden und hatte Intelligenz und eine Zivilisation entwickelt, aber nicht durch das Konkurrieren im Herausbilden natürlicher Waffen, sondern durch die Verfeinerung und Perfektionierung des Anpassungsvermögens. Im Fall der Konfrontation mit natürlichen Feinden hatten die TOBSs die Wahl zwischen vier Möglichkeiten: der Flucht, der Schutzanpassung, der Annahme einer für den Angreifer erschreckenden Gestalt oder der Ausbildung eines harten, undurchdringlichen Schutzpanzers. Die TOBSs waren im Grunde amöbisch, besaßen jedoch die Fähigkeit, die für jede Umgebung oder Situation erforderlichen Gliedmaßen oder Sinnesorgane auszustülpen oder eine Schutzhaut zu bilden. „In den Zeiten vor der Entwicklung von Intelligenz sind die Geschwindigkeit und die Genauigkeit der Anpassung entscheidend gewesen“, setzte Danalta seine Erklärungen fort, wobei er, ohne eine Pause einzulegen, zuerst die Gestalt eines verkleinerten Tralthaners annahm, der bis auf die Größe ein genaues Ebenbild von Gurronsevas war, um sich gleich darauf in eher der Lebensgröße entsprechende Spiegelbilder von Naydrad und Murchison zu verwandeln. „Um eine Bedrohung durch Raubtiere zu vermeiden, hat die schnelle Nachahmung der Handlungen und Verhaltensmuster der potentiellen Angreifer eine wichtige Rolle bei der Anpassung gespielt. Aus diesem Grund mußten wir außerdem rezeptive empathische Fähigkeiten ausbilden, um zu wissen, was für ein Aussehen und Verhalten unser Gegenüber von uns erwartete. Daß diese Fähigkeiten an Reichweite und Feinfühligkeit denen von Doktor Prilicla nicht annähernd gleichkommen, brauche ich wohl nicht extra zu erwähnen. Da meine Spezies über derartige körperliche und psychologische Schutzmechanismen verfügt, kann man uns keine körperlichen Schäden zufügen, es sei denn, man vernichtet uns auf physikalischem Weg oder setzt uns Hochtemperaturen aus“, fügte Danalta hinzu. „Dabei handelt es sich jedoch um Bedrohungen, die nicht durch natürliche Feinde, sondern durch die moderne Technik entstehen. Leider sterben wir immer noch an Altersschwäche, obwohl wir keinerlei Schwierigkeiten haben, die Gestalt eines Kleinkinds anzunehmen.“ „Faszinierend!“ staunte Gurronsevas. „Aber mit diesen natürlichen Schutzmechanismen hat Ihre Spezies doch bestimmt keinen großen Bedarf an Ärzten, oder?“ „Das stimmt allerdings“, bestätigte Danalta. „Auf meinem Heimatplaneten wird die Heilkunst nicht benötigt, und ich bin auch kein Arzt. Doch mit meinen Nachahmungsfähigkeiten — und an dieser Stelle muß ich darauf hinweisen, daß sie selbst unter den Angehörigen meiner eigenen Spezies als überdurchschnittlich eingestuft werden — stellt ein Institut wie das Orbit Hospital eine gewaltige Herausforderung für mich dar. Wegen der Arbeit, die ich auf der Rhabwar und bei den Patienten auf den Stationen leisten kann, bestehen meine Freunde allerdings darauf, mich mit dem Titel „Doktor“ anzusprechen. Haben Sie noch weitere Fragen, Gurronsevas?“ Der Tralthaner spürte, wie er sich zusehends für dieses ganz eigenartige Lebewesen erwärmte, das genau wie er selbst einzig und allein wegen der beruflichen Herausforderung ans Hospital gekommen war. Während er noch versuchte, eine einfache Frage, die einen Angehörigen einer derart seltsamen Spezies wie die TOBSs womöglich kränkte, in einer höflichen, indirekten Art zu formulieren, befiel ihn ein plötzliches Schwindelgefühl. Die Rhabwar hatte die Sprungdistanz erreicht und tauchte gerade in den Hyperraum ein, ein Umstand, der durch die Sichtfenster bestätigt wurde, hinter denen nichts als ein flimmerndes Grau zu sehen war. „Gurronsevas, könnte Ihr Zögern bedeuten, daß die Frage, die Sie stellen möchten, ein wenig taktlos ist und sich möglicherweise um das Thema „Fortpflanzüng“ dreht?“ fragte Prilicla freundlich. „Vergessen Sie bitte nicht: Bei Danalta handelt es sich — genau wie bei mir — um einen rezeptiven Empathen. Doch Telepathen sind wir nicht. Wir spüren, daß Sie noch eine Frage haben. Wie sie lautet, wissen wir nicht, nur, daß Sie die Antwort für wichtig halten.“ „Ja, für mich ist sie wichtig“, gestand Gurronsevas und fragte schließlich: „Doktor Danalta, was essen Sie eigentlich so?“ Pathologin Murchison warf den Kopf in den Nacken und lachte, Oberschwester Naydrads silbriges Fell schlug langsam vom Kopf bis zum Schwanz unregelmäßige Wellen, und Priliclas Körper reagierte auf etwas, das Gurronsevas mittlerweile als plötzliche Ausstrahlung angenehmer Emotionen kannte. Lediglich Danalta blieb reglos und ernsthaft. „Tut mir leid, Gurronsevas, da muß ich Sie schwer enttäuschen“, antwortete er, „denn meine Spezies verfügt über keinen Geschmackssinn. Bis auf spezialgehärtete Metalle kann ich alles essen, egal, wie es aussieht oder welche Konsistenz es hat, und das tue ich auch. Ich bin dafür bekannt, in Augenblicken großer geistiger Konzentration schon mal ein Stückchen von den Bodenplatten verzehrt zu haben, auf denen ich gerade stehe, und das hat die Schiffsoffiziere früher äußerst ärgerlich gemacht.“ „Das Gefühl kenne ich sehr gut“, merkte Gurronsevas an. Während sich die Mitglieder des medizinischen Teams auf ihre unterschiedlichen Arten belustigt zeigten, erinnerte er sich an die Abschiedsworte, die Lioren an ihn gerichtet hatte. Er, Gurronsevas, befinde sich noch in der Probezeit, hatte ihn der Padre gewarnt, und es gebe Dinge, die er tun müsse, und Dinge, die er nicht einmal probieren dürfe. Der Versuch, an dem Nahrungssynthesizer des Schiffs herumzubasteln, gehöre ganz eindeutig zu letzterem. Vor allem müsse Gurronsevas daran denken, daß er sich auf einem kleinen Schiff mit einer ganz kleinen Besatzung von Spezialisten befinde, und er solle sich nach besten Kräften bemühen, sich diese Leute nicht zu Feinden, sondern zu Freunden zu machen. Seit das medizinische Team an Bord gekommen war, hatte er genau das zu tun versucht, indem er die eigene Bedeutung geleugnet und eine höfliche und mit Bewunderung gemischte Neugier gegenüber Danalta und mit der Zeit auch gegenüber den anderen an den Tag gelegt hatte. Überraschenderweise hatte ihn das keine große Mühe gekostet, doch jetzt fragte er sich, ob er den für ihn untypischen Charme womöglich übertrieben hatte und ihn die Mitglieder des medizinischen Teams insgeheim für oberflächlich und unaufrichtig hielten — oder war es vielleicht so, daß sie sich genauso angestrengt bemühten, freundlich zu sein, wie er? Zudem fragte er sich, ob er mit dem Versuch, sich mit den nichtmedizinischen Offizieren der Rhabwar anzufreunden, ebensoviel Erfolg haben würde. Wie aufs Stichwort leuchtete der Bildschirm des Schiffskommunikators auf und zeigte den Kopf und die von der grünen Uniform des Monitorkorps bedeckten Schultern eines Terrestriers. „Unfalldeck, hier spricht der Captain“, sagte er in scharfem Ton. „Ich habe Ihr Gespräch seit einigen Minuten mitgehört. Doktor Prilicla, was hat diese, diese wandelnde tralthanische Katastrophe auf meinem Schiff zu suchen?“ Obwohl der Kontrollraum für die empathischen Fähigkeiten des Cinrusskers weit entfernt lag, machte die emotionale Ausstrahlung des Captains dem Empathen ein wenig zu schaffen. Dennoch antwortete Prilicla, ohne zu zögern: „Für die Dauer des gegenwärtigen Einsatzes ist Freund Gurronsevas vom medizinischen Team zu dessen nichtmedizinischen Berater bestimmt worden. Bei dem, was uns erwartet, könnte sich seine Sachkenntnis als hilfreich erweisen. Bitte machen Sie sich um mögliche Auswirkungen auf den Schiffsrumpf keine Sorgen, Freund Fletcher. Der Chefdiätist wird auf dem Unfalldeck untergebracht. Er benötigt kein spezielles Lebenserhaltungssystem und wird es nicht darauf ankommen lassen, Ihre für geringe Schwerkraft vorgesehenen Einrichtungsgegenstände und Geräte zu beschädigen, indem er sich durchs Schiff bewegt, es sei denn, Sie fordern ihn ausdrücklich dazu auf.“ Für einen kurzen Moment herrschte Schweigen, doch Gurronsevas war über Priliclas Worte zu verblüfft, um die Pause mit einer Frage überbrücken zu können. Wie er schon oft gehört hatte, war der kleine Empath nicht abgeneigt, die Wahrheit ein wenig zurechtzustutzen, wenn er dadurch die emotionale Ausstrahlung in seiner näheren Umgebung verbessern konnte — das gab Prilicla selbst unumwunden zu. Ein für Emotionen empfängliches Wesen nahm die Gefühle der anderen ringsum mit gleicher Stärke wahr wie diese selbst, doch die Andeutung, Gurronsevas könnte das medizinische Team beim bevorstehenden Einsatz in allen möglichen Fragen beraten, war völlig lächerlich. Zwar dürfte sich die emotionale Ausstrahlung des Captains durch diese Lüge höchstwahrscheinlich verbessern, wie Gurronsevas glaubte, doch würde diese Wirkung nur von kurzer Dauer sein. „Ich spüre Ihre Neugier, Freund Fletcher“, fuhr Prilicla fort, der nicht mehr zitterte, da der Zorn des Captains verraucht und nur noch leichte Verärgerung übriggeblieben war, „und beabsichtige, sie so bald wie möglich zu stillen.“ „Na schön, Doktor“, gab sich der Captain fürs erste zufrieden und fuhr dann in geschäftigem Tonfall fort: „Im Moment fliegen wir gerade mit aktivierter Selbststeuerung durch den Hyperraum und werden das Wemar-System in schätzungsweise knapp vier Standardtagen erreichen. Ein paar Minuten, bevor ich an Bord gegangen bin, hat man mir die Koordinaten des Zielsystems und das Video mit den vorläufigen Instruktionen gegeben, das ich mir aus Mangel an Gelegenheit noch nicht genau ansehen konnte, und mir mitgeteilt, daß wir die ausführlichen Anweisungen bei unserer Ankunft erhalten werden. Jetzt wäre der geeignete Zeitpunkt, das Video abzuspielen, damit auch wir Nichrmediziner in das, was wir im Wemar-System tun sollen, eingeweiht werden.“ „Ich weiß ebenfalls nichts darüber“, ergänzte Naydrad, wobei sich ihr Fell vor Verärgerung zu Stacheln aufstellte. „Zumindest habe ich nicht mehr als ein Gerücht gehört, nach dem drei Wochen lang Besprechungen auf höchster Ebene erforderlich gewesen sind, um zu entscheiden, ob die Rhabwar den Auftrag erledigen soll oder nicht. Und als man sich endlich zu einem Entschluß durchgerungen hatte, wurde in meiner Unterkunft die Alarmanlage ausgelöst, damit ich in voller Ausrüstung zu einem Noteinsatz ausrücke, und das, als ich gerade mitten in.“ „Meine Freundin, ich verstehe Sie völlig“, unterbrach Prilicla sie sanft. „Doch oft muß man die Zeit, die benötigt wird, um zu einem Entschluß zu kommen, von der abziehen, die man benötigt, um ihn in die Tat umzusetzen. Das Gerücht ist nicht ganz zutreffend gewesen. Ich selbst habe an den besagten Besprechungen teilgenommen, bin mir jedoch trotz unseres einzigartigen Rufs, kranken oder verletzten Lebewesen der verschiedensten Spezies aus der Klemme zu helfen, nicht ganz sicher gewesen, ob die Rhabwar imstande sein könnte, diesen Auftrag durchzuführen. Viele der militärischen und medizinischen Autoritäten haben mir in diesem Punkt zugestimmt, der Chefpsychologe und einige andere nicht. Geheimgehalten wurde das Ganze nur, um nicht die Gefühle der Besatzung der Rhabwar zu verletzen, indem man uns gegenüber in aller Öffentlichkeit mangelndes Vertrauen gezeigt hätte. Und die Fragen, die Ihnen allen, wie ich spüre, so auf der Zunge brennen, sollten warten, bis wir uns das Video zum Wemar-System angesehen haben“, fügte er hinzu. „Wenn Sie soweit sind, Freund Fletcher, dann fangen Sie bitte an.“ 18. Kapitel Zum Zeitpunkt der Entdeckung vor drei Monaten hatte man nicht geglaubt, daß der Planet, den die dominante intelligente Lebensform, die auf ihm lebte, „Wemar“ nannte, den Kontaktspezialisten des Monitorkorps irgendwelche ernsthafte Schwierigkeiten hätte bereiten können. Der Planet litt an derart großen Umweltproblemen, daß er im Grunde als unbewohnbar eingestuft werden mußte, und der winzige Rest, der von der Bevölkerung übriggeblieben war, mußte ein Leben dicht am Existenzminimum fristen. In der jüngeren Vergangenheit — nach den Untersuchungen industrieller Überreste aus dem Orbit schätzte man deren Alter auf etwas über vier Jahrhunderte — war die einheimische Zivilisation technisch so weit fortgeschritten gewesen, daß sie Satelliten in die Umlaufbahn geschossen hatte, und zudem waren Spuren eines nicht ständig aufrechterhaltenen Stützpunkts auf dem unbewohnten Planeten vorhanden, der dem System am nächsten lag. Vor dem Hintergrund der erst vor kurzer Zeit untergegangenen Raumfahrttechnik der Spezies war man von zwei wichtigen Annahmen ausgegangen: Die eine war, daß der Gedanke an eine von anderen intelligenten Wesen bewohnte Galaxie die Wemarer nicht ängstigen würde und sie der Vorstellung, in freundschaftlichen Kontakt mit Besuchern von anderen Spezies zu treten, nicht vollkommen ablehnend gegenüberstünden, auch wenn sie das plötzliche Auftauchen eines Raumschiffs im Orbit ihres Planeten vielleicht überraschen und beunruhigen könnte. Die zweite Annahme lautete, daß die Wemarer einverstanden sein würden, die ihnen angebotene und so dringend benötigte materielle und technische Unterstützung anzunehmen, sobald man erst einmal den Kontakt ausgeweitet und ihre natürlichen Ängste zerstreut hatte. Beide Annahmen sollten sich als falsch erweisen. Nachdem man Kommunikationsgeräte mit integriertem Translator für Sprech- und Sichtkontakt in beide Richtungen über den wenigen bewohnten Gebieten abgeworfen hatte — die Bild- und Tonübertragung waren Bestandteile der untergegangenen Wemarer Technik gewesen—, sagten die Einheimischen den Fremdlingen nur ein paar böse Worte, bevor sie ihnen befahlen, Wemar und sein Sonnensystem sofort zu verlassen, um kurz darauf sämtliche Geräte der Fremdweltler zu zertrümmern. Nur die Mitglieder einer kleinen, isolierten Gruppe hatten einen Hauch von Abneigung dagegen gezeigt, den Kontakt abzubrechen, doch auch sie zerstörten schließlich die Kommunikatoren, die man ihnen geschickt hatte. Offensichtlich handelte es sich bei den Wemarern um eine sehr stolze Spezies, die die von den Fremdweltlern angebotene Hilfe unter keinen Umständen annehmen wollte. Um das Risiko einer weiteren Verschärfung der Lage zu vermeiden, befolgte der Kommandant des Monitorkorpsschiffs, das den Erstkontakt einleiten sollte und sich auf Umlaufbahn um Wemar befand, den ersten Befehl der Wemarer, indem er keine Kommunikatoren mehr abwarf, und mißachtete den zweiten in der Gewißheit, daß die an ihren Planeten gefesselte Spezies nichts gegen das im Orbit befindliche Schiff unternehmen konnte, und setzte die Untersuchung der Planetenoberfläche fort. Kurz darauf hatte man Wemar zum Notstandsgebiet erklärt und die Rhabwar losgeschickt, um die medizinischen Schwierigkeiten abschätzen und sich — falls möglich — eine Lösung vorschlagen zu lassen. Tatenlos zuzusehen, während eine intelligente Spezies versuchte, geschlossen Selbstmord zu begehen, war noch nie die Politik der Föderation gewesen. In einer Entfernung, die mehr als zehnmal so groß wie der Durchmesser Wemars war, tauchte die Rhabwar aus dem Hyperraum auf. Aus dieser Distanz erschien Wemar wie jeder andere normale bewohnte Planet: Die Umrisse der Kontinente und der polaren Eisflächen wurden von geschlossenen oder zerzausten Wolkendecken und den dicken weißen Spiralen der Tiefdruckgebiete verwischt und teilweise unterbrochen. Erst als sich die Rhabwar auf den Abstand von einem Planetendurchmesser genähert hatte, wurden die anomalen Einzelheiten deutlich sichtbar. Obwohl überall genügend Regenwolken über den Himmel zogen, wies die Oberflächenvegetation lediglich in einem schmalen Streifen rings um den Äquator Spuren normalen Wachstums auf. Ober- und unterhalb des Grüngürtels nahm die Färbung zu den nördlichen und südlichen gemäßigten Zonen hin zunehmend Gelb- und Brauntöne an, bevor sie sich in der Tundra am Rande der polaren Eisgebiete ganz verlief. Ausgedehnte Wüstenflächen waren in diesen Gebieten nicht zu entdecken; es war einfach so, daß die einst dichten Wälder und welligen Wiesen abgestorben und verdorrt oder aufgrund wetterbedingter Blitzeinschläge in großen Feuersbrünsten verbrannt waren, die sich durch ganze Landschaften gefressen haben mußten — und die neue Vegetation kämpfte sich noch immer durch die Asche der alten ans Licht. Auf dem Unfalldeck war man nach wie vor in diesen Anblick versunken, ohne ihn jedoch zu genießen, als der Captain auf dem Bildschirm des Kommunikators erschien. „Doktor Prilicla, wir haben eine Nachricht von Captain Williamson von der Tremaar erhalten“, meldete Fletcher. „Wie er sagt, ist es für den Einsatz nicht erforderlich, daß die Rhabwar an seinem Schiff ankoppelt, aber er würde gern gleich mit Ihnen sprechen.“ Nach Gurronsevas Auffassung bekleidete der Kommandant eines Vermessungs- und Erstkontaktschiffs des Monitorkorps bestimmt einen sehr viel höheren Rang als der Captain eines Ambulanzschiffs, und dieser hier hatte offenbar vor, nun davon Gebrauch zu machen. „Chefarzt Prilicla“, meldete sich Williamson ohne Einleitung, „ich möchte niemanden persönlich beleidigen, aber ich bin ganz und gar nicht erfreut, Sie hier zu sehen. Das liegt daran, daß ich nicht glücklich mit einer Einsatzphilosophie bin, der fast so etwas wie Verzweiflung zugrunde liegt und die anscheinend von der Annahme ausgeht, daß, wenn Ihre Anwesenheit hier nicht schadet, sie vielleicht etwas nützen könnte. Aus Ihren Anweisungen wissen Sie ja bereits, daß die Lage hier ziemlich vertrackt ist, und für eine Verbesserung gibt es keinerlei Anzeichen. Zwar überwachen wir den Planeten ständig mit Kameras und Oberflächensensoren, aber wir stehen mit niemandem auf Wemar in direkter Verbindung. Dort unten gibt es eine kleine Gruppe von Wemarern, die möglicherweise etwas weniger stolz und halsstarrig oder einfach intelligenter als die anderen ist und von der wir den Eindruck gewonnen haben, daß ein paar von ihren Mitgliedern durchaus der Auffassung waren, von unseren Hilfsangeboten profitieren zu können. Doch auch diese Wemarer haben schließlich aufgehört, mit uns zu sprechen, und die Translatoren zerstört. Ich persönlich glaube nach wie vor an die Möglichkeit, daß diese Gruppe die Verbindung wiederaufnimmt — vorausgesetzt, wir unterlassen alles, was sie kränken könnte — und uns, wenn wir vorsichtig vorgehen, in die Lage versetzt, erneut in Kontakt mit den anderen, weniger zugänglichen Gruppen zu treten, die mit der Zeit die umfangreiche Katastrophenhilfe akzeptieren werden, die sie so dringend benötigen.“ Williamson holte tief Luft und fuhr fort: „Unabhängig von Ihren guten Absichten, Doktor, könnte das ungebetene Hereinplatzen der Rhabwar in eine derartige Situation all diese schwachen Hoffnungen für die Zukunft zunichte machen. Und falls Sie in einem Gebiet in Äquatornähe landen sollten, wo die politische Macht und die Überreste der Verteidigungstechnik der Wemarer konzentriert sind, könnte das sogar zu Schäden an Ihrem Schiff und zu Opfern unter der Besatzung führen. Die Bemühungen eines kleinen medizinischen Teams werden sich nicht wesentlich auf die hiesigen Umstände auswirken, außer vielleicht zum Schlechten.“ Während der Captain der Tremaar all das sagte, verfolgte Gurronsevas mit prüfendem Blick dessen Verhalten und die kleinen Veränderungen im Gesichtsausdruck. Bei Williamson handelte es sich um einen Terrestrier, der in vieler Hinsicht Chefpsychologe O’Mara ähnelte. Die buschigen Sicheln über den Augen und der Kopfbewuchs, der unter der Uniformmütze hervorlugte, wiesen dieselbe metallisch graue Tönung auf, die Augen wandten sich niemals ab und blinzelten nicht, und die Äußerungen des Captains waren von jener Selbstsicherheit erfüllt, die aus der Gewohnheit, Befehle zu erteilen, resultierte. Vom Auftreten her war Williamson jedoch wesentlich höflicher als O’Mara. Schon die zuvor erhaltenen Instruktionen hatten angedeutet, daß sich das medizinische Team auf einige Auseinandersetzungen mit den vor Ort befindlichen Autoritäten gefaßt machen konnte, aber das hier klang nach Gurronsevas Dafürhalten nach einer wirklich ernsthaften Meinungsverschiedenheit. Er fragte sich, was ein schüchterner und zurückhaltender Empath wie Prilicla gegen einen derart starken Widerstand ausrichten konnte. „Leider kann ich Ihnen nicht befehlen, zurück zum Orbit Hospital zu fliegen, weil Sie theoretisch an jedem Katastrophenort automatisch die Einsatzleitung übernehmen, und die hiesige Lage könnte sich schnell zu einer Katastrophe von ungeahnter Größenordnung entwickeln. Doch bei den Wemarern handelt es sich um eine stolze Spezies, deren Zivilisation zwar untergeht, aber — wie es in solchen Situationen oft der Fall ist — noch viel von der Waffentechnik bewahrt hat. Wir wollen hier keinen weiteren Zwischenfall wie den auf Cromsag riskieren. Um der Sicherheit Ihrer Besatzung willen und zur Vermeidung des seelischen Schocks, den ein Empath durch einen Fehlschlag mit Opfern erleiden könnte, den er zu verantworten hätte, möchte ich Ihnen dringend raten, sofort zum Orbit Hospital zurückzukehren. Bitte denken Sie ernsthaft über meinen Ratschlag nach, Doktor, und lassen Sie mich Ihre Absichten so bald wie möglich wissen“, schloß Williamson. Prilicla schwebte weiterhin ruhig vor der Kamera des Kommunikators in der Luft und ließ, wie Gurronsevas sah, keinerlei Anzeichen einer Einschüchterung erkennen — vielleicht kannte er auch nur eine einzige Art, auf die er einem anderen denkenden Wesen, ungeachtet dessen hohen Rangs oder schlechter Manieren, gegenübertrat. „Captain, für die Sorge um die Sicherheit meiner Besatzung und für die ganz richtige Befürchtung, ich persönlich würde psychisch darunter leiden, falls jemand Verletzungen davontrüge, bin ich Ihnen dankbar“, antwortete der Empath. „Nachdem Ihnen das bekannt ist, müssen Sie ebenfalls wissen, daß ich zur körperlich zerbrechlichsten, schüchternsten und unabänderlich feigsten Spezies der Föderation gehöre. Wir Cinrussker schrecken vor nichts zurück, um körperliche Schmerzen oder emotionales Unbehagen von uns selbst und denjenigen, die sich gerade in unserer Nähe befinden, abzuhalten, was für einen Empathen ein und dasselbe ist. Mein Freund, daß ich keine unnötigen Risiken eingehe, ist ein Naturgesetz, ein Gebot der Evolution.“ Williamson schüttelte ungeduldig den Kopf. „Sie sind der ranghöchste medizinische Offizier auf der Rhabwar, dem Ambulanzschiff, das mehr hoch gefährliche Rettungseinsätze durchgeführt hat als jedes andere Schiff des Monitorkorps“, entgegnete er. „Natürlich können Sie behaupten, daß diese Risiken zum jeweiligen Zeitpunkt notwendig und unvermeidlich gewesen sind, und zwar selbst für ein Wesen, für das Feigheit lebensnotwendig ist. Aber bei allem Respekt, Doktor, die Gefahren, die Sie auf Wemar auf sich nehmen würden, sind überflüssig, vermeidbar und dumm.“ Prilicla zeigte keinerlei körperliche Reaktion auf die barschen Worte des Captains, und das mußte, wie Gurronsevas schlagartig klar wurde, daran liegen, daß sich die Tremaar viele tausend Kilometer entfernt auf der Umlaufbahn um Wemar befand und selbst für einen Empathen von Priliclas Feinfühligkeit zu weit entfernt war, um Williamsons emotionale Ausstrahlung noch wahrzunehmen. In freundlichem Ton antwortete Prilicla: „Als erstes habe ich die Absicht, mir selbst ein Bild von der Lage in der gemäßigten Zone im Norden zu machen, wo die Technik und die Lebensbedingungen primitiv und die Wemarer hoffentlich geistig flexibler sind. Danach werde ich mich entscheiden, ob wir landen oder nicht und ob wir den Einsatz abbrechen.“ Captain Williamson atmete hörbar aus, sagte aber nichts. „Falls wir landen, wäre ich Ihnen dankbar, wenn Sie das betreffende Gebiet weiterhin aus dem Orbit beobachten würden, damit Sie uns vor feindlichen Aktionen warnen können, die die Einheimischen eventuell gegen uns starten“, fuhr Prilicla fort. „Der Meteoritenschild der Rhabwar wird das Schiff zwar vor allen Gegenständen schützen, mit denen uns die Wemarer angreifen könnten, doch selbstverständlich liegt es nicht in meiner Absicht, gar einen Krieg anzufangen, nicht einmal einen Verteidigungskrieg. Deshalb werde ich in einem solchen Fall sofort starten und woanders hinfliegen, bevor es zu einem Konflikt kommen kann. Außerdem hätte ich gern alle neuen Informationen, die in unseren vorläufigen Instruktionen noch nicht enthalten gewesen sind. Mir wäre es sehr lieb, diese Informationen zu erhalten, sobald Sie es einrichten können. Unser Hauptinteresse gilt den Gebieten, in denen es nur wenig oder gar keine Waffentechnik gibt und wo die dicht am Existenzminimum lebende Bevölkerung einen überdurchschnittlich hohen Anteil an Kindern aufweist“, erläuterte Prilicla weiter. „Wir gehen davon aus, daß die Wemarer Eltern insofern anderen zivilisierten Lebewesen ähneln, als daß sie bereit sein werden, den Stolz ihrer Spezies und die Wut über Einmischungen von außen zurückzustellen, wenn sie dadurch den Hunger ihrer Kinder lindern können. Falls dieser erste Schritt verwirklicht werden kann und die Eltern dahingehend beeinflußt werden können, unsere Hilfe anzunehmen, wäre es ratsam, deren Scham auf das Mindestmaß zu reduzieren, indem man den Einsatz zur Versorgung der Einheimischen mit Nahrungsmitteln nicht allzu auffällig durchführt.“ Für einen Moment drehte Williamson den Kopf zur Seite, um jemandem, der sich außerhalb des Blickwinkels der Kamera befand, leise eine Anweisung zu geben. Dann wandte er sich wieder Prilicla zu und sagte: „Wir wissen beide, daß Sie das Sagen haben, sobald Sie in einem Katastrophengebiet gelandet sind — das sich in diesem Fall über den ganzen verdammten Planeten erstreckt. Also schön, im Moment brauchen Sie die ständige Versorgung mit den neuesten Nachrichten, die schützende Überwachung aus dem Orbit und — falls erforderlich — heimliche nächtliche Abwürfe von Lebensmitteln zur rechten Zeit. Das alles sollen Sie bekommen. Benötigen Sie sonst noch etwas?“ „Danke, nein, mein Freund“, antwortete Prilicla. Williamson schüttelte bedächtig den Kopf und fuhr fort: „Man hat mich von vornherein davor gewarnt, daß der Versuch, Sie umzustimmen, wie ein Kampf gegen Spinnweben sein würde — ein Maximum an Energieaufwand bei einem Minimum an Erfolg. Alles, was ich sagen konnte, um Sie von Ihrem Vorhaben abzubringen, habe ich gesagt. Ich wollte Ihnen lediglich einen guten Rat geben, Doktor, auch wenn ich Sie nicht zwingen kann, ihn anzunehmen, aber. Seien Sie dort unten ganz vorsichtig, mein Freund.“ Bevor Prilicla etwas entgegnen konnte, verschwand Williamsons Gesicht vom Schirm, auf dem jetzt das von Captain Fletcher auftauchte. „Die Tremaar übermittelt uns bereits die neuesten Informationen, um die Sie gebeten haben. Wie mir der Kommünikationsofllizier der Tremaar mitteilt, sind ein paar schöne Nahaufnahmen von jungen und erwachsenen Wemarern dabei sowie eine Aufstellung der Verteidigungsanlagen und einige Angaben zur Sozialstruktur und zum sozialen Verhalten, die zum Großteil auf Vermutungen beruhen — letzteres ist jedoch inoffiziell. Sobald wir die neuen Informationen haben, werde ich sie über Ihren Repeaterschirm abspielen. Unterdessen nähern wir uns Wemar mit Reisegeschwindigkeit und werden schätzungsweise in zweiunddreißig Stunden und zwei Minuten in die niedrige Umlaufbahn eintreten.“ „Danke, mein Freund“, entgegnete der Empath. „Dann bleibt uns ja reichlich Zeit, um uns noch vor der Landung die neuen Informationen anzusehen.“ „Oder unsere Meinung über die Landung zu ändern“, warf Naydrad ein. Murchison lachte leise und meinte: „Das glaube ich nicht, das wäre viel zu vernünftig.“ Wenige Minuten später liefen die Neuigkeiten über den Hauptschirm, und während der Diskussion, die sich daran anschloß, mußte Gurronsevas rasch feststellen, wie man sich als unbeteiligter Beobachter fühlte. Überraschenderweise war es gerade der Nichtmediziner Fletcher, der die Diskussion eröffnete, indem er sagte, sein Kollege auf der Tremaar habe mit der Bedrohung, die von den schweren Waffen der Wemarer ausgehe, bei allem Respekt absichtlich übertrieben. Diese Waffen seien, wie man an Bord der Rhabwar selbst gesehen habe, sehr alt und stark verrostet und würden keinerlei Anzeichen eines kürzlichen Gebrauchs aufweisen, während die Geschützstellungen und das Verbindungssystem aus Schützengräben entweder überwuchert oder durch natürliche Erosion stark abgetragen seien. Zwar gehörten die weitreichenden Waffen zu dem Typ mit chemischer Zündung, aus dem man massive oder explodierende Projektile abfeuere, doch nach Fletchers Ansicht stellten die Waffen für die Schützen eine größere Gefahr dar als für die Beschossenen. Da die abgeworfenen Kameras nicht in ein Gebäude oder unterirdisches Waffenlager der Wemarer gelenkt werden könnten, ohne sofort gesehen und zerstört zu werden, sei es zwar möglich, daß die Wemarer über versteckte Arsenale mit tragbaren Waffen verfügten, aber auch das sei unwahrscheinlich. „Der Grund für diese Annahme beruht auf den heimlichen Beobachtungen der jungen Wemarer“, fuhr Fletcher fort. „Wie die meisten Kinder spielen sie Jäger oder Soldat, wobei sie die Spielzeugspeere oder die Pfeile und Bogen benutzen, bei denen es sich um die harmlosen, verkleinerten Nachbildungen der Waffen der Erwachsenen handelt. Aber kein einziges Kind ist gesehen worden, das eine Spielzeugwaffe auf etwas gerichtet und dazu „Peng!“ gerufen hätte — dieses lautimitierende Wort scheint ja zufällig in den Sprachen aller Spezies ähnlich zu klingen. Deshalb ist es unwahrscheinlich, daß der Gebrauch von Waffen mit chemischer Zündung bei den Eltern weit verbreitet ist. Außerdem hat die Bevölkerung der befestigten Dörfer, wie wir gesehen haben, dermaßen abgenommen, daß die Verteidigungsanlagen gar nicht mehr vollständig besetzt werden können. Meiner Ansicht nach sind die frühen Befestigungen angelegt worden, um Angreifer abzuwehren, die auf Nahrungssuche gewesen sind. Doch heutzutage sind die überlebenden Wemarer so weit verstreut und ihre Anzahl und die der Tiere, die auf ihrem Speiseplan stehen, hat derart abgenommen, daß sie nicht mehr imstande sind, für einen Angriff weite Strecken zurückzulegen, weil sie wahrscheinlich verhungern würden, bevor sie das Dorf erreichen, das sie angreifen wollen. Ich glaube, Captain Williamson hat versucht, uns zu verscheuchen, bevor wir uns einen genauen Überblick über die Lage verschaffen konnten“, schloß Fletcher. „Meinem Eindruck nach stellen die Wemarer keine Bedrohung für Leib und Leben dar. Was ich nicht verstehe, ist, weshalb diese Wesen beim Essen so wählerisch sind, obwohl sie kurz vorm Verhungern stehen.“ „Vielen Dank, mein Freund“, sagte Prilicla. „Ihre Ausführungen haben uns sehr beruhigt. Außerdem stellen wir uns dieselben Fragen. Freund Danalta, ich spüre, daß Sie etwas sagen wollen.“ Der Gestaltwandler, der zur Zeit wie ein grüner organischer Klumpen aussah, erbebte, bildete zusätzlich zu dem einzelnen Auge einen beweglichen, unförmigen Mund aus und sagte: „Ich habe festgestellt, daß ein zivilisiertes Lebewesen durch Hunger dazu getrieben werden kann, sich auf äußerst unzivilisierte Weise zu verhalten, insbesondere dann, wenn die Nahrungspalette des Betreffenden sehr begrenzt ist. Glücklicherweise konnte meine eigene Spezies überleben und Intelligenz entwickeln, indem sie einfach alles gefressen hat, was nicht versucht hat, sie zu fressen. Aber können wir entscheiden, ob das auf eine Tradition, auf eine Form der frühen Glaubensausrichtung oder auf eine grundlegende physiologische Notwendigkeit zurückzuführen ist?“ „Bisher sind auf Wemar keine Gräber entdeckt worden“, gab Fletcher zu bedenken. „Das äußere Zeichen der Ehrung oder des Gedenkens an die Toten kann auf den Glauben an ein Leben nach dem Tod hindeuten. Natürlich können wir das nicht mit Sicherheit sagen, doch nach den bisherigen Informationen scheinen die Wemarer nicht religiös zu sein.“ „Danke, Doktor“, sagte Murchison, als ihr Prilicla das Wort erteilte. Dann ging sie zur Computerkonsole, rief über die Tastatur noch einmal die von der Tremaar übermittelten Informationen ab und hielt die Aufzeichnungen an, als auf dem Schirm die erste der vielen Nahaufnahmen der Einheimischen erschien. „Die Wemarer Lebensform gehört zur physiologischen Klassifikation DHCG. Für die Nichtmediziner unter uns: Es handelt sich also um eine warmblütige sauerstoffatmende Spezies, deren ausgewachsener Körper knapp dreimal so schwer wie der eines Terrestriers und in gesundem Zustand verhältnismäßig muskulös ist, da die Schwerkraft auf Wemar an der Oberfläche eins Komma drei acht Ge beträgt.“ Falls überhaupt, dachte Gurronsevas, als Murchison die übrigen Fotos und Filmaufnahmen von Wemarern über den Schirm laufen ließ, dann ähnelten die DHCGs einem seltenen terrestrischen Tier namens Känguruh, von dem er einmal ein Bild gesehen hatte. Die Unterschiede bestanden darin, daß der Kopf der Wemarer größer war und ein Maul mit wirklich furchterregenden Zähnen besaß; die kurzen Vorderglieder endeten in sechsfingrigen Händen, deren Daumen den Fingern gegenübergestellt werden konnten, und der Schwanz war größer und schwerer und verjüngte sich zu einer breiten, flachen, dreieckigen Spitze, die aus einer starren knöchernen Substanz bestand, die wiederum von einer dicken Muskelschicht umgeben war. Die Abflachung am Ende des Schwanzes erfüllte, wie Murchison erklärte, einen dreifachen Zweck: Sie diente als wichtigste natürliche Waffe, als Behelfsorgan zur schnellen Fortbewegung, wenn sich der DHCG auf der Jagd befand oder selbst gejagt wurde, und als Transportmittel für Kinder, die noch zu klein zum Laufen waren. Unter den Aufnahmen befand sich eine reizende Szene mit zwei Erwachsenen — Gurronsevas war sich immer noch nicht sicher, welcher Wemarer zu welchem Geschlecht gehörte—, die ihre Schwänze und zwei ihrer vergnügt quiekenden Nachkommen hinter sich herzogen, sowie eine weniger entzückende Sequenz, in der sie sich auf der Jagd befanden. Damit begannen sie, indem sie mit fest verschränkten Armen eine unbeholfene, fast lächerlich wirkende Stellung einnahmen: dabei berührte das Kinn den Boden, und die langen Beine waren weit gespreizt, damit sich der Schwanz zwischen ihnen scharf nach oben und unten krümmen und so den Gleichgewichtspunkt des Körpers bilden konnte. Wurde der Schwanz plötzlich zu voller Länge gestreckt, diente er als kräftiges drittes Bein, durch das die Wemarer imstande waren, sich fünf oder sechs Körperlängen nach vorne zu schnellen. Wenn der Jäger nicht direkt auf seiner Beute landete und das Tier mit den Füßen bewußtlos trat, bevor er es mit einem tiefen Biß in die Halswirbel und die darunterliegenden Nervenstränge lahmte, dann drehte er sich schnell auf einem Bein um die eigene Achse und erschlug das Opfer auf diese Weise mit der abgeflachten Schwanzspitze wie mit einer stumpfen organischen Axt. „Obwohl der Schwanz nach unten und nach vorne äußerst biegsam ist, kann er nicht über die Horizontale des Rückgrats gehoben werden“, fuhr Murchison fort. „Genaue Einzelheiten werden wir erst erfahren, wenn wir in der Lage sind, eine Untersuchung mit dem Innenscanner vorzunehmen, doch aus dem äußerlich sichtbaren Bau der Rücken- und Schwanzwirbel und der mit ihnen verbundenen Muskulatur können Sie erkennen, daß es unmöglich ist, den Schwanz ohne eine schwerwiegende Wirbelverschiebung nah an den Rücken zu biegen. Daher sind der Rücken und die oberen Flanken die einzigen Körperbereiche der Wemarer, die nicht gegen Angriffe durch natürliche Feinde geschützt sind, die zusätzlich allerdings noch über ein Überraschungsmoment verfugen müssen, wenn sie nicht selbst zum Opfer werden wollen.“ Nun folgte eine Szene, die einen Vierbeiner zeigte, der sich von einem überhängenden Ast auf einen Wemarer stürzte und dessen Fell so schwarz war, daß vom Körper außer den langen, scharfen Zähnen und den noch längeren Krallen nur wenige Einzelheiten zu erkennen waren. Das Tier schlug dem DHCG die Krallen tief in den von einem Mantel bedeckten Rücken und riß ihm an der Seite den Hals auf, während der Wemarer mit Hilfe seines Schwanzes wie wild umhersprang und versuchte, das Tier abzuschütteln, damit er seinen Speer einsetzen konnte. Entweder durch Zufall oder mit Absicht stieß der DHCG schließlich bei einem seiner fast senkrechten Sprünge gegen die Unterseite eines anderen überhängenden Asts und zerquetschte das Raubtier, wobei ihm selbst eine große Menge Blut und innere Organe durch den Mund herausgepreßt wurden. Danach stürzten beide zu Boden, wo sie, wie Murchison erklärte, wenige Minuten später starben. Bevor ihm von dem Anblick übel werden konnte, richtete Gurronsevas die Augen auf den nächsten Bildschirm. „Das Tier mit dem schwarzen Fell ist wahrscheinlich das gefährlichste Tier, auf das die DHCGs wegen seines Fleisches Jagd machen, und man kann sich auf jeden Fall darüber streiten, wer eigentlich wen frißt“, setzte Murchison ihre Ausführungen fort. „Doch genug von dieser blutigen Angelegenheit. Die habe ich Ihnen nur gezeigt, um Sie sowohl gegenüber den intelligenten als auch den nichtintelligenten Lebewesen auf Wemar bewußter und vorsichtiger zu machen und um einen wichtigen Punkt in der Anatomie der DHCG zu betonen. Die Bestätigung wird bis zu einem Innenscannen des Magens und Verdauungstrakts der Wemarer warten müssen, doch gestützt auf das, was wir von außen gesehen haben, können wir jetzt schon sagen.“ Für mehrere Minuten verfiel die Pathologin in eine dermaßen massive Fachsprache, daß Gurronsevas nur noch jedes zweite Wort verstand. Doch ihre Schlußzusammenfassung war, vielleicht mit Rücksicht auf den Tralthaner, klar verständlich und schlicht. „…folglich kann es keinen Zweifel daran geben, daß sich die DHCG-Lebensform als Allesfresser entwickelt hat und dies bis heute geblieben ist“, sagte Murchison. „Dafür, daß sie in ihrer Entwicklung jemals den für wiederkäuende Pflanzenfresser charakteristischen mehrteiligen Magen besessen hätte, gibt es keinerlei äußere Anzeichen, und ich möchte behaupten, ihr Verdauungssystem ist nicht spezialisiert und unserem nicht unähnlich — das heißt natürlich mit Ausnahme von Danalta. Rechnen Sie den Umstand hinzu, daß die ganz jungen Wemarer dabei beobachtet worden sind, wie sie eine Mischung aus pflanzlichen und tierischen Stoffen gegessen haben, wobei sich der Anteil des Verzehrs von Fleisch mit Erreichen der Pubertät erhöht. Bei einer vernunftbegabten Spezies bedeutet das, die Gewohnheit, Fleisch zu essen, ist eher eine Sache der persönlichen Entscheidung als eine physiologische Notwendigkeit. In der Vergangenheit der Wemarer hat es vielleicht einmal Umweltfaktoren oder soziale Umstände gegeben, durch die sie bei dieser Entscheidung beeinflußt worden sind, doch in der momentanen Situation ist sie, aus welchem Grund auch immer, falsch. Wenn wir die Wemarer nicht dazu bringen können, ihre derzeitigen Eßgewohnheiten zu ändern, werden sie ihre Beutetiere bis zur völligen Ausrottung jagen, während sie selbst verhungern, weil sie das Jagen nicht lassen können. Als Bauern wären sie vielleicht imstande, gerade so eben zu überleben.“ Murchison hielt inne, blickte alle Anwesenden der Reihe nach mit unbeweglicher und ernster Miene an und sagte dann grimmig: „Irgendwie müssen wir einen ganzen Planeten von Fleischessern davon überzeugen, Vegetarier zu werden.“ Auf ihre Worte folgte eine lange Stille. Weder die Pathologin noch Danalta rührten sich, doch Prilicla wurde von der starken emotionalen Ausstrahlung auf dem Unfalldeck regelrecht durchgeschüttelt, und über Naydrads silbriges ausdrucksfähiges Fell liefen plötzlich kleine Strudel und Wellen, als ob es ebenfalls von einem nicht spürbaren Wind aufgewühlt würde. Mit lauter Stimme fragte sie: „Ist das etwa der Grund, weshalb Gurronsevas mit an Bord ist?“ 19. Kapitel Die Rhabwar drang aus der Umlaufbahn in die Atmosphäre des Planeten ein und ging auf Unterschallgeschwindigkeit, um eine Gegend in der nördlichen gemäßigten Zone anzufliegen, in der sich laut Williamson eine Siedlung von Wemarern befand, die vielleicht nicht so stolz und feindselig wie die anderen waren. Gurronsevas erhielt die Gelegenheit, aus dem Fenster ein großes Stück der Wemarer Landschaft zu betrachten. Dies geschah allerdings nicht, weil Captain Fletcher der Auffassung war, man würde an einem langsamen Tiefflug über die Oberfläche eines Planeten, den man noch nicht kannte, Spaß haben, sondern weil es als schlechte Angewohnheit betrachtet wurde, über einem Gebiet, in dem man auf die Einheimischen einen guten Eindruck zu machen hoffte, einen Überschallknall zu verursachen. Die kleinen Narben und Kratzer des Planeten, die durch die große Entfernung des Orbits und die Wolkendecke darunter verschleiert und verharmlost worden waren, erwiesen sich aus der momentanen Flughöhe der Rhabwar von tausendfünfhundert Metern als schwere Wunden. Unter dem Ambulanzschiff entfalteten sich eine niedrige, bewaldete Gebirgskette, deren scharfkantige Hänge und Gipfel durch von Gelb und Braun durchsetztem Grünbewuchs weiche Umrisse erhielten, und weiße, grün und braun gesprenkelte Graslandebenen. Auf einem anderen Planeten wären solche Farbvariationen auf jahreszeitliche Veränderungen zurückzuführen gewesen, doch wie auch Gurronsevas mittlerweile wußte, besaß der Planet Wemar keine Achsenneigung. Einmal überflogen sie ein schmales, langgestrecktes, schwarz verfärbtes Gebiet, dessen Verlauf der vorherrschenden Windrichtung entsprach. Hier war einst durch einen Blitzeinschlag oder einen leichtsinnigen Einheimischen ein Brand entstanden, der in der fast völlig verdorrten Vegetation schnell verheerende Ausmaße angenommen hatte. Oft sahen sie dicht unter sich die Ruinen der Wemarer Städte, die sich wie große, graue, ausgetrocknete Wunden in die Luft erhoben. Die Straßen und Gebäude waren von widerlich gelbem Unkraut überwuchert, vernachlässigt, verfallen und nur noch von Geistern bewohnt. Gurronsevas war direkt froh, als den grausigen Ausgeburten seiner Phantasie von der Stimme des Captains ein Ende bereitet wurde. „Hier Kontrollraum. Wir werden die Siedlung der Wemarer in schätzungsweise fünfzehn Minuten erreichen, Doktor.“ „Danke, mein Freund“, antwortete Prilicla. „Bitte behalten Sie die momentane Flughöhe bei und kreisen Sie über der Gegend, damit sich die Wemarer an den Anblick des Schiffs gewöhnen können. Unterdessen werfen Sie einen Zwei-Wege-Kommunikator mit integriertem Translator in der Nähe der Geräte ab, die die Wemarer zerstört haben. Ich hoffe nur, die DHCGs halten uns nicht für dumm und verschwenderisch, sondern eher für versöhnlich und hartnäckig. Landen Sie, solange wir noch volles Tageslicht haben, und zwar so nahe bei der Siedlung, wie es ohne Belästigung der Wemarer möglich ist.“ „Wie sieht es mit Schutzvorkehrungen aus, Doktor?“ „Fahren Sie den Meteoritenschild auf den geringsten Abstand aus“, antwortete Prilicla. „Schalten Sie ihn nur auf Abstoßung, nicht auf Energiestöße, und machen Sie die äußere Umgrenzung sichtbar, damit niemand aus Versehen dagegen läuft. Die erforderlichen individuellen Sicherheitsmaßnahmen werden wir besprechen, kurz bevor wir von Bord gehen.“ Die Siedlung der Wemarer bestand aus einigen hölzernen Nebengebäuden und einer in eine Felswand geschlagenen Mine von unbekannter Tiefe und befand sich am oberen Rand eines tiefen Tales, das von Norden nach Süden verlief. Die Wände des Tals waren so steil, daß die Sonnenstrahlen jeden Tag nur wenige Stunden lang hereinfielen, und die Pflanzen, die auf den unteren Abhängen und im Tiefland wuchsen, sahen genauso „gesund“ aus wie diejenigen, die man am Äquator entdeckt hatte. Mehrere kleine Flächen, die eher den Eindruck von Gärten als von Feldern machten, wurden bebaut. Auf der Höhe der oberen Talsohle befand sich ein großer Eingang zur Mine, und in der Felswand waren drei weitere kleine zu sehen, doch ohne Kenntnisse über das Ausmaß des verborgenen Stollennetzes und der Kammern war es unmöglich, die Anzahl der Bewohner zu schätzen. Da sich die Rhabwar ohnehin nicht geräuschlos nähern konnte, kündigte sie ihre Anwesenheit zusätzlich an, indem sie — obwohl die Spitzen der Berghänge über dem Tal noch im Sonnenschein lagen — die gesamte Außenbeleuchtung einschaltete, so daß der ganze Rumpf und die breiten Deltaflügel den Mineneingang wie eine gleißend weiße, dreieckige Sonne erhellten. Bis jetzt sagten die vielen Symbole, die die Flügel schmückten — das rote Kreuz der Erde, die orangefarbene Sonne der Illensaner, das gelbe Blatt von Traltha und die vielfältigen anderen Zeichen, die den Grundgedanken der überall in der Föderation uneingeschränkt gewährten Hilfe repräsentierten—, den Wemarern noch nichts, doch dieser Zustand änderte sich hoffentlich bald. Die vielen beruhigenden Worte, die man den Wemarern vor dem Eintreffen der Rhabwar mit großer Lautstärke über den abgeworfenen Zwei-Wege-Kommunikator gesagt hatte, zeigten, wie Gurronsevas befürchtet hatte, keine unmittelbare Wirkung. „Seien Sie nicht enttäuscht, mein Freund“, tröstete ihn Prilicla. „Bei vielen DHCGs spüre ich Neugier und bei einigen wenigen Vorsicht, doch die emotionale Ausstrahlung ist nur schwach und kaum zu.“ „Hier Kontrollraum“, unterbrach ihn Captain Fletcher. „Sie haben recht, Doktor. Unsere Sensoren zeigen eine große Gruppe von Wemarern an, die sich in der Öfllhüng des Eingangsstollens befindet. Zwar stehen diese Aliens zu dicht zusammengedrängt, um ihre Größe oder Anzahl genau zu bestimmen, doch wir glauben, daß es sich um mindestens hundert handelt. Da es keine Hinweise auf Metall gibt, führen sie mit Sicherheit keine Werkzeuge, Arbeitsgeräte oder Waffen mit sich. Drei Wemarer, bei denen es sich um die vorsichtigeren Wesen handeln muß, von denen Sie gesprochen haben, haben sich direkt in der Stollenöffinung postiert und scheinen die anderen zurückzuhalten. Haben Sie irgendwelche Befehle?“ „Nein, keine, mein Freund“, antwortete der Empath. „Im Moment können Sie sich uns einfach beim Abwarten und Zuhören anschließen.“ Man stand, saß oder schwebte vor dem Sichtfenster, durch das man auf den Eingang der Mine blicken konnte, der für das bloße Auge leer erschien, und lauschte der zuvor aufgenommenen Botschaft, die für die Wemarer abgespielt wurde. Sie war einfach und wurde langsam und deutlich gesprochen, damit ihre Verständlichkeit nicht unter den von der Felswand zurückgeworfenen Echos litt. Außerdem war sie unsagbar langweilig, wie Gurronsevas nach der ersten endlosen halben Stunde Zuhören dachte. „Wir sind Freunde und werden Ihnen nichts tun“, plärrte die Kommunikator-Translator-Kombination. „Unser Schiff mag Ihnen fremdartig und vielleicht erschreckend vorkommen, aber unsere Absichten sind friedlich. Wir sind hier, um Ihnen und insbesondere Ihren Kindern zu helfen, falls wir dazu imstande sind und Sie es uns gestatten. Wir sind nicht wie die anderen, die vorher zu Ihnen gesprochen haben. Unser Schiff ist klein und enthält gerade genug Proviant für die Besatzung und einen kleinen Reservevorrat, darum werden wir es nicht wagen, Ihnen zu nahe zu treten, indem wir Ihnen etwas zu essen anbieten, sofern Sie es uns nicht erlauben. Ob wir Ihnen helfen können, wissen wir nicht. Aber wir würden uns gern mit Ihnen unterhalten und etwas über Sie erfahren, um herauszufinden, ob wir Ihnen helfen können oder nicht. Wir sind Freunde und werden Ihnen nichts tun…“ „Doktor, während wir hier warten, hätte ich mal eine Frage“, sagte Gurronsevas plötzlich, weil er versuchen wollte, sowohl die Langeweile zu zerstreuen, als auch die starke Neugier zu stillen, die er empfand, seit die erste Bemerkung zu seiner Aufgabe an Bord gefallen war. „Vor einiger Zeit hatten Sie angedeutet, daß ich dem medizinischen Team als eine Art Berater in Ernährungsfragen zugeteilt worden sei. Wenn das zutrifft, ist das jedenfalls ohne mein Wissen oder meine Zustimmung geschehen. Doch falls ich nicht bloß ein blinder Passagier bin, der vor der Hospitalleitung versteckt wird, und Ihre damalige Äußerung gegenüber dem Captain keine Lüge gewesen ist, um diesen Umstand zu vertuschen, könnten Sie mir dann bitte mal verraten, wieso mich O’Mara hierhergeschickt hat?“ Einen Augenblick lang entgegnete Prilicla nichts. Sein zerbrechlich wirkender Körper und die Gliedmaßen zitterten, doch Gurronsevas glaubte nicht, daß seine eigene Neugier und die Verärgerung stark oder unangenehm genug waren, um diese Wirkung hervorzurufen. Vielleicht stammte die emotionale Ausstrahlung von jemand anderem, oder der Empath schickte sich an, eine Lüge aufzutischen, wie es hin und wieder vorkam, wenn er einer emotionalen Unannehmlichkeit aus dem Weg gehen wollte. „Freund O’Mara strahlt viele komplexe Emotionen aus“, antwortete Prilicla schließlich. „Jedes Mal, wenn er Sie erwähnt hat, habe ich bei ihm Anerkennung, gepaart mit Verärgerung, wahrgenommen sowie das strikte Verlangen, Ihnen zu helfen. Da ich aber kein Telepath bin, konnte ich zwar die Empfindungen, nicht aber die Gedanken des Chefpsychologen verstehen. Falls Freund O’Mara beabsichtigt hat, Sie dem medizinischen Team zuzuteilen.“ „…muß er wirklich zutiefst verzweifelt gewesen sein“, warf plötzlich Naydrad ein, deren Fell sich aufgeregt kräuselte. „Sehen Sie nur, die kommen raus!“ Die Wemarer strömten aus dem Mineneingang, als ob jemand einen Wasserhahn aufgedreht hätte. Rennend, sich mit dem Schwanz voranschnellend und geräuschvolle unübersetzbare Laute ausstoßend, stürmten sie auf die Rhabwar zu. Bis auf die drei Erwachsenen, die auf der einen Seite der Stollenöffinung standen und vermutlich für das Zurückhalten der anderen verantwortlich gewesen waren, handelte es sich ausschließlich um junge Wemarer. Einige von ihnen waren so klein und unbeholfen, daß sie oft zur Seite fielen, wenn sie mit ihren Schwänzen zu springen versuchten. Doch durch diese Stürze wurden sie beim Vorwärtsstürmen kaum aufgehalten, und schon bald hatten sie ihre Freunde eingeholt, die ständig dicht um den Meteoritenschild herumliefen und — sprangen und dabei aus Leibeskräften schrien. Murchison lachte plötzlich. „Ich habe das Gefühl, daß die eigentlich mit Pfeil und Bogen auf uns losgehen müßten“, merkte sie eher beiläufig an. „Meinem Eindruck nach sind die alle nur neugierig und aufgeregt und veranstalten — wie alle Kinder in diesem Gefühlszustand — eine Menge Lärm“, widersprach Prilicla. „Eine Gefahr stellen sie jedenfalls nicht dar.“ „Tut mir leid“, entschuldigte sich Murchison. „Das ist eine nicht ernsthaft gemeinte Anspielung auf ein Stück terrestrische Geschichte gewesen und nicht lustig genug, als daß sich eine Erklärung lohnen würde. Aber auch die Erwachsenen kommen jetzt näher, zumindest zwei vonAihnen.“ Die drei DHCGs bewegten sich langsamer und vorsichtiger als die jungen Wemarer, und bis auf einen Holzstock, den der eine trug, hielten sie keine Waffen in den Händen. Zwei von ihnen näherten sich mit einer langsamen Folge von Sprüngen, die sie mit Hilfe des Schwanzes vollführten und die jeweils von kurzen Pausen unterbrochen waren. Der dritte bewegte sich noch langsamer voran, und zwar nur auf den Hinterbeinen, wobei er den Stock benutzte, um einen Teil des Körpergewichts abzustützen. Schließlich sprach Murchison die Gedanken aus, die Gurronsevas schon länger durch den Kopf gingen. „Die scheinen körperlich sehr schwach zu sein und legen bei den Bewegungen ihrer Gliedmaßen und des Schwanzes äußerste Vorsicht an den Tag“, stellte die Pathologin fest. „Aber meiner Ansicht nach könnte das eher an Altersgebrechlichkeit als an einer Krankheit liegen. Alle drei DHCGs sind weiblich und befinden sich in stark geschwächtem Zustand und. Die mit dem Stock geht jetzt auf den Kommunikator zu!“ „Ihre Ansicht ist ganz zutreffend, meine Freundin“, stimmte ihr Prilicla zu, „doch Ihre unausgesprochene Befürchtung, die vermutlich dem Umstand gilt, die DHCG könnte den Stock benutzen, um den Kommunikator zu zerstören, ist unbegründet. Ich nehme bei der alten Wemarerin weder Wut noch einen Zerstörungstrieb, sondern nur Neugier und leichte Verwirrung wahr.“ „Um das Gerät zu zerstören, braucht man schon mehr als einen Spazierstock“, warf die Stimme des Captains ein. „Stimmt, mein Freund“, pflichtete ihm Prilicla bei. „Doch sobald die Wemarerin das Gerät erreicht hat, stellen Sie die Übertragung ab, und schalten Sie auf Kommunikationsmodus in beide Richtungen um.“ „Wie lange mag es wohl hersein, seit einer Ihrer Gefühlseindrücke einmal unzutreffend gewesen ist, Prilicla?“ fragte Danalta, der sich zum ersten Mal zu Wort meldete. Rund ums Schiff wurden die vielen jungen Wemarer allmählich müde, aber keineswegs leiser. Mit dem Rennen und Springen hatten sie aufgehört, um sich in kleinen Gruppen rings um den Meteoritenschild zu sammeln. Sie drängten sich gegen die elastische, fast unsichtbare Barriere oder lehnten sich im Fünfundvierzig-Grad-Winkel dagegen und riefen sich, wenn sie nicht umfielen, aufgeregt etwas zu. Einige der verwegeneren DHCGs rannten auf den Schild zu, sprangen dagegen und stießen aufgeregte, womöglich vergnügte Schreie aus, wenn sie zurückgeworfen wurden. Die beiden Erwachsenen hatten sich inzwischen zu ihnen gesellt und unterhielten sich leise, da aber gleichzeitig zu viele, wesentlich lauter geführte Gespräche stattfanden, konnte der Schiffstranslator ihre Unterhaltung nicht einzeln erfassen. Die dritte Wemarerin war neben dem Kommunikator stehengeblieben, der die Übertragung sofort einstellte. „Zumindest die Stille ist willkommen“, sagte die Wemarerin, ohne einen Moment zu zögern. „Halten Sie uns alle für taub? Oder für geistig zurückgeblieben, weil Sie dieselbe Botschaft dauernd wiederholt haben? Wissen Sie denn nicht, daß es einen mehr erzürnt als beruhigt, wenn man ständig in ohrenbetäubender Lautstärke beruhigende Worte zugebrüllt bekommt? Von Wesen, die von den Sternen gekommen sein müssen, hätte ich mehr Intelligenz erwartet. Kann dieses doofe Gerät überhaupt hören, oder kann es nur schreien? Was wollen Sie eigentlich von uns?“ „Die Lautstärke ist um zwei Drittel reduziert“, meldete der Captain leise. „Sie können sprechen, Doktor.“ „Danke“, flüsterte Prilicla und flog näher an den Kommunikator heran. Dann betätigte er den Sendeknopf und sagte: „Tut uns leid, daß das Gerät zu laut gewesen ist und wir Sie verärgert haben. Wir hatten nicht vor, Ihnen zu nahe zu treten und Ihnen mangelnde Hörfähigkeit oder gar fehlende Intelligenz zu unterstellen. Es war einfach so, daß wir gerne in einem großen Umkreis gehört werden wollten. Wir möchten uns mit Ihnen und Ihren Freundinnen unterhalten, etwas über Sie erfahren und Ihnen in jeder möglichen Form helfen“, fuhr Prilicla fort. „Sie sind für uns genauso fremdartig, wie wir für Sie sein werden, wenn Sie uns zum ersten Mal zu Gesicht bekommen. Wir sind jederzeit bereit, Fragen über uns zu beantworten, und würden Ihnen gerne welche über Sie stellen. Vorausgesetzt, es gibt keine persönlichen oder kulturellen Gründe, uns keine Auskünfte zu erteilen, und gesetzt den Fall, Sie sind gewillt, einem Fremden zu antworten, möchte ich Sie zuerst nach Ihrem Namen fragen. Ich heiße Prilicla und bin Arzt.“ „Was für ein alberner Name!“ rief die Wemarerin belustigt. „Das klingt ja wie eine Handvoll aneinanderknirschender Kiesel. Ich bin Tawsar, die oberste Lehrerin. Das Retten und Verarzten überlasse ich anderen. Wie lautet Ihre zweite Frage?“ „Ist es für die jungen Wemarer dort, wo sie jetzt sind, so weit von der schützenden Mine entfernt, auch sicher?“ erkundigte sich Prilicla. „Von uns haben sie nichts zu befürchten, aber sind sie nicht jetzt, wo es bald dunkel wird, von nachts umherstreifenden Raubtieren bedroht?“ Gurronsevas’ erster Gedanke war, daß es wirklich wichtigere Dinge gab, nach denen sich Prilicla hätte erkundigen können; doch nach genauerem Überlegen sah er ein, daß der Empath durch die frühzeitig geäußerte Sorge um die Sicherheit der kleinen Wemarer eine Rücksicht und Freundlichkeit an den Tag gelegt hatte, die seinen beruhigenden Worten mehr Nachdruck verliehen als alles, was er sonst hätte sagen können. „Bei uns ist es üblich, die Kinder jeden Tag für ein paar Stunden aus der Mine hinauslaufen zu lassen, wenn die Sonne nicht die junge Haut versengt oder bei den Kleinen Veränderungen bewirkt, unter denen sie womöglich eines Tages zu leiden haben“, antwortete Tawsar. „Außerdem wird auf diese Weise die Energie freigesetzt, die sie sonst in der Klasse laut und aufsässig machen und die sie selbst und ihre Lehrerinnen vom Schlaf abhalten würde. In der Mine können sie nämlich nicht frei herumlaufen oder mit Hilfe der Schwänze umherspringen, was für die ganz Kleinen ein völlig unnatürlicher Zustand ist. Doch von Raubtieren droht ihnen keine Gefahr, weil alle derartigen Lebewesen — ob es sich nun um große und gefährliche Bestien oder um kleine Nagetiere handelt — in dieser Gegend schon seit langem durch die Jagd ausgerottet sind. Ihr Schiff hat den Kindern sowohl eine ganz neue Erfahrung als auch ein Ventil für die überschüssige Energie verschafft. Wie lange wird Ihr Schiff hier liegen bleiben?“ Eine Schule war der ideale Ort, um neugierige und gedanklich flexible Köpfe zu finden, dachte Gurronsevas, und er konnte sich die wachsende Aufregung im medizinischen Team lebhaft vorstellen. „Solange Sie es uns erlauben“, entgegnete Prilicla rasch. „Aber wir würden Sie und Ihre Freundinnen und Freunde lieber persönlich kennenlernen, anstatt uns durch dieses Gerät mit Ihnen zu unterhalten. Wäre das möglich?“ Tawsar schwieg lange Zeit und antwortete dann: „Eigentlich sollten wir unsere Zeit nicht durch Gespräche mit Ihnen vergeuden. Man wird unser Verhalten öffentlich kritisieren. Na, egal, wir sind eben neugierig und zu alt, um uns was daraus zu machen. Aber Sie müssen verschwinden, bevor unsere Jäger zurückkommen. Das müssen Sie mir versprechen.“ „Versprochen“, sagte Prilicla einfach, und bei den Mitgliedern des medizinischen Teams gab es keine Zweifel, daß der Empath dieses Versprechen auch einhalten würde. „Doch wenn wir uns Ihnen zeigen, könnte es ein Problem geben. Vom Körperlichen her unterscheiden wir uns sehr von den Wemarern. Die Kinder — und vielleicht auch Sie selbst — könnten unseren Anblick als grauenvoll und abstoßend empfinden.“ Tawsar stieß einen Laut aus, der nicht übersetzt wurde, und sagte dann: „Die Wesen vom anderen Raumschiff haben wir zwar nicht gesehen, aber sie haben uns ihr Aussehen beschrieben. Es handelt sich um fremdartige, aufrecht gehende Wesen ohne einen Schwanz zum Ausbalancieren, von denen einige ganz und gar von Fell bedeckt sind und andere nur auf dem Kopf. Doch diese Wesen wollten unsere Lebensgewohnheiten ändern, deshalb haben unsere Jäger die Sprechgeräte zerstört, bevor sie losgezogen sind. Was das Erschrecken unserer Kinder angeht, bezweifle ich, daß Sie denen grauenvoller vorkommen werden als die Kreaturen, die sich die Kleinen in ihrer Phantasie bereits für Ihr Schiff ausgemalt haben. Wenn ich es mir überlege, wäre es allerdings besser, sich jetzt noch nicht zu zeigen“, fuhr die DHCG fort, bevor Prilicla etwas antworten konnte. „Die Kleinen sind so schon aufgeregt genug, und wenn unser Nachwuchs Sie erst einmal zu Gesicht bekommt, hätten wir Schwierigkeiten, die Kinder in die Schlafräume zu verfrachten — von der Mühe, sie zum Einschlafen zu bringen, ganz zu schweigen. Falls Sie eine längere Zeit bei uns bleiben wollen, wäre es günstiger für uns und sicherer für Sie, wenn wir Sie den Kindern während des Unterrichts vorstellen.“ „Sie haben mich nicht verstanden, Tawsar“, sagte Prilicla vorsichtig. „Bei den Wesen, die Ihnen ihr Aussehen beschrieben haben, hat es sich um Orligianer und Terrestrier gehandelt. Wir haben zwar auch fünf Terrestrier an Bord — das sind diejenigen mit dem Kopfbewuchs—, aber auch vier andere Lebensformen, die Ihnen noch fremdartiger erscheinen werden. Die eine ist ein Tralthaner, ein Wesen mit sechs Beinen und mindestens der dreifachen Körpergröße eines erwachsenen Wemarers. Bei der zweiten handelt es sich um eine Kelgianerin, die halb so groß und schwer wie ein Wemarer ist, über siebzehn Beinpaare verfügt und von einem silbernen, beweglichen Fell bedeckt ist. Außerdem haben wir noch einen Gestaltwandler dabei, der ein so furchtbares oder freundliches Erscheinungsbild annehmen kann, wie es die Umstände gerade erfordern. Und zu guter Letzt ist noch ein großes Fluginsekt an Bord, nämlich ich selbst. Falls Sie die Vorstellung, einem dieser Lebewesen zu begegnen, beunruhigt, dann wird der Betreffende auf dem Schiff bleiben und Ihnen nicht vor Augen kommen.“ „Ihr Gestaltwandler ist. ist.“, begann Tawsar und fuhr dann mit fester Stimme fort: „Er ist eine Gestalt aus einer Geschichte, die man hier Kindern erzählt, und zwar ganz kleinen Kindern. Erwachsene sind nicht einfältig genug, um an so was zu glauben.“ Der Empath, der ganz offensichtlich hoffte, Tawsars zukünftige Verlegenheit zu verringern, entgegnete darauf nichts. Und auf dem Boden unter dem schwebenden Prilicla nahm Danalta sich windend und krümmend die verkleinerte Gestalt einer alten Wemarerin an und sagte leise: „Kein Kommentar.“ 20. Kapitel Früh am folgenden Morgen, als erst die nach Osten blickenden Gipfel über dem Tal von der aufgehenden Sonne beschienen wurden und der Zugang zur Mine noch im Halbdunkel lag, erschien Tawsar hinter dem schimmernden Vorhang des Meteoritenschilds. Mehrere Gruppen aus zwanzig bis dreißig jungen Wemarern, die jeweils von einem Erwachsenen angeführt wurden, hatten bereits die Mine verlassen und verteilten sich auf die verschiedenen Arbeits- oder Lernstätten auf der Talsohle und den unteren Berghängen. An Bord der Rhabwar war man zu dem Schluß gekommen, daß die Funktion der Wemarer Siedlung irgendwo zwischen einem Lehrinstitut und einem sicheren Zufluchtsort für Kinder einzuordnen war, deren Eltern von der Jagd lebten und entweder für lange Zeit unterwegs oder tot waren. Diese Folgerung konnte nur vorläufig sein und dürfte nach der bevorstehenden Begegnung mit Tawsar zweifellos noch umfangreiche Korrekturen erfahren. Wenn Gurronsevas daran dachte, wie langsam und unter welchen offensichtlichen Schmerzen Tawsar zum Meteoritenschild gekommen war, überraschte es ihn keineswegs, daß Prilicla anordnete, den mit Schwerkraftneutralisatoren ausgerüsteten Krankentransporter nach draußen zu schaffen. Zwar ließ sich die Ausrüstung, die vom medizinischen Team mitgeführt wurde, leicht und gut genug tragen, um das Fahrzeug überflüssig zu machen, doch es war offensichtlich, daß der Empath Tawsar zu überreden hoffte, sich gemütlich fahren zu lassen, anstatt sich den selbstzugefügten Schmerzen beim Gehen auszusetzen — Qualen, die Prilicla nicht so gerne teilen wollte. Als erster verließ der Cinrussker die Schleuse und flog voran, während ihm Murchison, Naydrad, Danalta und Gurronsevas die ausfahrbare Rampe hinunter zum Boden folgten und durch den Meteoritenschild hindurchgingen, der sich vom Schiff entfernenden Körpern keinen Widerstand entgegensetzte. Gurronsevas war zwar nicht aufgefordert worden, das medizinische Team zu begleiten, aber verboten hatte es ihm auch niemand, und er mußte sich dringend ausgiebiger bewegen, als es in den beengten räumlichen Verhältnissen des Unfalldecks möglich war. Wortlos musterte Tawsar jeden einzelnen von ihnen, als sie näher kamen und sich in einem Halbkreis um die DHCG herum aufstellten, der nach Priliclas Deutung der emotionalen Ausstrahlung der Wemarerin groß genug war, daß diese sich nicht unwohl fühlte, und beruhigend auf sie wirkte, weil er Tawsar den Fluchtweg zur Mine hin offenließ. Prilicla hielt sich mit langsamen Schlägen seiner schillernden Flügel in einem ruhigen und gleichmäßigen Schwebeflug, Naydrads Fell kräuselte sich wie Wellen auf einem silbernen Meer, Murchison lächelte, und Gurronsevas stand einfach reglos da. Danalta verwandelte sich abwechselnd von einem Kelgianer ohne Fell in ein nicht besonders schmeichelhaftes Abbild der Pathologin Murchison, bevor er wieder die Gestalt eines unförmigen grünen Klumpens mit einem einzelnen Auge, einem Ohr und einem Mund im oberen Teil annahm. Schließlich brach Tawsar das Schweigen. „Ich sehe Sie mit eigenen Augen und kann es trotzdem nicht glauben, daß Sie tatsächlich existieren“, sagte sie, während sie Danalta betrachtete. Dann blickte sie nach oben auf Prilicla und fuhr fort: „Insekten mag ich zwar nicht, ob sie nun krabbeln oder fliegen, aber. aber Sie sind einfach wunderschön!“ „Oh, vielen Dank auch, meine Freundin“, entgegnete Prilicla mit einem leichten Wonneschauer. „Sie haben auf den ersten Anblick von Fremdweltlern gut reagiert, und ich spüre, daß Sie selbst keine Angst vor uns haben. Aber wie steht es mit den anderen Erwachsenen und den Kindern?“ Tawsar stieß einen kurzen, unübersetzbaren Laut aus und antwortete: „Die sind über Ihr fremdartiges und grauenvolles, beziehungsweise armseliges und albernes Aussehen aufgeklärt worden. Daß Ihre Freunde sich in unsere Gebräuche und Überzeugungen einmischen wollten und versucht haben, uns zu erzählen, was wir essen und was wir gegen das Licht, das alle Dinge verfaulen läßt, tun sollen, wissen die Kinder schon. Ihre Freunde haben sogar darum gebeten, einen Blick in unsere lebenden Körper werfen und Dinge tun zu dürfen, die einzig und allein einem Lebensgefährten erlaubt sind. Nein, Prilicla, Sie — vielleicht nicht Sie persönlich, aber auf jeden Fall die Wesen, die ungebeten auf unseren Planeten gekommen sind — erschrecken uns nicht. Diese Fremdweltler haben uns empört und abgestoßen und wütend gemacht. Mehr als alles andere auf der Welt wünschen wir uns, daß die von hier verschwinden, wenngleich wir durchaus wissen, daß Sie uns nicht absichtlich schaden wollen. Möchten Sie mich, nachdem ich Ihnen gesagt habe, wie wir darüber denken, trotzdem noch als „Freundin“ bezeichnen?“ erkundigte sie sich zum Schluß. „Ja“, antwortete Prilicla. „Doch müssen Sie mich nicht als Ihren Freund bezeichnen, solange es nicht Ihr eigener Wunsch ist.“ Tawsar gab ein schnaufendes Geräusch von sich. „Ich rechne nicht damit, noch so lange zu leben. Aber wir haben viel zu besichtigen und uns gegenseitig eine Menge zu fragen und zu antworten. Würden Sie lieber mit dem Tal anfangen oder mit der Mine?“ „Die Mine liegt näher, da brauchen Sie nicht so weit zu gehen“, schlug Prilicla vor. „Und wenn Sie in diesen Transporter steigen würden, brauchten Sie sich überhaupt nicht anzustrengen.“ „Der. der berührt ja gar nicht den Boden“, stellte Tawsar verunsichert fest. Ganz offensichtlich rang die Wemarerin mit sich, ob sie sich etwas vollkommen Neuem und möglicherweise Gefährlichem anvertrauen oder lieber die Schmerzen in den durchs Alter steif gewordenen Gliedern ertragen sollte. „Trotzdem macht er den Eindruck, stabil zu sein und sicher in der Luft zu schweben.“ Es dauerte einige Minuten, ehe sich Tawsar selbst überredet hatte, sich auf die mobile Krankentrage zu setzen, und dann winkelte Naydrad die Repulsionsaggregate an, um das Fahrzeug nach vorne in Richtung Mineneingang im Schrittempo des medizinischen Teams in Bewegung zu setzen. „Ich. ich fliege!“ rief Tawsar. Und zwar in einer Höhe von einigen Zentimetern, schätzte Gurronsevas in Gedanken. Über die Kopfhörer hielt Fletcher, der die weit verstreuten Gruppen junger Wemarer im Tal nicht aus den Augen ließ, die Mitglieder des medizinischen Teams ständig über seine Beobachtungen auf dem laufenden. Unter der Leitung eines einzelnen Erwachsenen pflügten mehrere Gruppen die Erde um und rupften Pflanzen aus den unteren Berghängen heraus, bei denen es sich anscheinend um wildwachsendes Unkraut handelte. Doch die Beschäftigung dreier Gruppen von größeren Kindern gab Anlaß zur Besorgnis, denn diese übten mit Schleudern, Armbrüsten und beschwerten Netzen, die sie in Verbindung mit Speeren einsetzten. Die Speere waren grob und primitiv aus Holz gefertigt, besaßen in der Mitte aufgerauhte Griffflächen, verfügten über stumpfe Spitzen, damit sie sowohl zum Werfen als auch zum Stoßen verwendet werden konnten, und fielen für die Hände und Muskeln der jungen DHCGs, die gerade mit ihnen hantierten, ein wenig zu groß aus. „Die jungen Wemarer spielen da nicht einfach mit Holzschwertern und — speeren, wie es viele andere Kinder tun, denn weder sie selbst noch die Lehrerin betreiben die Übungen wie ein Spiel“, betonte der Captain. „Dazu macht das Ganze einen viel zu ernsthaften Eindruck. Es handelt sich um die ältesten Kinder, und vielleicht haben die da draußen zwischen den landwirtschaftlichen Geräten echte Waffen mit Metallspitzen liegen. Und falls der Kontakt mit Tawsar schiefgeht, könnte man Ihnen den Rückzug zum Schiff abschneiden.“ Prilicla sagte nichts, bis er mit den übrigen nur noch wenige Minuten vom Mineneingang entfernt war, und als er schließlich das Schweigen beendete, hatte Gurronsevas den Eindruck, daß seine Worte nicht nur darauf abzielten, den Captain zu beruhigen, sondern auch das medizinische Team. „In der emotionalen Ausstrahlung der Erwachsenen und Kinder, die sich gestern rings ums Schiff aufgehalten haben, hat keine Spur von Feindseligkeit gelegen, und schon gar nicht die verhohlene Feindseligkeit von Wesen, die vorgeben, Freunde zu sein. Obwohl es sich bei den DHCGs bestimmt nicht um unsere Freunde handelt, sind ihre Empfindungen uns gegenüber nicht feindselig genug, um in ihnen den Wunsch zu erwecken, gewalttätig zu werden. Tawsar bekämpft ihre Abneigung gegen uns oder versucht zumindest, sie zu ignorieren, doch sie verspürt viel mehr als nur bloße Neugier gegenüber Fremden. Genaueres kann ich nicht sagen, aber ich habe den Eindruck, daß sie irgend etwas von uns will, und bis wir herausgefunden haben, wobei es sich darum handelt, sind wir hier ziemlich sicher. Außerdem sind ja meine Freunde Danalta und Gurronsevas bei uns“, fuhr der Empath fort. „Unser Gestaltwandler kann viele Erscheinungsformen annehmen, die aufsässige Kinder von einem möglichen Angriff abhalten könnten, und der Chefdiätist besitzt eine fast undurchdringliche Haut und verfügt über die Körpermasse und die Muskelkraft, um dasselbe zu tun.“ „Doktor Prilicla“, sagte Fletcher, „soweit es das medizinische Team betrifft, haben wir es hier mit einem Erstkontakt zu tun. Einer von Ihnen könnte leicht etwas sagen oder tun, wodurch sich Tawsars Haltung Ihnen gegenüber mit einem Schlag ins Gegenteil verkehren könnte. Warum sprechen Sie mit den Wemarern nicht lieber im Freien, wo ich Sie im Auge behalten kann, um sie dort bei eventuell auftretenden Konflikten mit Traktorstrahlen herauszuholen? Daß Sie in die Mine gehen wollen, beunruhigt mich.“ In diesem Moment blieb die Gruppe vor der dunklen Öffnung des Eingangsstollens stehen, und der Transporter senkte sich langsam zu Boden. Auf einmal blickte Tawsar zu Prilicla auf und sagte: „Daß Sie in die Mine gehen wollen, beunruhigt mich.“ Danalta schüttelte sich und murmelte: „In einem tiefen Tal wie diesem sind Echos nicht selten.“ Prilicla überhörte die Anmerkung und fragte: „Wieso denn, meine Freundin?“ Die Wemarerin musterte der Reihe nach sämtliche Mitglieder des medizinischen Teams, bevor sie ihre Aufmerksamkeit wieder dem Empathen zuwandte. „Ich weiß nicht das Geringste über Sie — ich kenne weder ihre Lebensgewohnheiten noch Ihre Ansichten über seltsame Orte und Lebewesen, nicht einmal Ihre Eßgewohnheiten, einfach nichts. Plötzlich ist mir klargeworden, daß Sie unser Zuhause vielleicht nicht besichtigen sollten. Die Verbindungsgänge sind schmal und niedrig. Hell genug ist es nur an unseren Versammlungsplätzen, und das täglich auch nur für begrenzte Zeit. Selbst unter den Wemarern gibt es welche, denen geschlossene Räume oder der Gedanke an das ungeheure Gewicht des Felsgesteins zu schaffen machen, das über ihnen hängt. Insbesondere Sie sind ja ein Bewohner der Lüfte, der es gewohnt ist, frei umherzufliegen“, fuhr Tawsar fort. „Ich fürchte, Ihr zerbrechlich wirkender Körper und die Flügel mit der großen Spannweite sind nicht für das Herumkriechen im Innern eines Bergs geeignet.“ „Für Ihre Besorgnis bin ich Ihnen zwar dankbar, meine Freundin, doch sie ist überflüssig“, klärte Prilicla sie auf. „Wir alle sind es gewohnt, in einem Bauwerk zu arbeiten, das wie ein Berg aus Metall ist und von verschieden großen Stollen durchzogen, die die Räume miteinander verbinden. Diese Räume sind alle gut erhellt, und sollten Ihre für uns zu dunkel sein, haben wir immer noch unsere eigenen Beleuchtungsquellen dabei. Falls jemandem mulmig wird, steht es ihm frei, nach draußen zurückzukehren. Aber ich glaube nicht, daß sich ein derartiges Gefühl bei irgend jemandem von uns einstellen wird.“ Wie Gurronsevas wußte, reichte im Wahrnehmen und Deuten von Empfindungen niemand an Prilicla heran, dennoch war er sich seiner eigenen Gefühle nicht so sicher wie der Empath; er haßte nämlich dunkle und enge Räume. Doch nachdem man ihn als einen der Beschützer des Teams bezeichnet hatte, konnte er sich nicht mehr wie ein Feigling verhalten und sich weigern, die Mine zu betreten, bevor er überhaupt festgestellt hatte, wie es dort im Innern aussah. „Ich selbst schlafe beispielsweise in einem kokonähnlichen Raum ohne Licht“, fuhr Prilicla fort. „Die Flügel und die sehr langen Gliedmaßen kann ich so falten und verschränken, daß es mir möglich ist, zusammen mit Ihnen auf der Krankentrage zu fahren — falls Sie nichts dagegen haben. Wie eng sind die Stollen denn? Wird jeder von uns ungehindert hindurchkommen?“ „Ja“, antwortete Tawsar. Dann warf sie einen Blick auf Gurronsevas und fügte hinzu: „Wenn auch nur knapp.“ Angeführt von Danalta, schob Naydrad wenige Minuten später die Trage, auf der Tawsar und Prilicla hockten, in den Eingang hinein. Dahinter folgten Murchison und schließlich Gurronsevas, der aus der Sichtweise des besorgten Captains die Nachhut bildete, vom Standpunkt der Pathologin her jedoch eher eine bewegliche organische Thrombose darstellte. Doch der Pfropfen blieb nicht hängen, wie Gurronsevas mit Erleichterung feststellte, denn der Stollen war breiter und höher, als er erwartet hatte, und auch besser beleuchtet, so daß er nicht einmal den Sichtverstärker benutzen mußte. Vielleicht waren die Augen der Wemarer weniger lichtempfindlich als die der Tralthaner, oder Tawsar hatte sich schon im voraus für die Unzulänglichkeiten der Wemarer Technik entschuldigen wollen. Prilicla und die DHCG unterhielten sich leise, doch wegen des ständigen Trappelns von Naydrads vielen Füßen konnte Gurronsevas nichts verstehen, und die Gesprächspausen füllte der Captain, indem er sich über seine Sorgen ausließ oder Informationen verbreitete. „Den Tiefensensoren zufolge handelt es sich um eine erschöpfte und schon seit langem stillgelegte Kupfermine“, berichtete Fletcher gerade. „Nach dem Zustand der Stützkonstruktion der Stollen zu urteilen, könnte sie Jahrhunderte alt sein, allerdings weist sie Spuren einer kürzlichen Instandsetzung auf. Viele der tieferen Gänge sind durch Felsstürze versperrt, und selbst wenn die Wemarerin Ihnen nichts Böses will, können Sie sich nicht durch Reden aus einem eingestürzten Stollen befreien. Bitte überlegen Sie es sich noch mal, und bitten Sie Tawsar, das Gespräch im Freien zu führen.“ „Nein, mein Freund“, wehrte Prilicla auf der Frequenz des Schilfsfülnks ab. „Tawsar will sich mit uns in der Mine unterhalten. Sie ist sehr verlegen, und das deutet darauf hin, daß sie es vorzieht, ungestört mit uns zu sprechen. Die Beängstigung, die für einen drohenden Stollenemstürz charakteristisch wäre, ist bei ihr überhaupt nicht zu spüren.“ „Also schön, Doktor“, gab der Captain nach. „Haben Sie irgendwelche Atemprobleme? Nimmt jemand Gerüche wahr, die auf einen Austritt von brennbarem Gas hindeuten könnten?“ „Nein, mein Freund“, antwortete der Empath. „Die Luft hier ist kühl und frisch.“ „Das überrascht mich nicht“, sagte Fletcher. „Schließlich werden nur die oberen Stollen benutzt, und die Wemarer haben durch Bohrungen ein raffiniertes System aus natürlichen Lüftungsschächten angelegt, die keine Energie benötigen. Sie verfügen über einen kleinen Generator, der genügend Strom für die Beleuchtung erzeugt und durch einen unterirdischen Fluß angetrieben wird, der auf der anderen Seite am Fuß des Bergs wieder ans Tageslicht tritt. Zudem haben wir ein paar Stellen mit hohen Temperaturen registriert, bei denen es sich wahrscheinlich um Kochstellen oder Öfen handelt, sowie einige Stoffe, die als Nebenprodukte bei der Verbrennung entstehen — aber der Grad der Verschmutzung ist nicht lebensbedrohlich. Seien Sie trotzdem vorsichtig.“ „Danke, das werden wir“, versicherte ihm Prilicla und setzte das Gespräch mit Tawsar fort. Sie kamen an den Öffnungen vieler Nebenstollen und kleiner, unbeleuchteter Kammern vorbei, und an mehreren Stellen schrammte Gurronsevas mit dem Kopf und den Seiten an den Wänden oder der Decke des Stollens entlang. Doch die Luft, die sanft an ihm vorbeizog, war kühl und frisch und nur leicht von einem Geruch durchsetzt, den Murchison als eine Mischung aus Rauch von brennendem Holz und ganz geringen Anteilen desjenigen Dufts erkannte, den man allgemein mit der Essenszubereitung in Verbindung bringt. Einige Minuten später bewegte sich der Zug am Eingang zur Küche vorbei. „Freund Gurronsevas“, sagte Prilicla, wobei er den Stimmverstärker benutzte, damit er bis nach hinten zum Tralthaner zu hören war, „ich spüre Ihre große Neugier und glaube, der Grund dafür leuchtet mir ein, aber im Moment wäre es für das Team besser zusammenzubleiben.“ Als der Essensduft mit zunehmender Entfernung immer schwächer wurde, bediente sich Gurronsevas seines Geruchssinns, der durch lebenslange Erfahrungen in den Kochkünsten geschärft worden war, um zu versuchen, die einzelnen Bestandteile des Dufts herauszufiltern und zu bestimmen. Dieser Duft war vollkommen anders als alles, was er bisher gerochen hatte. Oder doch nicht? Von einem feinen Nebel aus Wasserdampf, der winzige Mengen von gelöstem Salz enthielt, wurde ihm das unverkennbare Aroma mehrerer verschiedener Gemüsesorten zugetragen, die zusammen gekocht oder gedünstet wurden. Eine dieser Gemüsesorten hatte einen herben, kräftigen Geruch, der ihn an den des gekochten Somrathgemüses oder an die terrestrische Kohlsorte erinnerte, die einige Kelgianer so gerne mochten, doch die übrigen Gerüche waren viel zu mild, um irgendwelche Vergleiche mit Pflanzenarten anderer Planeten zu riskieren. Zu diesen Gerüchen gehörte auch ein schwacher, scharfer Duft, der fast mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit von geschrotetem Mehl stammte, das in einem Ofen gebacken wurde. Doch das Überraschendste an dieser Wemarer Duftmischung waren die Gerüche, die darin fehlten. Voller Nachsicht hielt sich Gurronsevas vor Augen, daß es in der Föderation mehrere Spezies gab, die eine erstklassige Technik und eine Zivilisation mit großem Kunstverständnis entwickelt hatten, während ihre Kochkunst in der kulturellen Wüste auf der Strecke geblieben war. 21. Kapitel Wenige Minuten später mündete der Stollen in eine Kammer, deren an den Seiten angebrachte Beleuchtungskörper die Felswände und den schrägen, unebenen Boden einer gewaltigen Höhle sichtbar machten, jedoch nicht ausreichten, um die hohe und ungestützte Decke zu erhellen. Ganz offensichtlich hatten die Wemarer die Höhle nicht selbst in den Fels geschlagen, sondern sie sich als natürliche Erweiterung der Mine zunutze gemacht. Etwa zweihundert Meter voraus stand eine Mauer aus riesigen, unbehauenen Steinen, die mit Mörtel verbunden waren und die Höhlenöffnung verschlossen. In der Mauer befanden sich zehn große Fenster, von denen drei noch Scheiben besaßen, während die Bretter, mit denen die übrigen vernagelt waren, den Eindruck erweckten, auf Dauer angebracht worden zu sein. Durch die verglasten Fenster fiel dennoch genügend Tageslicht in die Höhle, um die künstliche Beleuchtung zu einem trüben gelben Glimmen verblassen zu lassen und die in Reihen aufgestellten bankähnlichen Tische zu erhellen, die durch breite Gänge in Gruppen zu jeweils zwanzig oder mehr geteilt wurden. Zunächst glaubte Gurronsevas, sich im gemeinschaftlichen Speiseraum zu befinden, doch dann mußte er sich zumindest teilweise korrigieren. Gegenüber jeder rechteckigen Tischgruppe stand nämlich ein Einrichtungsgegenstand, dessen hier an die Größe und Gestalt der Benutzer angepaßte Grundform praktisch jeder intelligenten Spezies in der Föderation vertraut war: es handelte sich um eine Tafel auf einem staffeleiähnlichen Gestell. An den Höhlenwänden standen Beistelltische. Auf einigen waren Teller und Eßgeräte aufgestapelt, auf anderen Bücher, die aussahen, als würden sie jeden Moment vor Altersschwäche auseinanderfallen. An in den Fels getriebenen Nägeln hingen in gesprungenen Glasrahmen zahlreiche große Wandkarten, die fast bis zur Unleserlichkeit ausgeblichen waren. Offensichtlich handelte es sich bei dieser Höhle also nicht nur um einen Speiseraum, sondern auch um ein Klassenzimmer. Obwohl die Teammitglieder all das mit eigenen Augen sahen, was ihre Kameras auf Fletchers Schirm übertrugen, schilderte ihnen der Captain laufend, was er erblickte, wahrscheinlich, weil die Bilder für eine Weiterübertragung zur Tremaar aufgezeichnet wurden. „Die Möbel und die Einrichtung sind alt“, berichtete Fletcher gerade. „Dort, wo ursprünglich Metallbeine befestigt waren, kann man noch die Rostflecken erkennen, und die Ersatzbeine aus Holz sehen ebenfalls nicht besonders neu aus. Auch die Wandstreben sind durch und durch verrostet. Zudem müssen die Wemarer zuwenig Glas haben, denn sonst hätten sie die Fenster nicht an den Stellen mit Brettern vernagelt, wo normalerweise Tageslicht für den Unterricht im Klassenzimmer vorhanden wäre. Die Mauer vor der Höhlenöffnung habe ich vorhin übersehen“, fuhr Fletcher fort, wobei sich ein entschuldigender Unterton in seine Stimme schlich, „weil sie mit verwitterten Steinen aus hiesigen Vorkommen hochgezogen worden ist, die wegen des zurückgesetzten Standorts der Mauer im Schatten eines Felsüberhangs nur schwer von den Höhlenwänden zu unterscheiden sind. Ich würde sagen, die Mauer dient eher dazu, die jüngeren Bewohner zu schützen als sie einzusperren, denn die Höhlenöffnung befindet sich in einer steilen Felswand einige hundert Meter über der Talsohle. Doch jetzt haben wir die Mauer deutlich im Blick. Sollte im Notfall ein eiliger Rückzug erforderlich werden, können Danalta und Gurronsevas leicht die vernagelten Fenster durchbrechen. Dann kann Doktor Prilicla aus der Höhle hinausfliegen, und für den Rest von Ihnen besteht eine Fluchtmöglichkeit durch Einsatz des.“ „Nicht des Krankentransporters!“ fiel ihm Naydrad ins Wort, deren Fell sich aufgeregt zu Stacheln bündelte. „Der stellt in erster Linie ein Bodenfahrzeug dar. In einer Höhe von mehr als fünfzehn Metern schaukelt er wie ein betrunkener Crrelyin!“ „…durch den Einsatz des Traktorstrahls“, fuhr Fletcher fort. „Die Rhabwar ist nah genug, um Sie alle mit dem Traktorstrahl zu erfassen und nacheinander auf dem Boden abzusetzen.“ „Captain, die Möglichkeit, daß ein lebensgefährlicher Notfall eintritt, ist sehr gering“, beruhigte ihn Prilicla. „Die emotionale Ausstrahlung von Tawsar und den anderen Wemarern in der Mine, denen wir noch nicht begegnet sind, ist keineswegs feindselig, und das sind schließlich diejenigen, die in dieser Einrichtung das Sagen haben. Unsere Freundin empfindet eine Mischung aus Scham, Verlegenheit und großer Neugier. Sie will etwas von uns, doch handelt es sich dabei wahrscheinlich nur um Auskünfte. Auf gar keinen Fall hat sie den Wunsch, uns zur Schnecke zu machen — wie es in Ihrer recht bildhaften, aber biologisch unsinnigen terrestrischen Redensart heißt. Bitte schalten Sie wieder auf den Translatormodus, sonst denkt Tawsar noch, wir sprechen über sie.“ — Prilicla und Tawsar unterhielten sich weiter, wobei die anderen Mitglieder des Teams hin und wieder etwas einwarfen, doch das Gespräch wurde zu medizinisch, um Gurronsevas Interesse wachzuhalten. Er ging zu den Fenstern hinüber, um einen Blick nach unten auf die Rhabwar zu werfen, die unter der Kuppel ihres Meteoritenschilds glitzerte, und um sich die Talsohle und die verstreuten Gruppen von jungen Wemarern anzusehen, die dort arbeiteten. Die am weitesten entfernte Gruppe hatte sich in einer Reihe aufgestellt und trat gerade den Rückweg zur Mine an. Von diesem Vorgang hatte die Rhabwar bisher nichts berichtet. Da der wachhabende Offizier nicht über Gurronsevas erhöhten Blickwinkel verfügte, dürfte er die Gruppe auch noch nicht gesehen haben. Der Tralthaner wandte ein Auge zurück, um nach hinten zu sehen, wo Prilicla und Murchison den Gebrauch des Handscanners aus dem Transporter an Naydrad und anderen, nicht aber an Danalta demonstrierten, der seine inneren Organe willkürlich bewegen konnte, die zudem für eine einfache erste Lektion in der Anatomie fremder Spezies viel zu verwirrend waren. Für jemandem in ihrem Alter und mit den unflexiblen Denkgewohnheiten, die normalerweise damit verbunden sind, erfaßte Tawsar den Gedanken, einen lebenden Körper von innen zu untersuchen, ohne ihn zu öffnen und ihm Schmerzen zuzufügen, erstaunlich schnell. Gebannt starrte sie auf die inneren Organe, die schlagenden Herzen, die Lungen in ihren verschiedenen Atmungszyklen und auf den komplizierten Knochenbau des cinrusskischen Chefarzts Prilicla, der terrestrischen Pathologin und der kelgianischen Oberschwester. Daß Tawsar neugierig wurde und einen Blick auf die Vorgänge in ihrem eigenen Innern werfen wollte, war unvermeidlich. Das verschaffte Prilicla die Gelegenheit, die er benötigte, um weitere persönliche medizinische Fragen zu stellen. „Wenn Sie sich die Hüfte und das Knie hier und hier genau ansehen, können Sie die Knorpelscheiben erkennen, die zwischen den einzelnen Gelenkteilen liegen und dort ein dünnes, reibungsminderndes Polster bilden sollen. In Ihrem Fall sind diese Zwischenflächen jedoch nicht mehr glatt und geschmeidig. Die Knochen sind spröde und uneben geworden, und durch die Bewegung der Gliedmaßen und die zusätzliche Last des Körpergewichts auf nicht mehr glatte Gelenkflächen sind die Knorpel eingerissen, haben sich entzündet und den Zustand allgemein verschlimmert, indem sie die Beweglichkeit eingeschränkt und praktisch jede körperliche Regung zur Qual gemacht haben.“ „Erzählen Sie mir mal etwas, das ich noch nicht weiß“, schlug Tawsar vor. „Das werde ich schon“, entgegnete Prilicla freundlich. „Doch vorher muß ich Ihnen noch etwas sagen, das Ihnen bereits bekannt ist: Ihre Verfassung ist auf den Alterungsvorgang zurückzuführen, dem alle Spezies unterworfen sind. Mit der Zeit werden sämtliche Lebewesen altern, die Sie hier um sich herum sehen, wobei es bei jedem unterschiedlich lange dauert, weil wir nicht dieselbe Lebenserwartung haben. Unsere körperlichen Fähigkeiten — manchmal auch die geistigen — werden abnehmen, bis wir zu guter Letzt sterben. Niemand von uns ist in der Lage, den natürlichen Alterungsprozeß umzukehren, doch bei richtiger Medikation und Behandlung können die Symptome vermindert oder ihr Auftreten hinausgezögert und die körperlichen Beschwerden somit beseitigt werden.“ Für einen Moment sagte Tawsar nichts, und Gurronsevas brauchte kein Empath zu sein, um die Zweifel der Wemarerin zu spüren. „Ihre Medikamente würden mich vergiften oder mir irgendeine gefährliche fremdweltlerische Krankheit aufhalsen. Mein Körper muß trotz seiner Gebrechlichkeit gesund und innerlich rein bleiben. Nein!“ „Meine Freundin, wir würden nicht einmal versuchen, Ihnen zu helfen, wenn für Sie dabei auch nur das geringste Risiko bestünde“, versicherte ihr Prilicla. „Weil Sie bislang keine Möglichkeit hatten, das zu erfahren, ist Ihnen nicht klar, daß es zwischen den Wemarern und den hier vertretenen Fremdweltlern viele Gemeinsamkeiten gibt. Wir atmen bis auf geringfügige Unterschiede in der Zusammensetzung dieselbe Luft und essen die gleichen Grundformen von Nahrungsmitteln.“ Die bleistiftdünnen Beine und die langsam schlagenden Flügel des Cinrusskers begannen zu zittern, doch nur für einen Augenblick. „Aus diesem Grund sind sich die Funktionsweise unserer Körper, der Atmungsvorgang, die Verdauung und Ausscheidung, die Fortpflanzung und das körperliche Wachstum sehr ähnlich. Doch es gibt einen wichtigen und entscheidenden Unterschied: Wir können uns nicht gegenseitig anstecken — weder wir uns bei Ihnen noch Sie sich bei uns. Das liegt daran, daß die Krankheitserreger, die Keime, die sich auf einem Planeten entwickelt haben, nicht die Macht haben, die Lebensformen von einem anderen zu befallen. Nach Jahrhunderten engen und ununterbrochenen Kontakts mit verschiedenen Spezies auf vielen unterschiedlichen Planeten hat sich das als Regel bestätigt, von der wir bis heute keine einzige Ausnahme gefunden haben.“ Prilicla schaltete erneut den Translator ab und sagte schnell: „Bei der Erwähnung von Essen ist eine starke emotionale Ausstrahlung zu spüren gewesen. Ich habe wieder dieselben Gefühle — Scham, Neugier und großen Hunger — wahrgenommen. Weshalb sollte sich eine Bewohnerin eines von Hunger geplagten Planeten schämen, hungrig zu sein?“ Indem er den Translator wieder anschaltete, fuhr er an Tawsar gewandt fort: „Wir können Ihnen zwar nicht versprechen, daß Sie jemals wieder wie eine junge Wemarerin laufen und hüpfen können, doch sollten wir imstande sein, Sie zu behandeln, werden sich Ihre Beschwerden spürbar verringern. Falls nicht, werden sich weder Veränderungen Ihres Zustands noch zusätzliche Schmerzen einstellen. Auch die Entnahme der Proben, die wir brauchen, um sicherzugehen, daß unsere Medikamente Ihnen nicht schaden, tut nicht weh.“ Wie Gurronsevas wußte, war das nicht bloß eine therapeutische Lüge, denn in diesem Fall spürte der Arzt alles, was seine Patientin fühlte. Nach dem schwachen Zittern zu urteilen, das an Priliclas Beinen zu beobachten war, merkte er außerdem, daß sich die Patientin zu einer schwierigen Entscheidung durchrang. „Ich muß geistesgestört sein“, sagte Tawsar plötzlich. „Also gut, ich bin einverstanden. Aber lassen Sie sich nicht zu lange Zeit, sonst überlege ich es mir vielleicht noch anders.“ Das medizinische Team versammelte sich rings um die Wemarerin, die noch immer auf der Trage saß. „Danke, meine Freundin, wir werden keine Zeit verlieren“, versicherte ihr Prilicla. „Der Scanner ist auf Registrierung geschaltet“, meldete Murchison, und danach wurde das Gespräch fast durchweg technisch. Gurronsevas wandte den äußerst langweiligen medizinischen Maßnahmen den Rücken zu und kehrte an die Fenster zurück. Die vier am weitesten entfernten Arbeits- oder Unterrichtsgruppen hatten sich auf dem Rückweg zur Mine zusammengeschlossen, in der vermutlich das Mittagessen auf sie wartete, und die weiter vorne beschäftigten Gruppen würden sich ihnen später anschließen, so daß mit einem gleichzeitigen Eintreffen aller zu rechnen war. Die Wemarer rannten und hüpften nicht vorwärts, sondern gingen im langsamen Schrittempo der Lehrerinnen, und Gurronsevas schätzte, daß sie in etwas weniger als einer Stunde ankommen müßten. Schon sehr bald dürften sie sich im Blickfeld der Rhabwar befinden. Er fragte sich, ob die mangelnde Eile auf die von den Lehrerinnen auferlegte Disziplin oder auf das Desinteresse an der wartenden Mahlzeit zurückzuführen war. Der Küchengeruch, der vom Eingangsstollen herüberzog, machte ihn immer neugieriger. Zu seinem Erstaunen mußte er feststellen, daß Prilicla gerade über ihn sprach. „Daß er sich von uns entfernt hat, stellt keine Respektlosigkeit dar“, erklärte der Empath. „Aufgrund seines Fachgebiets ist Gurronsevas neugieriger darauf, was Sie in Ihren Körper hineinstecken, als darauf, was wir aus ihm herausbekommen. Wann immer Sie die Zeit erübrigen können, wäre er wesentlich stärker daran interessiert, die Essensvorbereitungen der Wemarer zu untersuchen als.“ „Unsere Küche kann er sich gerne gleich ansehen“, unterbrach ihn Tawsar. „Der Chefkoch ist über den Besuch von Fremdweltlern längst unterrichtet und würde sich freuen, Sie kennenzulernen, Gurronsevas. Brauchen Sie jemanden, der Ihnen den Weg zeigt?“ „Nein danke“, antwortete Gurronsevas und fügte leise hinzu: „Ich kann ja immer der Nase nach gehen.“ „Sobald dieses seltsame Treiben hier vorbei ist, werde ich zu Ihnen in die Küche kommen“, entschied Tawsar mit einem Blick auf den Scanner. Gurronsevas ging bereits auf den Ausgangsstollen zu, als Prilicla von den Translatorkanälen auf die interne Funkfrequenz wechselte und sagte: „Freund Gurronsevas, ich habe Ihren Namen nur deshalb erwähnt, um Tawsar von der Untersuchung abzulenken. Doch dabei habe ich bei ihr eine Gefühlsreaktion gespürt, wie ich sie schon einmal vorher wahrgenommen habe. Empfindungen wie Hunger, Neugier und starke Scham oder Verlegenheit, aber viel intensiver. Seien Sie äußerst umsichtig und wachsam, denn ich habe das Gefühl, Sie könnten etwas entdecken, das für uns von größter Wichtigkeit ist. Bleiben Sie in ständigem Sprechkontakt, und sehen Sie sich bitte vor.“ „Ich werde vorsichtig sein, Doktor“, versprach ihm Gurronsevas, während er sich ungeduldig den zickzackartigen Weg zwischen den Tischen hindurch bahnte. Wer wußte besser als er, wie viele Unfälle sich in einer Küche ereignen konnten und wie man sie vermied? Prilicla nahm seine Bemühungen wieder auf, Tawsars Gedanken von Murchisons und Naydrads Tätigkeit abzulenken, deren Stimmen klar und deutlich im Kopfhörer des Tralthaners zu hören waren. „Um die besten Ergebnisse zu erzielen, sollten wir auch einen gesunden und aktiven jungen Wemarer untersuchen, im Idealfall einen, der kurz vorm Erwachsenenalter steht“, schlug der Empath gerade vor. „Das würden wir nur zum Vergleich machen, nicht, um ihn zu behandeln. Wäre das möglich?“ „Alles ist möglich“, antwortete Tawsar. „Kinder neigen dazu, Gefahren einzugehen, entweder als Mutprobe oder aus Neugier oder um zu zeigen, daß sie besser als andere Kinder sind. Vielleicht ist das auch der Grund, weshalb ich mich selbst dieser Prozedur unterziehe; wahrscheinlich bin ich nur zu dumm, um zu merken, daß meine zweite Kindheit schon längst begonnen hat.“ „Nein, nein, meine Freundin“, widersprach Prilicla in bestimmtem Ton. „In Ihrem alternden Körper steckt zwar ein junger und anpassungsfähiger Geist, aber der ist keineswegs dumm. Es gibt nicht viele Wesen, die wie Sie einer Gruppe von Aliens ohne Argwohn gegenübergetreten wären — Wesen, die Ihnen völlig fremdartig und äußerlich erschreckend erscheinen mußten — und uns bei unserer Untersuchung geholfen hätten. Das war und ist eine äußerst mutige Tat. Aber sind Sie wirklich nur neugierig auf uns gewesen, oder hat es noch andere Gründe gegeben, uns hierher einzuladen?“ Eine lange Pause trat ein, dann antwortete Tawsar: „Ich bilde diesbezüglich keine Ausnahme. Hier gibt es noch andere, die genauso mutig oder dumm sind wie ich. Die meisten von denen sind gewillt, Sie kennenzulernen und jeden möglichen Nutzen aus Ihnen zu ziehen, und ein paar andere — die meisten der abwesenden Jäger — wollen nichts von Ihnen wissen. Als oberste Lehrerin war ich verpflichtet, Sie in die Mine einzuladen. Daß ich bei Ihnen nur so wenig Überredungskünste aufwenden mußte, hat mich überrascht, folglich sind Sie vielleicht ebenfalls mutig oder dumm. Daß ich Ihnen das Versprechen gegeben habe, mich bei Ihnen zu bedanken, wenn Sie meine Schmerzen in den Gelenken lindern können, ist unfair gewesen, denn ich kann mich bei Ihnen gar nicht.“ „Meine Freundin“, unterbrach Prilicla die Wemarerin, „es gibt nichts, wofür Sie sich revanchieren müßten. Doch wenn es für Ihre Spezies wichtig ist, daß niemand dem anderen etwas schuldig bleibt, dann kann ich Sie beruhigen. Sie haben uns erlaubt, unsere medizinische Neugier gegenüber den Wemarern zu befriedigen, und Ihre Schuld damit doppelt und dreifach zurückgezahlt. Was Ihre steif gewordenen Gelenke betrifft, die Schmerzsymptome können leicht gemindert werden, auch wenn eine Behandlung, die Ihnen wieder eine uneingeschränkte Bewegung ermöglicht, vielleicht schwieriger sein dürfte, weil das Leiden in Ihrem Fall bereits weit fortgeschritten ist. Möglicherweise müßten wir die beschädigten Gelenke vollständig entfernen und Prothesen aus Metall oder gehärtetem Kunststoff einpassen.“ „Niemals!“ Das einzelne Wort klang derart zornig, daß es von einer starken emotionalen Ausstrahlung begleitet gewesen sein mußte, und Gurronsevas war heilfroh, Priliclas Reaktion nicht gesehen zu haben. Er war inzwischen weiter den Stollen entlanggegangen und nur noch wenige Schritte vom Kücheneingang entfernt, als der Empath die Sprache wiederfand. „Es gibt nichts, wovor Sie Angst haben müßten, meine Freundin“, sagte er. „Künstliche Gelenke werden ganz routinemäßig hergestellt, auf einigen Planeten täglich zu Tausenden, und in der Mehrzahl der Fälle ist der Ersatz leistungsfähiger als das Original. Schmerzen treten nicht auf. Während die Operation durchgeführt wird, ist der Patient bewußtlos und.“ „Nein“, lehnte Tawsar erneut ab, dieses Mal allerdings weniger heftig. „So etwas dürfen Sie mit mir nicht machen. Dadurch würde mein Körper zum Teil ungenießbar.“ Gurronsevas ging langsam in eine kleine Kammer, bei der es sich offenbar um einen Abstellraum neben der eigentlichen Küche handelte, die hinter einer doppelten, nur für Blicke, nicht aber für Gerüche undurchdringlichen Schwingtür lag. Er konnte lange Bänke sehen, auf denen Tabletts aufgestapelt waren, ordentlich in Fächer einsortierte Eßgeräte und Regale, in denen Kochtöpfe, unterschiedlich große Schüsseln und Tassen standen, von denen die meisten gesprungen waren oder die Henkel eingebüßt hatten. Als ihm allmählich die Bedeutung dessen dämmerte, was Tawsar gerade gesagt hatte, blieb er ruckartig stehen. Wie das medizinische Team und der das Gespräch verfolgende Fletcher auf der Rhabwar reagierten, konnte er sich nur ausmalen — sie mußten wie Gurronsevas selbst vor Entsetzen sprachlos sein. Es war die Pathologin, die ihre Stimme zuerst wiederfand. „W. w. wir, das heißt, alle intelligenten Spezies, die wir kennen, begraben oder verbrennen ihre Toten oder beseitigen sie auf andere Weise, aber niemand verwendet sie als Nahrungsmittel.“ „Es ist sehr dumm von Ihnen, eine wichtige natürliche Nahrungsquelle so zu vergeuden“, entgegnete Tawsar. „Auf Wemar können wir uns solch eine kriminelle Verschwendung nicht leisten. Wenn das Leben und die Taten unserer Toten dazu berechtigen, ehren wir sie und behalten sie in guter Erinnerung, doch selbst so hat die Vergangenheit von jemandem nur wenig Einfluß auf seinen Geschmack, vorausgesetzt, er bleibt gesund. Selbstverständlich würden wir niemanden essen, der an einer Krankheit gestorben ist oder schon zu lange tot ist oder dessen Körper schädliche Substanzen wie Metalloder Kunststoffgelenke enthalten hat. Wenn wir uns sicher sind, daß uns das Fleisch nicht schadet, essen wir alles. Wegen meines hohen Alters werde ich selbst wahrscheinlich zäh und sehnig, aber trotzdem nahrhaft sein. Die schmackhaftesten Stücke stammen von den jungen oder gerade herangereiften Erwachsenen, die durch einen Unfall oder auf der Jagd ums Leben gekommen sind.“ Plötzlich flog die doppelte Schwingtür zur Hauptküche auf und zeigte die Gestalt eines in Dampf gehüllten Wemarers sowie zwei weitere DHCGs, die in einiger Entfernung dahinter arbeiteten. Alle drei trugen locker umgebundene Schürzen aus einem Stoff, der schon zu oft gewaschen war, um noch die ursprüngliche Farbe aufzuweisen. Der Wemarer in der Schwingtür sprach Gurronsevas zuerst an. „Offensichtlich sind Sie einer der Fremdweltler“, sagte er höflich. „Ich heiße Remrath. Treten Sie bitte ein.“ Für einen Moment kam es Gurronsevas vor, als wären seine sechs massiven Beine an den Steinboden angewachsen, denn er erinnerte sich wieder daran, was Tawsar vorhin gesagt hatte. Der Chefkoch würde sich freuen, Sie kennenzulernen, Gurronsevas. 22. Kapitel „Ich habe Ihr Gespräch verfolgt, Doktor“, sagte Fletcher auf der Schiffsfreqüenz, „und mir gefällt gar nicht, was ich da hören muß. Gerade sind etwa siebzig junge Wemarer und vier Lehrerinnen in Sicht gekommen, die auf den Mineneingang zugehen. Bei der momentanen Marschgeschwindigkeit dürften die in frühestens vierzig Minuten dort ankommen. Die anderen Arbeitsgruppen haben die Werkzeuge beiseite gelegt und sind auf dem Weg, um sich der ersten Gruppe anzuschließen, wahrscheinlich um zu Mittag zu essen. Und nach dem, was ich gerade gehört habe, besteht das Mittagessen wahrscheinlich aus Ihnen und Ihrem Team. Ich rate Ihnen dringend, den Kontakt abzubrechen und sofort zum S chiff zurückzukehren.“ „Einen Moment, Captain“, sagte Prilicla. „Freundin Murchison, wie lange brauchen Sie, um die Untersuchung zu beenden?“ „Nicht mehr als fünfzehn Minuten“, antwortete die Pathologin. „Die Patientin ist sehr kooperativ, und ich habe keine Lust, gerade jetzt.“ „Und ich bin ganz Ihrer Meinung“, fiel ihr der Empath ins Wort. „Captain, wir werden die Untersuchung beenden, uns hier höflich verabschieden und dann Ihren Rat befolgen. Die Entdeckung, daß es sich bei den Wemarern um Kannibalen handelt, ist höchst beunruhigend. Aber machen Sie sich bitte keine Sorgen, ich kann weder bei Tawsar noch bei irgendeinem der anderen Wemarer, die sich innerhalb der Reichweite meiner emotionalen Fähigkeiten befinden, feindselige Gefühle entdecken. Im Grunde trifft sogar das Gegenteil zu, denn ich spüre, daß Tawsar anfängt, uns zu mögen.“ „Doktor“, sagte der Captain, „wenn ich großen Hunger habe, wie es bei diesen Wesen permanent der Fall ist, dann denke ich sehr gern an meine Mahlzeit. Doch ich hege ihr gegenüber keine feindseligen Gefühle.“ „Mein Freund“, begann Prilicla, „manchmal neigen Sie dazu, alles zu vereinfachen.“ Auch wenn Gurronsevas in der Lage war, gleichzeitig in vier verschiedene Richtungen zu blicken, mußte er in diesem Moment auf den Translatorkanal umschalten, weil er nur ein Gespräch zur Zeit führen konnte. Von den zurückkehrenden Arbeitsgruppen schien keine unmittelbare Gefahr auszugehen, und erst recht nicht von der alten Wemarerin, die in der Mine zurückgeblieben war, deshalb hatte auch Gurronsevas die Gelegenheit, seine eigene berufliche Neugier zu stillen, während Murchison ihre medizinische Untersuchung beendete. Außerdem hatte der Wemarer, der vor ihm stand, etwas zu ihm gesagt, als er dem Gespräch zwischen Prilicla und Fletcher zugehört hatte, und die allgemeine Höflichkeit verlangte, darauf etwas zu entgegnen. „Entschuldigung“, sagte Gurronsevas und deutete auf seinen Translator, um sich einer kleinen diplomatischen Lüge zu bedienen. „Dieses Gerät ist nicht auf Sie eingestellt gewesen. Ich habe zwar gehört, was Sie eben gesagt haben, aber leider nichts verstanden. Wären Sie so nett, es noch einmal zu wiederholen?“ „Es ist nicht besonders wichtig gewesen“, antwortete der Wemarer. „Ich hatte nur angemerkt, daß ich mir schon oft gewünscht habe, vier Hände zu besitzen. So was wäre an diesem Ort besonders nützlich. Ich bin hier der Arzt und Chefkoch.“ „Ich bekleide eine ähnliche Position in einer etwas größeren Einrichtung. Doch dort sind das Heilen und die Essenszubereitung in verschiedene Arbeitsbereiche aufgeteilt und werden von unterschiedlichen Mitarbeitern durchgeführt. Wie soll ich Sie ansprechen, als Doktor oder als.“ „Meinen vollständigen Titel auszusprechen ist umständlich und überflüssig“, unterbrach ihn der Wemarer. „Er wird nur bei den Feierlichkeiten zum Erreichen der Volljährigkeit und von Schülern verwendet, die sich schlecht benommen haben und vergeblich hoffen, der gerechten Strafe zu entgehen. Nennen Sie mich einfach Remrath.“ „Ich heiße Gurronsevas“, stellte sich der Tralthaner vor und fügte hinzu: „Ich bin nur Koch.“ Als innerhalb der galaktischen Föderation führender Vertreter der hochentwickelten Kunst, Gerichte für viele verschiedene Spezies zuzubereiten, kann ich gar nicht glauben, daß ich das gerade wirklich gesagt habe, dachte Gurronsevas. „Verglichen mit der hohen Eßkultur, die mein eigenes Volk in den guten alten Zeiten geschaffen haben soll, das heißt, in den Jahrhunderten, bevor sich die Sonne selbst gegen uns gewandt hat, ist meine Küche primitiv“, räumte Remrath in einem Ton ein, der gleichermaßen wütend und entschuldigend klang. „Ihnen muß sie wie eine Kochstelle von Wilden vorkommen. Doch wenn es Sie interessiert, können Sie sich gerne umsehen.“ Durch die Stimme von Fletcher, der ihn direkt auf der Schiffsfrequenz ansprach, wurde Gurronsevas an einer Entgegnung gehindert. „Chefdiätist Gurronsevas, Sie sind nicht in den Erstkontaktverfahren ausgebildet. Bisher haben Sie zwar noch nichts Falsches gesagt, aber hören Sie mir bitte aufmerksam zu. Reagieren Sie auf nichts, was Sie vielleicht zu sehen oder zu hören bekommen, mit Ablehnung, wie abstoßend es Ihnen auch erscheinen mag. Versuchen Sie, Interesse an der Ausstattung und den Arbeitsvorgängen zu zeigen, egal, wie primitiv Ihnen diese erscheinen, und loben Sie lieber, anstatt zu kritisieren. Bemühen Sie sich, liebenswürdig und diplomatisch zu sein.“ Gurronsevas entgegnete nichts. Die Pause zwischen Remraths Einladung und einer Antwort hatte sich bereits länger hingezogen, als es die Höflichkeit gestattete. „Ich bin äußerst interessiert und habe vor, Ihnen viele und vielleicht auch irritierende Fragen zu stellen“, sagte Gurronsevas wahrheitsgemäß. „Aber die betriebsamen Geräusche, die ich höre, und die komplexen Gerüche von Essen, das fast fertig zubereitet ist oder vielleicht schon darauf wartet, serviert zu werden, verleiten mich zu der Annahme, daß Sie mich bloß aus Höflichkeit hereingebeten haben. Aus langer persönlicher Erfahrung weiß ich, daß Besucher in einem solchen Moment in der Küche nicht willkommen sind.“ „Das stimmt allerdings“, gab Remrath zu, wobei er rückwärts durch die doppelte Schwingtür ging und den einen Flügel offenhielt, während er den Tralthaner mit der anderen Hand bat, ihm in die Küche zu folgen. Wie Gurronsevas feststellte, waren die Beine und der Schwanz des Kochs zu unbeweglich, um ihm ein Drehen in dem breiten Eingang zu ermöglichen. „Doch wie ich sehe, sind Sie in beengten Räumlichkeiten trotz Ihres gewaltigen Körpers wendiger als ich, und Sie dürften sich gut genug auskennen, um nicht im falschen Moment im Weg zu stehen“, fuhr Remrath fort. „Wie Sie bereits richtig vermutet haben, werden wir sehr bald das Hauptgericht des Tages auftragen. Vielleicht möchte ich ja, daß Sie uns unter Druck arbeiten sehen, wenn wir also sozusagen in Höchstform sind“ — er stieß einen kurzen unübersetzbaren Laut aus — „oder kläglich versagen.“ Kurz darauf befand sich Gurronsevas in einer Höhle, die eine Fortsetzung derjenigen war, die er gerade verlassen hatte. Ihm gegenüber befand sich eine hohe senkrechte Mauer aus kleinen, unregelmäßigen Bausteinen, die um vier Öfen herumgebaut war, in denen Holz oder ein ähnlicher ergiebiger organischer Brennstoff glühte. Hinter der Mauer mußte sich ein natürlicher Abzug befinden, denn in der Küche war kein Rauch, und der Dampf aus den Kochtöpfen, die man von den Öfen auf einen langen Tisch in der Mitte gestellt hatte, wurde ebenfalls in diese Richtung gesogen. Rechts vom Tisch, der vom Ofenbereich fast bis auf ein paar Meter an den Eingang heran verlief, waren die oberen zwei Drittel der Steinmauer von offenen Hängeschränken und Regalen bedeckt. Darin standen Kochutensilien, Teller und kleine Trinkgefäße, von denen die meisten auf keinen Fall von Wesen hergestellt waren, deren Handwerk die Töpferei war. Obwohl sie plump gefertigt und rissig waren, beziehungsweise keine Henkel mehr hatten, stellte Gurronsevas anerkennend fest, daß sie alle einen peinlich sauberen Eindruck machten. Unter den Regalen befand sich ein langer Trog, der auf einem schweren Gestell stand und mit einer Art Keramik eingefaßt war, die sich mit ständig fließendem Wasser gefüllt hatte. Darin waren einige Tassen und Teller zu sehen. Da das dicke Einlaßrohr, das am einen Ende saß, keinen Hahn aufwies, vermutete Gurronsevas, daß der Trog nicht mit Wasser aus einem Vorratstank, sondern aus einer natürlichen Quelle gespeist wurde. Am anderen Ende trieb eine Reihe von Schaufelrädern einen kleinen Generator an, der wahrscheinlich für die brennende Deckenbeleuchtung verantwortlich war. An der gegenüberliegenden Wand waren mit größeren Zwischenräumen weitere Regale und offene Hängeschränke angebracht, die noch gröber zusammengeschustert waren als die anderen Möbel. Sie enthielten etwas, bei dem es sich nach Gurronsevas Vermutung um für Wemarer genießbare Gemüsevorräte sowie Brennmaterial für die Öfen handelte. Beides war nicht im Überfluß vorhanden. Unterdessen folgte Gurronsevas Remrath auf dem Rundgang durch die Küche und konnte oft neben ihm gehen, weil die Gänge zwischen den tischartigen Arbeitsflächen sogar breit genug waren, um dem durchs Alter unbeweglich gewordenen Schwanz des Chefkochs ausreichend Platz zu bieten. Gurronsevas war damit zufrieden, den Wemarer Koch und Arzt allein reden zu lassen, zumal ihm der Zweck der Ausstattung, die wirklich nur aus dem Nötigsten bestand, bereits klar war und er keine Fragen zu stellen brauchte. Er schwieg sogar, als Remrath vor einem langen, niedrigen Schrank stehenblieb, der unter dem Trog mit fließendem Wasser neben den Schaufelrädern stand und von diesen begossen wurde. Rings um die vorderen Oberkanten des Schranks verlief ein dicker Wulst, der verhinderte, daß das Wasser in die beiden Türen lief, die offenstanden und einen leeren Innenraum zeigten. Eine einfache, aber wirksame Methode der Kühlung durch Verdunstung, dachte Gurronsevas. Nirgendwo sonst war in der Küche etwas zu entdecken, das einer Kühlanlage für Vorräte ähnelte, was ein Anzeichen für das Vorhandensein von frischem Fleisch gewesen wäre. Angesichts der Kenntnis, daß es sich bei den Wemarern um Kannibalen handelte, wußte Gurronsevas nicht, ob er sich deswegen erleichtert oder beunruhigt fühlen sollte. Der Rundgang durch die Küche endete mit der Rückkehr zu den Öfen, wo der Inhalt mehrerer Kochtöpfe leicht vor sich hin köchelte, während andere bereits auf den Beistelltischen standen und zum Warmhalten mit dicken Lappen zugedeckt waren. Plötzlich sagte Remrath: „Sie haben kaum etwas gesagt, Gurronsevas, und gar keine Fragen gestellt. Ist Ihnen der Anblick unserer primitiven Methoden der Essenszubereitung zuwider?“ „Ganz im Gegenteil, Remrath“, widersprach Gurronsevas mit fester Stimme. „Im wesentlichen sind sich die Küchen auf allen Planeten, die ich besucht habe, sehr ähnlich, doch es sind gerade die kleinen Unterschiede, die ich am interessantesten finde. Ich habe viele Fragen an Sie.“ Er griff nach einem großen Holzlöffel, der neben einem noch nicht zugedeckten Topf mit kochendem Essen lag. „Und die erste lautet: Darf ich das hier mal probieren? Bitte entschuldigen Sie mich für einen Moment. Meine Kollegen unterhalten sich gerade mit mir.“ Es hätte mehr der Wahrheit entsprochen zu sagen, daß sie sich nicht mit ihm, sondern über ihn unterhielten, dachte Gurronsevas verärgert. „…entweder aus Ignoranz oder Dummheit oder beidem!“ schimpfte Captain Fletcher gerade. „Doktor Prilicla, sprechen Sie mit ihm! Bringen Sie ihn zur Vernunft, verdammt noch mal! Man landet doch nicht auf einem seltsamen Planeten und fängt dann an, das dortige Fastfood zu probieren.“ „Freund Gurronsevas“, unterbrach ihn Prilicla. „Stimmt das? Stehen Sie im Begriff, Wemarer Nahrung zu sich zu nehmen?“ „Nein, Doktor“, antwortete Gurronsevas, wobei er den Translator abschaltete. „Ich wollte gerade die kleinstmögliche Portion eines Wemarer Gerichts probieren. Bei allem Respekt würde ich gern jeden daran erinnern, daß ich sowohl über einen gut ausgebildeten Gaumen als auch über einen hochentwickelten Geruchssinn verfüge und es mir sofort bewußt wäre, falls bei irgendeiner Speise die Wahrscheinlichkeit besteht, daß sie sich als schädlich erweist. Da ich nicht vorhabe, etwas herunterzuschlucken, besteht keine Gefahr, eventuelle Giftstoffe aufzunehmen. Außerdem hat das Gericht eine Konsistenz, die etwa zwischen einem dünnen Gemüseeintopf und einer dicken Suppe liegt, die mehr als vier Stunden in einem geschlossenen Behälter gekocht hat. Ich danke Ihnen für Ihre Besorgnis, Doktor, aber es liegt nicht in meiner Natur, unnötige Risiken einzugehen.“ Einen Moment lang herrschte Schweigen, dann sagte Prilicla: „Also gut, mein Freund. Doch falls Sie versehentlich etwas herunterschlucken, vor allem, wenn es eine ungewöhnliche oder unangenehme Wirkung hat, dann kehren Sie sofort zum Schiff zurück. Seien Sie äußerst vorsichtig!“ „Danke, Doktor, das werde ich ganz bestimmt sein“, versicherte er Prilicla. Er wollte gerade wieder mit Remrath sprechen, als der Cinrussker schnell fortfuhr: „Vielleicht sind Sie zu beschäftigt gewesen, um unser Gespräch mit Tawsar zu verfolgen oder das, was Sie gehört haben, voll und ganz zu verstehen. Die gegenwärtige Lage ist jedenfalls die, daß wir mit Tawsars bereitwilliger Mitarbeit sämtliche physiologischen Daten gewonnen haben, die wir im Moment benötigen. Auf der Rhabwar werden wir weitere Untersuchungen durchführen müssen, die uns bei der Entscheidung helfen sollen, was wir sonst noch brauchen. Die Informationen über die Gesellschaftsstruktur der Wemarer sind jedoch dürftig, und ich spüre bei Tawsar eine starke Abneigung, über dieses Thema zu sprechen, so daß die weitere Unterhaltung immer schwieriger wird. Jetzt scheint für uns der richtige Moment zu sein, den Kontakt vorläufig zu unterbrechen, ohne jemanden zu kränken“, setzte der Empath seine Ausführungen fort. „Das unmittelbar bevorstehende Eintreffen der Arbeitsgruppen zum Mittagessen gibt uns Gelegenheit zu behaupten, daß wir aus demselben Grund wie sie zum Schiff zurückkehren müssen — was ja, außer bei Danalta, auch der Wahrheit entspricht. Bitte bringen Sie das Probieren des Essens so schnell wie möglich hinter sich, entschuldigen Sie sich beim Küchenpersonal und sagen Sie, Sie müßten mit uns zurückkehren. Man wird davon ausgehen, daß Sie ebenfalls eine Mahlzeit zubereiten müssen. Schließen Sie sich uns an, wenn wir in ein paar Minuten an der Küche vorbeikommen.“ Die ganze Zeit hatte Gurronsevas den langen Löffel einige Zentimeter über den köchelnden Inhalt des Topfs gehalten. Da Remrath ihn ansah und seinen unübersetzten Worten an Prilicla lauschte, wußte der Tralthaner, daß sich der Chefkoch darüber ärgern mußte, von dem Gespräch ausgeschlossen zu sein. Hätte Gurronsevas sich an Remraths Stelle befunden, wäre er ganz bestimmt ungehalten gewesen, doch Prilicla redete unbeirrt weiter. „Auf diese Entfernung ist Ihre emotionale Ausstrahlung nur schwer zu deuten, zumal die Gefühle des Küchenpersonals noch hinzukommen. Haben Sie ein Problem, mein Freund?“ „Nein, Doktor“, antwortete Gurronsevas, „nicht wenn. Wie sicher sind Sie sich, daß uns die Wemarer nichts tun wollen?“ „Ich bin mir dessen so sicher, wie es ein Empath in bezug auf die Emotionen anderer Lebewesen sein kann“, antwortete Prilicla. „Beim Küchenpersonal spüre ich Neugier und Vorsicht, die unter diesen Umständen ganz normal ist, aber keine Feindseligkeit. Da ich kein Telepath bin, kann ich nicht sagen, was die Wemarer tatsächlich denken, und deshalb bleibt ein winziger Rest Zweifel. Wieso fragen Sie?“ Gurronsevas versuchte noch, die richtigen Worte für eine Antwort zu finden, als sich Prilicla erneut zu Wort meldete. „Ich frage nur, weil ich bei Ihnen eine große Neugier wahrnehme — in Anbetracht Ihrer momentanen Umgebung ist sie vermutlich beruflich bedingt—, und sie die Mine nicht verlassen möchten, bevor sie die befriedigt haben. Oder ist es so, daß Sie sich in einer Küche unter Köchen von anderen Spezies wohler fühlen als bei den Ärzten auf dem Unfalldeck des Ambulanzschiffs?“ „Sind Sie sich sicher, daß Sie kein Telepath sind?“ fragte Gurronsevas. „Tut mir leid, mein Freund“, entgegnete Prilicla, „ich wollte Sie nicht in Verlegenheit bringen, denn diese Empfindung wirkt sich auch auf mich aus. Sie können in der Küche bleiben, doch Doktor Danalta wird sich zum Schutz zu Ihnen gesellen. Zwar ist der Doktor nicht imstande, einem anderen Lebewesen Schmerzen zuzufügen, aber dafür kann er, wenn er angegriffen wird, einige wirklich grauenhafte Gestalten annehmen. Sollte Ihre Lage in der Küche gefährlich werden, dann schlagen Sie sich schleunigst zur Außenmauer mit den Fenstern durch und begeben Sie sich zum Rand der HöhlenöffiLung, von wo aus Sie Freund Fletcher mit einem Traktorstrahl in Sicherheit bringen wird. Glauben Sie, Sie könnten das Gespräch auf allgemeine Fragen zum sozialen und kulturellen Hintergrund der Wemarer — wenn möglich in Vergangenheit und Gegenwart — ausweiten, während Sie Ihre kulinarische Neugier befriedigen?“ fragte der Empath. „Werden Sie aber nicht zu deutlich und vermeiden Sie Themen, die Ihnen heikel erscheinen. Vielleicht haben Sie mit Remrath mehr Erfolg als wir mit Tawsar. Vergeuden Sie keine Zeit mit einer Antwort“, schloß Prilicla. „Ich spüre, daß Remraths Ungeduld sehr schnell zunimmt.“ „Entschuldigen Sie die Unterbrechung, Remrath“, sagte Gurronsevas, indem er Priliclas Rat befolgte. „Meine Freunde müssen alle bis auf einen namens Danalta zum Schiff zurückkehren, um zu essen, und die Zeit, in der Sie Ihre Mahlzeit einnehmen, scheint dafür der geeignete Zeitpunkt zu sein. Sie werden Danalta bestimmt interessant finden. Er ist eine Lebensform, die ihre Gestalt nach Belieben verändern kann. Außerdem kann er lange ohne Essen auskommen, sogar noch länger als ich. Er ist viel kleiner als ich und nicht Koch, sondern Arzt und würde sich mit Ihrer Erlaubnis gern die Arbeit in Ihrer Küche ansehen.“ Wie Gurronsevas vermutete, wußte Remrath ebenso gut wie er selbst, daß es einen anderen Grund für Danaltas Anwesenheit gab. Die Ansicht, daß man zu mehreren sicherer ist, wurde von jeder denkenden Spezies geteilt. „Solange Ihr Freund uns nicht behindert, ist er willkommen“, willigte Remrath ein und deutete dann mit einem knöchernen Finger auf den Löffel, den Gurronsevas immer noch über den Topf hielt. „Wollen Sie damit noch mal irgendwann etwas machen?“ Gurronsevas überhörte den Sarkasmus, tauchte den Löffel in die grünlich braune, brodelnde Masse, rührte kurz um, um die Konsistenz festzustellen, und hob dann einen Löffel voll an seine Atemöffnung, bis er die Temperatur für niedrig genug hielt, um sich keine Brandblasen am Mund zu holen. Anschließend berührte er mit der Masse die Geschmacksknospen auf der Innenseite seiner Oberlippe. „Und?“ fragte Remrath neugierig. Zwar glaubte Gurronsevas, drei verschiedene Gemüsearten herausschmecken zu können, doch sie waren derart gründlich gemischt und so verkocht, daß er die einzelnen Geschmacksrichtungen nicht voneinander trennen, geschweige denn, Nahrungsmitteln zuordnen konnte, die er bereits kannte. Gewürze, Soßen und natürliche oder künstliche Aromen waren nicht vorhanden und nicht einmal eine Spur von dem Salz, das in den Wemarer Meeren enthalten sein mußte. Offensichtlich hatte man zu früh damit begonnen, das Essen zuzubereiten, und es dann verkochen lassen, wodurch alle sich gegenseitig ergänzenden oder miteinander kontrastierenden Geschmacksnoten der ursprünglichen Zutaten zerstört worden waren. „Ein bißchen fade“, meinte Gurronsevas. Remrath stieß einen unübersetzbaren Laut aus und sagte: „Sie sind viel zu diplomatisch, Fremdweltler. Sie haben unser Hauptgericht, einen Fleisch- und Gemüse-Eintopf ohne das Fleisch probiert. Wenn es auf den Tisch kommt, wird der Eintopf kaum noch warm sein. „Fade“ ist für diesen unappetitlichen Matsch zwar eine höfliche Umschreibung, aber es ist kaum der Ausdruck, den wir oder unsere Schüler dafür benutzen würden.“ „Es fehlt noch etwas daran“, pflichtete ihm Gurronsevas bei. Absichtlich richtete er alle vier Augen auf den leeren Kühlschrank, den er vorhin bemerkt hatte, und fuhr fort: „Zweifellos würde Fleisch den Geschmack verbessern, doch Sie scheinen keins zu haben. Ist Fleisch ein Bestandteil der normalen Ernährung der Schüler?“ Über den Kopfhörer warnte ihn Prilicla: „Sie dringen in einen äußerst sensiblen Bereich vor, mein Freund. Nach der emotionalen Ausstrahlung zu urteilen, ist Remrath erregt und verärgert. Sie müssen jetzt mit aller Vorsicht auftreten.“ Das von einem Tralthaner mit seinem gewaltigen Körper zu verlangen, war geradezu lachhaft. Auch wenn Gurronsevas wußte, was der Empath meinte, befand er sich schließlich in der Küche, und der Wemarer mußte von ihm zweifellos Fragen zum Essen erwarten. „Nein“, antwortete Remrath in scharfem Ton. Als Gurronsevas gerade zu dem Schluß gekommen war, daß er den Chefkoch gekränkt haben mußte und Remrath nichts hinzufügen würde, strafte ihn dieser Lügen, denn er fuhr fort: „Nur Erwachsene sind dazu berechtigt, Fleisch zu essen, wenn und falls es vorhanden ist. Den jungen Wemarern ist das nicht gestattet, doch dieser Grundsatz wird gelockert, wenn sich — wie es hier bei uns der Fall ist — viele von ihnen dem Erwachsenenalter nähern. Die Schüler, die alt genug sind, bekommen hin und wieder geringe Mengen Fleisch, um den Gemüsegerichten mehr Geschmack zu verleihen, und zwar als Ankündigung und Vorbereitung auf die herannahende Reife und auf die Stellung, die sie als tapfere Jäger und Ernährer ihrer Familie erwarten können. Unsere Jäger werden bald zurückkehren“, schloß Remrath mit leiser Stimme, die trotz des Übersetzungsvorgangs, bei dem die Emotionen verlorengingen, zornig klang. „Doch in den letzten Jahren haben sie nur wenig Erfolg gehabt, und sie werden das erjagte Fleisch keinesfalls mit Kindern teilen, sondern alles für sich behalten.“ Hierauf war ganz eindeutig irgendeine mündliche Erwiderung nötig, dachte Gurronsevas besorgt, am besten eine verständnisvolle, ermutigende oder harmlose Äußerung, eine, die den Zorn des Chefkochs nicht noch verstärkte. Da er nicht wußte, was er sagen sollte, versuchte er auf Nummer Sicher zu gehen, indem er eine ungefährliche und augenfällige Feststellung der Tatsachen traf. „Sie sind erwachsen“, sagte er. Falls überhaupt, dann wurde Remrath nur noch wütender. Er schrie so laut, daß die beiden Köche am anderen Ende der Küche von ihrer Arbeit aufsahen: „Ich bin sogar sehr erwachsen, Fremdling! Zu erwachsen, um an einer Jagd teilzunehmen oder auch nur den kleinsten Anteil von der Beute abzubekommen. Zu erwachsen, als daß sich jemand meiner Jagden dankbar erinnern oder auf meine Gefühle Rücksicht nehmen würde. Hin und wieder wirft mir ein junger und gerade erwachsen gewordener Jäger aus Freundlichkeit oder Sentimentalität heraus ein oder zwei Brocken Fleisch hin, aber die verwenden wir, um den Mahlzeiten der älteren Kinder ein bißchen Geschmack zu verleihen. Ansonsten essen wir das, was hier alle essen: einen geschmacklosen, lauwarmen Gemüsebrei!“ In seinem Leben waren Gurronsevas schon viele Klagen übers Essen zu Ohren gekommen — obwohl nur selten, wenn er es selbst zubereitet hatte—, und er war bisher immer damit fertig geworden. Deshalb glaubte er, über dieses Thema sprechen zu können, ohne den Chefkoch zu kränken. Er holte tief Luft und sagte vorsichtig: „Ich habe viele verschiedene Lebensformen, intelligente Wesen wie Sie, kennengelernt oder zumindest von ihnen gehört, die Kulturen entwickelt haben, die sogar noch fortschrittlicher gewesen sind als die der Wemarer vor vielen Jahrhunderten, und die von dem Moment an, als sie von der Muttermilch entwöhnt worden sind, bis zu ihrem Tod nichts als pflanzliche Mahlzeiten zu sich genommen haben. Bei diesen Spezies werden die Gerichte entweder heiß serviert, so wie Ihre, oder roh in einer Vielzahl verschiedener.“ „Niemals!“ platzte Remrath los. „Daß die bis zu ihrem Tod Gemüseeintopf essen, kann ich ja noch glauben, weil wir älteren Wemarer gezwungen sind, das gleiche zu tun. Höchstwahrscheinlich beschleunigt das unseren Tod noch. Doch es geht ja nur darum, einen leeren und knurrenden Magen mit geschmacklosem, organischem Brennstoff zu füllen, auch wenn es für jeden Erwachsenen schändlich und erniedrigend ist, Gemüse essen zu müssen. Aber rohes Gewächs wie ein. wie ein Rouglar zu fressen!“ rief er grimmig aus. „Fremdweltler, bei dem, was Sie sagen, dreht sich mir gleich der Magen um!“ „Bitte verzeihen Sie mir meine Unwissenheit, aber was ist ein „Rouglar“?“ erkundigte sich Gurronsevas. „Das ist ein großes, langsames Tier gewesen, das wir gejagt haben und das den ganzen Tag damit beschäftigt gewesen ist, Blätter zu fressen und zu verdauen“, antwortete Remrath. „Ein paar davon soll es Gerüchten zufolge noch in den Gebieten am Äquator geben, doch überall sonst sind sie ausgestorben. Sie sind immer zu langsam und dumm gewesen, um den Jägern zu entwischen.“ „Bei allem Respekt, Sie irren sich“, widersprach Gurronsevas. „Viele intelligente Spezies sind Pflanzenfresser und schämen sich deshalb kein bißchen. Auch ein Gefühl der geistigen oder körperlichen Unterlegenheit stellt sich bei ihnen unter all den anderen Fleisch- und Allesfressern, die ausschließlich Fleisch oder eine Mischung aus tierischer und pflanzlicher Nahrung essen wie Sie, nicht ein. Oberschwester Naydrad zum Beispiel — die werden Sie auch noch kennenlernen, das ist die mit dem langen Körper, dem silbernen Fell und den vielen Beinen — nimmt ausschließlich pflanzliche Nahrung zu sich und ist weder im Denken noch von den Bewegungen her langsam. Unterschiede in den Ernährungsgewohnheiten sind kein Grund für Scham oder Stolz oder für irgendwelche anderen Gefühle außer vielleicht Freude oder Ärger über den Geschmack oder die Qualität des Kochens oder der Zubereitung. Doch all das sind belanglose Unterschiede. Warum schämen sich die Wemarer?“ Remrath antwortete nicht. Hatte ihn die Frage womöglich gekränkt, oder schämte ihn deren Beantwortung noch mehr? fragte sich Gurronsevas. Vielleicht war es besser, keine weiteren Fragen zu stellen, sondern lieber damit fortzufahren, Auskünfte zu erteilen, und dabei Remraths Reaktionen zu beobachten. „Nahrung ist ungeachtet der Form nichts als ein Brennstoff für den Körper“, fuhr Gurronsevas deshalb fort, „doch die Nahrungsaufnahme selbst ist ein angenehmes Erlebnis oder sollte es zumindest sein. Der Geschmack kann auf verschiedene Arten durch das Zugeben geringer Mengen von Substanzen gesteigert werden, bei denen es sich um tierische oder pflanzliche Stoffe oder um genießbare Mineralien handelt. Ein Gericht kann auch verbessert werden, indem man verschiedene Zutaten verwendet, die sich gegenseitig ergänzen oder miteinander kontrastieren und den Geschmack interessanter gestalten. Auf diesem Gebiet verfüge ich über ein wenig Erfahrung, wozu auch die Zubereitung von.“ Für einen kurzen Moment fragte er sich, wie das untergeordnete Küchenpersonal im Cromingan-Shesk auf eine derart lächerliche und für ihn untypische Untertreibung reagiert hätte, doch sein Zuhörer wußte nichts von der Esse^z^ere^^ für viele verschiedene Spezies und würde nicht von einer unaufgefordert zur Schau gestellten Fachkenntnis beeindruckt sein, die sein Verständnis — hoffentlich nur sein momentanes — vollkommen überstieg. Während er seine Erklärungen fortsetzte, versuchte Gurronsevas, das Wissen, das er vermittelte, so einfach und grundlegend wie möglich zu gestalten, weil der betagte Wemarer Chefkoch ungeachtet seines hohen Alters in kulinarischen Fragen das reinste Kind war. Doch während er sich immer mehr in sein Lieblingsthema hineinsteigerte und die Minuten wie im Fluge vergingen, wurde er allmählich gewahr, daß Remrath Anzeichen von Unruhe und vielleicht sogar Ungeduld erkennen ließ. Es war Zeit, langsam zum Schluß zu kommen, bevor sich beim Chefkoch eindeutige Langeweile breitmachte. „Über die Essenszubereitung könnte ich Ihnen noch viel mehr erzählen, und auch darüber, daß meine Bemühungen bei einigen wenigen und sehr bedauerlichen Lebewesen vergeblich sind“, setzte Gurronsevas seine Ausführungen fort. „Dazu gehört auch der Gestaltwandler Danalta. Er ißt alles, Gemüse, Fleisch, harte Holzsorten, Sand, die meisten Gesteinsarten, und das, ohne irgendeinen Unterschied im Geschmack feststellen zu können.“ Plötzlich verstummte er in der Erkenntnis, daß, nach den Gesprächen zu urteilen, die er über den Kopfhörer vernahm, das medizinische Team wieder zur Rhabwar aufgebrochen war, die Wemarer Schüler gleich in die Mine zurückkehren würden und Danalta noch nicht in der Küche erschienen war. Oder doch? Wie sich Gurronsevas erinnerte, hatte vor einem spärlich beleuchteten Teil der Wand hinter der doppelten Küchentür ein Holzfaß gestanden, aus dessen offener Oberseite die Stiele mehrerer Besen und Bodenwischer ragten. Jetzt standen zwei Fässer dort, die völlig identisch waren — bis auf ein Astloch in einer der beiden, das den feuchten, transparenten Schimmer eines Auges aufwies und Gurronsevas langsam zuzwinkerte. Danalta war bereits zu ihm gestoßen. Was für ein Angeber! seufzte Gurronsevas im stillen und wandte sich wieder Remrath zu. „Wir müssen unser Gespräch ein andermal fortsetzen, denn jetzt haben wir viel zu tun“, erklärte der Chefkoch, bevor Gurronsevas etwas sagen konnte. „Wenn Sie wollen, schauen Sie zu, aber seien Sie so freundlich, und treten Sie zur Seite und versuchen Sie, unsere Bewegungen nicht zu behindern.“ Gurronsevas entfernte sich und blieb neben dem Faß stehen, das gar kein Faß war. Die Bewegungen, die er nicht behindern sollte, waren, wie er sah, quälend langsam. Remrath und das Küchenpersonal schöpften einzelne Portionen des Gemüseeintopfs auf breitrandige Teller, von denen sie jeweils zwei auf ein Tablett setzten, bevor sie noch zwei breite, flache Löffel und zwei Becher mit Trinkwasser aus dem Einlaßrohr der ungehindert durchströmten Waschrinne dazu stellten. Die Teller waren nicht vorgewärmt, und einige waren sogar noch feucht vom Abspülen. Einzeln wurden die mit zwei Portionen gefüllten Tabletts nun in den Vorraum getragen und auf den großen Tisch gestellt, bis dieser ganz und gar bedeckt war. Unterdessen beaufsichtigten die Lehrerinnen die eingetroffenen Arbeitsgruppen und Klassen und legten das an diesem Tag geerntete Gemüse in die Vorratsbehälter der Küche, während sich ihre jungen Schützlinge weiter in den Speiseraum begaben. Remrath sagte den Neuankömmlingen, er werde ihnen die Anwesenheit von Gurronsevas später erklären, und sie sollten mit ihren normalen Aufgaben fortfahren. Ihnen dabei tatenlos zusehen zu müssen, ließ Gurronsevas’ Blutdruck ernstlich steigen. Die durchs Alter unbeweglich gewordenen Schwänze, die Steifheit in den Händen, Fingern und Beinen und der ungleichmäßige, hinkende Gang hatten zur Folge, daß sie nur ein kleines Tablett mit zwei Portionen tragen und balancieren konnten. Das führte wiederum dazu, daß die Portionen, die bereits im Vorraum abkühlten, noch kälter — wenn nicht sogar eiskalt — waren, wenn sie endlich im Speiseraum eintrafen. Doch die Schüler, die sich dort eingefunden hatten, würden sich aller Wahrscheinlichkeit nach nicht darüber beklagen, denn ihre Ungeduld auf ein Essen aus kaltem Brei war bestimmt nur minimal. „Ich kann einfach nicht länger so dastehen und mir das mit ansehen“, sagte Gurronsevas leise, aber hitzig zu einem der beiden Fässer hinter sich. „Die Organisation in dieser Küche ist ein geradezu kriminelles Chaos, und die Serviermethoden sind. nun ja, Schwamm drüber. Verwandeln und rühren Sie sich nicht, um mir zu folgen, Danalta, solange ich nicht um Hilfe rufe.“ Er wartete, bis Remrath vorbeigehumpelt kam, und fuhr dann mit lauterer Stimme fort: „Ich habe Ihre Tätigkeiten genau beobachtet und glaube, Ihnen helfen zu können. Wie Sie selbst gesehen haben, bin ich körperlich wendiger und in den Bewegungen viel flinker als Sie. Außerdem habe ich vier Hände, die im Moment alle frei sind.“ Der Große Gurronsevas als Kellner, dachte er ungläubig, als er die ersten vier Tabletts durch den Stollen in den Speiseraum trug. Was ist bloß aus mir geworden? 23. Kapitel Nachdem die Mahlzeit vorbei war und man die fast leeren Teller abgeräumt hatte, ging die Unterhaltung weiter. Offenbar machte niemand den Köchen das Kompliment, den Teller ganz leer zu essen. Tawsar dankte Gurronsevas für die Hilfe beim Servieren und für die Beantwortung von Fragen zu seiner Person, die ihm die jungen Wemarer im Speiseraum gestellt hatten. Zu keiner Zeit hatte er Tawsar ihr Essen anrühren sehen, und als er diesen Punkt später gegenüber Remrath erwähnte, teilte ihm dieser mit, daß die oberste Lehrerin an den alten Traditionen festhielte und kein Gemüse esse, wenn es Zeugen für diese Schande geben konnte. Obwohl die übrigen Köche, die den ganz kleinen Kindern Essen bringen mußten, Gurronsevas und Remrath in der Küche allein gelassen hatten, als der Tralthaner um eine nähere Erläuterung bat, wich der Chefkoch der Frage aus. Gurronsevas hütete sich, die Arbeitsweise in der Küche zu kritisieren oder dem Chefkoch Vorschläge zu machen, wie man selbst in dieser spärlich ausgestatteten Küche besser kochen könnte, denn Kriege waren schon aus nichtigeren Anlässen ausgebrochen. Statt dessen berichtete er von den anderen Küchen, die er kennengelernt hatte, wobei er seine Kritik nicht offen aussprach, sondern sie nur leise andeutete. „Heutzutage bitten wir die Kinder nicht mehr, diese niedrigen Küchendienste zu verrichten“, sagte Remrath. „Es hat Zeiten gegeben, als denjenigen, die sich schlecht benommen hatten, die Verantwortung für das Abräumen und Abspülen der Teller und Bestecke und das Waschen des Gemüses für den nächsten Tag übertragen wurde. Doch die Folge war, daß viel Geschirr zu Bruch ging und das Gemüse nicht ordentlich gewaschen wurde. Deshalb hat man diese Gewohnheit aufgegeben. Widerwillige Helfer sind der Mühe nämlich nicht wert. Außerdem ist es für uns Alte besser, uns weiterhin nützlich zu machen, als Kräfte zu vergeuden, die mit jedem Tag knapper werden. Ist das da auf Ihrem Teller ein Essensrest oder eine abgenutzte Stelle? Bitte schrubben Sie ihn noch mal.“ Abermals tauchte Gurronsevas den Teller in das kalte fließende Wasser und rieb es mit einem dichten, drahtigen Moosstück sauber, das er zu diesem Zweck erhalten hatte, bevor er ihn wieder Remrath zeigte, der mit derselben Arbeit beschäftigt war. Zuerst ein Kellner, dachte er, und jetzt auch noch ein Tellerwäscher! „Bei vielen der Spezies, die ich kennengelernt habe, versteifen sich die Fingergelenke durch wiederholtes Eintauchen in kaltes Wasser, vor allem dann, wenn der Betreffende nicht mehr jung ist“, sagte er. „Ist das bei Ihnen auch der Fall?“ „Ja“, antwortete Remrath. „Und wie Ihnen bei mir bestimmt nicht entgangen ist, sind es nicht nur die in kaltes Wasser getauchten Körperteile, die in Mitleidenschaft gezogen werden.“ „Auch das ist auf vielen Planeten eine verbreitete Klage“, sagte Gurronsevas. „Doch möglicherweise kann das Leiden gelindert werden. Ich sage „möglicherweise“, weil ich selbst von diesem Thema keine Ahnung habe. Doch Tawsar hat sich freundlicherweise einer umfassenden medizinischen Untersuchung und vielen Stoffwechselproben unterzogen, und deshalb werden wir bald wissen, ob wir die Wemarer heilen können oder nicht. Sollte das jedoch nicht der Fall sein, auf meinem Planeten können die Jüngeren oft dazu gebracht werden, den Älteren zu helfen, wenn man die richtigen Argumente anführt.“ Remrath wusch drei weitere Teller ab, untersuchte sie peinlich genau auf Essensreste und stellte sie noch tropfnaß beiseite, bevor er fragte: „Wissen Sie überhaupt, ob Tawsar gesund oder krank ist? Läuft bei ihr der Fäulnisprozeß des Alters ab, der sich in den Körpern von uns allen ausbreitet und anderen Krankheiten den Weg bahnt, die unser Fleisch vergiften?“ Gurronsevas versuchte noch, sich eine passende Antwort einfallen zu lassen, als sich Murchison auf der Schilfsfreqüenz einmischte. „Wie Sie ganz richtig erwähnt haben, sind wir vielleicht nicht in der Lage, bei den Wemarern ein arthritisches Leiden zu lindern, doch besteht eine recht gute Chance. Tawsar ist zwar alt und gebrechlich, aber keineswegs krank. Sie könnte weitere zehn Jahre leben und sogar noch länger, wenn sie mehr essen würde. Aus irgendeinem Grund hungern sich diese DHCGs fast zu Tode.“ Hätte Murchison eben das Essen der Wemarer probiert, wäre ihr der Grund klar, dachte Gurronsevas und sagte zu Remrath: „Tawsar könnte noch viele Jahre vor sich haben, wenn sie mehr essen würde.“ Von einem Teller schabte Remrath eingetrocknete Essensreste in einen Abfalleimer, bevor er den Teller in den Waschtrog gleiten ließ. „Wenn wir die jungen Wemarer bäten, würden sie uns zwar helfen, aber wir Alten müssen trotzdem nützliche Arbeit leisten, während wir auf die Übergabe unseres Körpers bei unserem Tod warten. Es handelt sich um eine Arbeit, die wir verrichten dürfen, auch wenn wir nicht immer imstande sind, sie gut zu verrichten. Und mehr Nahrung wollen wir nicht zu uns nehmen, jedenfalls nicht, solange es sich um Gemüse handelt. Dieses Thema ist in jeder Bedeutung des Wortes ekelhaft. Aber ich habe auch einige Fragen an Sie, Gurronsevas. Falls die ungehörig sein sollten, beachten Sie sie einfach nicht. Ihre Arbeit kann ich ja nachvollziehen, weil sie meiner eigenen nicht unähnlich ist, aber was ist mit den Wesen, die sich mit Tawsar unterhalten und irgendwelche Sachen mit ihr angestellt haben? Wo kommen die her, und was machen die dort?“ Gurronsevas bemühte sich, das Orbit Hospital und die Arbeit zu beschreiben, die dort verrichtet wurde, doch seine Schilderung war viel zu einfach und alles andere als genau, denn er wußte, daß ihm Remrath die ungeheuerliche Wahrheit ohnehin nicht glauben würde. „Demnach handelt es sich also wirklich um ein großes Gebäude am Himmel, das mit Wesen bevölkert ist, die Kranke und Verletzte aufnehmen und sie wieder rein und frisch und heil machen?“ hakte Remrath ungläubig nach. „So kann man unsere Tätigkeit auch beschreiben“, warf Murchison mit einem leisen Lachen ein. „Auf Wemar hat es auch mal solche Einrichtungen gegeben“, fuhr Remrath fort, „aber deren Tätigkeiten sind weit hinter dem zurückgeblieben, was Sie eben beschrieben haben. Sie wollen also allen Ernstes behaupten, Ihre Freunde auf dem Schiff kommen vom Orbit Hospital und sind bereit, diesen Dienst für Tawsar und den Rest des älteren Personals zu leisten?“ „Ja“, antwortete Gurronsevas, ohne zu zögern. „Vie… vielen Dank“, stammelte Remrath verlegen. „Aber andererseits ist mir nicht ganz wohl dabei, meinen Körper Fremden anzuvertrauen. Obwohl Sie ja auch einer von denen sind und ich Sie mittlerweile einigermaßen kenne und. Sie kommen doch auch vom Orbit Hospital und müssen eigentlich mehr wissen als ich. Wenn es soweit ist, wäre es mir lieber, wenn Sie die Aufgabe übernähmen, meinem Körper die Frische der Jugend zurückzugeben.“ „Bedauerlicherweise verstehe ich überhaupt nichts von diesen Dingen“, stellte Gurronsevas klar, wenngleich er sich über das unangebrachte Kompliment freute. „Mein einziger Beitrag besteht darin, den Lebewesen im Hospital das Essen zuzubereiten, anzurichten und zu servieren.“ „Ist das ein wichtiger Beitrag?“ erkundigte sich Remrath. „Hilft es den Wesen dort, rein und frisch zu bleiben?“ „Ja“, antwortete Gurronsevas erneut. „Ich würde sogar ohne Zögern behaupten, daß mein Beitrag der wichtigste ist, weil ohne ihn niemand überleben würde.“ Im Kopfhörer konnte er Murchison hören, die einen unübersetzbaren Laut ausstieß. „Und Sie wollen uns dabei helfen, frisch zu bleiben, indem Sie unserem Essen ein schönes Aussehen und einen besseren Geschmack verleihen?“ fragte Remrath weiter. „Ausgeschlossen!“ Da Gurronsevas nichts entdecken konnte, das einem Handtuch ähnelte, schüttelte er sich das Wasser von den Händen und antwortete: „Ich möchte nur, daß Sie mir erlauben, es zu versuchen.“ Ohne etwas darauf zu entgegnen, wandte sich Remrath um und humpelte steif in den Vorraum, um fünf Minuten später mit einer Ladung des vorhin gebrachten Gemüses zurückzukehren. Er machte sich daran, bei einigen Sorten die Blätter abzurupfen und bei anderen die Wurzeln, bevor er die vermutlich genießbaren Teile ins Wasser warf. „Sie dürfen es versuchen, Fremdling“, willigte er schließlich ein. „Wenn Sie uns aber mit Ihrem größeren Wissen und Ihrer außerplanetarischen Erfahrung kein Fleisch auf den Tisch bringen können, verschwenden Sie nur Ihre Zeit. Das ist nämlich unsere Hoffnung und der Grund, warum ich Tawsar ursprünglich dazu gedrängt habe, sich mit Ihnen zu treffen. Statt Ihnen unseren dringenden Bedarf an Fleisch zu erläutern, das für das Überleben unserer Spezies notwendig ist, hat sie sich nur geschämt und über ganz andere Themen gesprochen und Ihren Ärzten erlaubt, seltsame Dinge mit ihr anzustellen. Womit möchten Sie denn anfangen, Gurronsevas?“ „Zuerst würde ich mich gern mit Ihnen über die Wemarer unterhalten…“, antwortete er. „Ja, bitte“, mischte sich Murchison ein. „Prilicla sagt, abgesehen von den physiologischen Daten erhielten sie von Ihrem Freund in fünf Minuten mehr nützliche Auskünfte als wir von Tawsar in zwei Stunden.“ „…und darüber, was Sie von sich selbst und Ihrem Planeten halten und was Sie gerne essen“, fuhr Gurronsevas fort, ohne das abermalige unerwartete Kompliment zu beachten. „Welche Gegenstände, Szenerien und Farben empfinden Sie als schön? Ist Ihnen das Aussehen des Essens genauso wichtig wie der Geschmack und der Geruch? Ich bin schon seit langem der Überzeugung, daß sich das Verhalten und das kulturelle Niveau eines Lebewesens in verschiedener und wichtiger Hinsicht in der Nahrung, die es zu sich nimmt, und natürlich auch in den kultivierten Zeremonien und Verfeinerungen widerspiegelt, die es beim Kochen, Anrichten und Essen.“ „Fremdling!“ schnitt ihm Remrath das Wort ab. „Sie beleidigen sowohl mich als auch die übrigen Wemarer. Wollen Sie etwa damit andeuten, daß wir Wilde sind?“ „Gurronsevas, seien Sie vorsichtig“, warnte ihn Murchison eindringlich. „Oder wollen Sie allen Ernstes einen Streit vom Zaun brechen?“ „Das war keineswegs meine Absicht“, entgegnete Gurronsevas, womit er beide Fragen gleichzeitig beantwortete. „Ich weiß, daß die Wemarer kurz vorm Verhungern sind, und für viele der Eßzeremonien müssen die Lieblingsspeisen ausreichend, wenn nicht sogar im Überfluß vorhanden sein. Doch dort, wo ich herkomme, können Eßzeremonien abgewandelt werden, entweder weil die Umstände uns dazu zwingen oder um die Eintönigkeit einer sich nicht ändernden Kost zu beleben. Trotz meiner Unkenntnis der Wemarer Küche werde ich Ihnen Vorschläge unterbreiten, wie man das bewerkstelligen kann“, fuhr er rasch fort. „Falls diese Vorschläge beleidigend oder aus irgendeinem körperlichen oder physiologischen Grund ungeeignet sind, sagen Sie es mir lieber sofort, ohne kostbare Zeit mit unangebrachten Höflichkeiten zu verlieren. Doch bevor Sie das tun, lassen Sie mich die vorhandenen Lebensmittel untersuchen und die Vorschläge ausführlich mit Ihnen besprechen, damit nicht nur Ihnen, sondern auch mir klar ist, weshalb sie undurchführbar sind. Um diese Untersuchungen vornehmen zu können, brauche ich Ihre Erlaubnis, Proben der Gemüsesorten und Gewürze zu entnehmen, die Sie hier verwenden“, erklärte er weiter. „Dabei handelt es sich nur um ganz winzige Mengen. Außerdem wäre ich Ihnen dankbar, wenn Sie mich dorthin führen könnten, wo diese Pflanzen geerntet werden. Indem ich diese Pflanzen in ihrem Naturzustand sehe und in der näheren Umgebung andere möglicherweise genießbare Gewächse sammle und untersuche, fallen mir vielleicht Alternativgerichte oder Änderungen zu der bestehenden Kost ein.“ „Aber was wir brauchen, ist Fleisch“, beharrte Remrath in bestimmtem Ton. „Haben Sie einen Vorschlag, wie man sich das beschaffen könnte?“ „Das können Sie nur, indem Sie einen von uns essen“, antwortete Gurronsevas, der plötzlich die Geduld mit dem Chefkoch und seiner Monomanie in Fragen des Essens verlor. „Gurronsevas.!“ begann Murchison. „Sie würden wir nicht essen, Gurronsevas“, versicherte ihm Remrath, der den Vorschlag offenbar ernst genommen hatte. „Bei allem Respekt, Ihre Gliedmaßen und der Körper erscheinen hart und zäh. Sie schmecken womöglich wie die Äste von einem Baum. Die Körperteile des Gestaltwandlers könnten Verdauungsstörungen hervorrufen, indem sie sich in uns verwandeln, und die Glieder und der Körper des hübschen Flugwesens sind so mager wie die Zweige eines Strauchs im Winter. Das Wesen mit den weichen Formen, das auf zwei Beinen das Gleichgewicht hält, und dasjenige mit dem schimmernden Fell wären vielleicht geeignet. Werden die beiden bald sterben?“ „Nein“, antwortete Gurronsevas. „Dann dürfen Sie uns die auch nicht anbieten“, belehrte ihn Remrath mit todernster Stimme. „Die Wemarer halten es für falsch, ein anderes intelligentes Lebewesen zu essen, wenn es nicht auf natürliche Weise gestorben und frei von Krankheiten ist oder das Leben bei einem Unfall verloren hat. Nur aus Mitleid mit unserem Hunger dürfen Sie nicht das Leben eines anderen verkürzen, egal, wie dringend wir im Augenblick Fleisch benötigen. Ich bin Ihnen für Ihr Angebot zwar dankbar, aber gleichzeitig auch erschüttert und empört, daß Sie sich Ihren Freunden gegenüber mit einem derartigen Mangel an Mitgefühl verhalten würden. Ihr Fleischangebot ist hiermit abgelehnt.“ „Da bin ich aber froh“, merkte Murchison an. „Ich auch“, seufzte Gurronsevas erleichtert, nachdem er den Translator ausgeschaltet hatte. „So hart und zäh wie Remrath glaubt, bin ich nämlich gar nicht. Doch ich habe mich durch meine Äußerungen offenbar selbst in die Enge getrieben.“ Dann schaltete er den Translator wieder ein und sagte zu Remrath: „Bitte, es gibt keinen Grund, erschüttert oder empört zu sein, denn wir haben dieselbe Überzeugung. Meine Worte waren schlecht gewählt und nur ein ungeschickter Versuch, Ihnen eine weitere Frage zu stellen: Würden die Wemarer Nahrungsmittel von anderen Planeten akzeptieren, vorausgesetzt, diese schmecken ihnen und wir wären uns sicher, daß es für sie nicht schädlich ist?“ „Fleisch von anderen Planeten?“ fragte Remrath voller Hoffnung. „Nein“, antwortete Gurronsevas, und dieses Mal waren seine Worte gut gewählt, als er erklärte, daß es zwar möglich sei, dem Nahrungsmittel den Geschmack und die Konsistenz verschiedener Fleischsorten von fremden Planeten zu verleihen, es aber nie gelebt habe, weder früher noch jetzt. „Das liegt daran, daß man es, wenn verschiedene fleischessende Lebensformen zusammenarbeiten, wie es im Orbit Hospital oder auf dem Schiff der Fall ist, für gefühllos hält, das Fleisch nichtintelligenter Kreaturen zu verzehren, die oft eine große körperliche Ähnlichkeit mit den intelligenten Kollegen aufweisen. Die Nahrung ist künstlich, aber Sie würden den Unterschied nicht bemerken“, schloß er. Remrath antwortete mit einem Laut, der auf Unglauben schließen ließ. Das lange Schweigen, das sich anschloß, wurde schließlich vom Chefkoch unterbrochen, indem er sagte: „Was den Rundgang durch den Gemüsegarten angeht, so müssen Sie den wohl ohne mich machen. Ich habe hier nämlich Aufgaben zu verrichten, die mir nur sehr wenig Zeit für Spaziergänge im Tal lassen. Ich habe eine Klasse und muß das Abendessen vorbereiten.“ Gurronsevas verbarg seine Enttäuschung. Es wäre ihm lieber gewesen, Remrath als Führer und Ratgeber zum Pflanzenleben auf Wemar zu haben, der ein Gewächs sofort als giftig erkannt hätte, als selbst Zeit damit zu verlieren, zahlreiche Exemplare aus dem Boden zu rupfen und auf die Ergebnisse von Murchisons Analysen warten zu müssen. „Was bringen Sie denn heute abend auf den Tisch?“ erkundigte er sich höflich. „Noch mal dasselbe“, antwortete Remrath knapp. Dann hob er steif eine Hand, deutete auf den Vorraum und fuhr fort: „Aber wir werden die für den Rundgang erforderliche Zeit herausholen, Gurronsevas, wenn Sie das Feuerholz hereinbringen und klein hacken und mir beim Gemüseputzen helfen.“ 24. Kapitel Remrath bewegte sich über den unebenen Boden der Talsohle noch langsamer als Tawsar und hatte eindeutig stärkere Schmerzen als sie. Zudem weigerte er sich standhaft, eine derjenigen Stellen zu betreten, die von den Strahlen der frühen Nachmittagssonne beschienen wurden. Beide Probleme wurden von Naydrad behoben, die mit dem schwerelosen Krankentransporter herbeieilte und über dem anfänglich widerwilligen Insassen das Sonnenschutzschild ausfuhr. Die Oberschwester hatte die Anweisung erhalten, nur die Trage zu lenken und das Gespräch allein Gurronsevas zu überlassen. Der aufgewühlte Zustand ihres Fells zeigte, was sie von dem erzwungenen Schweigen hielt. Danalta, dessen Aufgabe als Beschützer sich als überflüssig erwiesen hatte, war auf die Rhabwar zu Prilicla und Murchison zurückgekehrt, um zu helfen, die durch Tawsar gewonnenen physiologischen Daten über die Wemarer auszuwerten. Die Schüler, die nur am Vor- und frühen Nachmittag nach draußen kamen, über Mittag jedoch in der großen Höhle behalten wurden, um nicht dem direkten Sonnenlicht ausgesetzt zu sein und gleichzeitig in den Genuß der maximalen natürlichen Beleuchtung durch die Fenster zu kommen, hatten die Mine verlassen, um wieder im Freien zu arbeiten, und Remrath schien die zeitliche Grenze, die er dem Sammeln von Pflanzenproben gesetzt hatte, völlig vergessen zu haben. Ganz offensichtlich genoß er die Bequemlichkeit des Fahrens auf der Trage, und an den merkwürdigen Dingen, die Gurronsevas sagte und tat, fand er noch mehr Vergnügen. „Blumen essen Sie auf Ihrem Planeten doch wohl nicht, oder?“ fragte er während eines Halts auf den höheren, unbebauten Hängen. „Manchmal kann man die Stiele, Blätter oder Blüten zerdrücken oder kochen und als Ergänzung oder Kontrast zu den übrigen Zutaten verwenden oder auf dem Teller verteilen, damit das Essen reizvoller aussieht, oder mit ihnen einfach den Eßtisch dekorieren, um ihm ein gefälliges Aussehen und einen angenehmen Duft zu verleihen“, antwortete Gurronsevas. „Aber manchmal essen wir sie auch.“ Erneut stieß Remrath einen Laut aus, der nicht übersetzt wurde. Das hatte er schon fast den ganzen Nachmittag lang getan. „Diese Beeren mit der braun gepunkteten grünen Haut“, fuhr Gurronsevas fort, wobei er auf einen niedrigen Strauch mit dichtem, drahtigem Blätterwerk deutete, den er als die Pflanze wiedererkannte, die er vorhin benutzt hatte, um die Teller sauber zu schrubben, „sind die genießbar?“ „Ja, aber nur in geringen Mengen“, antwortete der Chefkoch. „Das sind die Rankenbeeren. Im Moment haben sie noch einen herben Geschmack, aber wenn sie ganz reif sind, schmecken sie süß. Doch wir essen sie nicht, sofern nicht einer von uns Schwierigkeiten mit der Ausscheidung von Abfallstoffen hat. Und Sie, Sie werden die auch nicht zu sich nehmen!“ „Ich werde Proben von allem sammeln, insbesondere von Heilpflanzen, die manchmal nicht nur einem Gericht mehr Geschmack verleihen, sondern auch gesundheitsfördernde Eigenschaften besitzen“, erklärte Gurronsevas. „Sie sagen, die Wemarer verwenden viele solcher Pflanzen. Wer ist für die Verschreibung verantwortlich?“ „Ich“, antwortete Remrath. Als Chefkoch der Einrichtung hatte Remrath viel mit ihm gemein, dachte Gurronsevas. Natürlich waren das Wissen und der Wortschatz des Wemarers stark beschränkt, doch sie sprachen beide dieselbe Sprache. Für das medizinische Team wäre es hilfreich, überlegte der Tralthaner, wenn er herausfinden könnte, was auf Wemar einem Arzt entsprach. „Und wer von Ihnen beschäftigt sich mit den schwerer erkrankten oder verletzten Wemarern?“ erkundigte er sich. „Gibt es einen speziellen Ort, an dem sie behandelt werden? Und was wird für sie getan?“ Es trat eine lange Stille ein, und Gurronsevas wunderte sich schon, ob er den Chefkoch mit seinen anscheinend arglosen Fragen gekränkt haben könnte, als sich Remrath doch noch zu einer Antwort durchrang. „Leider bin ich dafür verantwortlich“, sagte er. „Außerdem spreche ich mit Fremdweltlern über derartige Dinge nicht, Gurronsevas, und nicht einmal mit Freunden. Erzählen Sie mir lieber noch mehr über Ihre merkwürdigen Serviermethoden.“ Sie kehrten zu dem Thema zurück, das, wie Gurronsevas wußte, ungefährlich war, und das er persönlich sowieso viel aufregender fand. Anfangs interessierte sich Remrath lediglich aus Höflichkeit dafür. Offensichtlich fand er Gefallen an der komfortablen Fahrt auf der Trage und war darauf bedacht, dieses Vergnügen zu verlängern. Doch kaum hatte Gurronsevas den Chefkoch dazu gebracht, den Gedanken zu akzeptieren, daß Essen vielleicht etwas mehr als die bloße Aufnahme von organischem Brennstoff sei, und ihm mit Begeisterung von den vielen Zeremonien und Raffinessen, die auf anderen Planeten beim Zubereiten und Anrichten ins Spiel kamen, und von den zahlreichen verschiedenen Gängen berichtet, die als Teil einer einzigen Mahlzeit serviert werden konnten, war Remraths Interesse ernsthafter geworden, wenn sich auch gelegentlich ein hohes Maß an Ungläubigkeit hineinmischte. „Daß Sie ein Gericht als Kunstwerk ansehen, wie es zum Beispiel eine schöne Holzschnitzerei oder ein Wandgemälde ist, kann ich ja noch nachvollziehen“, warf Remrath an einer Stelle ein. „Obwohl so ein Gericht zwangsläufig ein sehr kurzlebiges Kunstwerk ist, zumal dann, wenn der Kochkünstler mit seiner Arbeit Erfolg hat. Doch das Geschmacksempfinden mit den Freuden zu vergleichen, die man beim Schaffen eines Kunstwerks hat. das ist doch wohl übertrieben, oder?“ „Vielleicht nicht, wenn Sie bedenken, daß man sich beim Essen einen Augenblick intensiven Genusses verschafft, der durch Erfahrung und kontrolliertes Hinauszögern verstärkt und ausgedehnt werden kann“, gab Gurronsevas zu bedenken. „Ein normales Kunstwerk hingegen bereitet einem eine ständige, wenn auch zugegebenermaßen weniger starke Freude, die bedeutend länger anhält, die nicht so sehr durch das Alter oder körperliche Erschöpfung beeinflußt wird und auf keinen Fall vorzeitig vorbei ist.“ „Wenn Sie das mit Nahrungsmitteln erreichen können, müssen Sie wirklich ein sehr guter Koch sein“, stellte Remrath fest. „Ich bin der beste“, merkte Gurronsevas in aller Bescheidenheit an. Remrath stieß einen Laut aus, der nicht übersetzt wurde, und das gleiche tat aus irgendeinem Grund auch Naydrad. Als man sich auf den Rückweg zur Mine machte, lagen nur noch die obersten Berghänge über dem Tal im Licht der untergehenden Sonne, und die Lufttemperatur war bereits merklich gefallen. Die jungen Mitglieder der Arbeitsgruppen und Klassen liefen und hüpften unbeaufsichtigt in kleinen Rudeln über den ebenen Boden vor dem Eingang. Wie Remrath erklärt hatte, handelte es sich hierbei um eine Beschäftigung, in der die Kinder bestärkt wurden, damit sie Hunger für das Abendbrot bekamen und ihre überschüssige Energie abbauten, um besser zu schlafen; sie konnten sich nämlich irreparable Verletzungen zuziehen, wenn sie nachts in den Stollen herumliefen. Obwohl die Schaufelräder ständig Strom erzeugten, war die Mine außer unter besonderen Umständen nachts nicht beleuchtet, da der geringe noch vorhandene Vorrat an Glühbirnen nicht aufgestockt werden konnte. „Beabsichtigen Sie, diese Wunderwerke des Geschmacks auch für uns zu vollbringen?“ fragte Remrath plötzlich. „Wie wollen Sie das machen, wo Sie doch überhaupt keine Ahnung von Wemarer Nahrungsmitteln haben und kaum eine Messerspitzevoll von meinem Eintopf probiert haben?“ „Ich will es zumindest versuchen“, antwortete Gurronsevas. „Doch zuerst müssen die Proben untersucht werden, um sicherzustellen, daß sie für mich nicht schädlich sind. Sollten sie sich nicht bloß für die Wemarer, sondern auch für mich als genießbar erweisen, dann und nur dann werde ich versuchen, etwas zu kreieren. Selbstverständlich muß ich jedes Gericht beziehungsweise jeden einzelnen Gang eines Menüs, das ich zubereite, zuerst selbst probieren. Für Ratschläge zu Geschmacksvorlieben und — Intensitäten wäre ich Ihnen sehr dankbar, da sich mein tralthanischer Geschmackssinn in gewisser Hinsicht bestimmt von dem der Wemarer unterscheidet, doch ich würde niemals jemandem ein Gericht servieren, das ich vorher nicht bis auf den letzten Bissen selbst verzehrt hätte.“ „Selbst ein Vorhaben, das von vornherein zum Scheitern verurteilt ist, kann interessant zu beobachten sein“, merkte Remrath an. „Möchten Sie jetzt in die Küche zurückkehren?“ „Nein“, lehnte Gurronsevas in entschiedenem Ton ab, da er es nicht gewohnt war, seine künstlerischen Fähigkeiten in dieser Weise in Zweifel gezogen zu sehen. „Die Analyse und das erste Experimentieren mit den Proben könnte etwas Zeit in Anspruch nehmen. Ich werde morgen oder vielleicht ein oder zwei Tage später wiederkommen. Natürlich nur mit Ihrer Erlaubnis.“ „Brauchen Sie einen Führer, um wieder den Weg zu meiner Küche zu finden?“ fragte Remrath. „Nein danke“, entgegnete Gurronsevas. „An den erinnere ich mich noch.“ Die beiden wechselten kein weiteres Wort miteinander, bis sie bei den tobenden jungen Wemarern vor dem Mineneingang ankamen. Zwei der Kinder halfen Remrath aus dem Transporter, und ein anderes versuchte, durch die Lücke zwischen der scheinbar in der Luft schwebenden Unterseite und dem Boden hindurchzukriechen, und berichtete den anderen dann aufgeregt schnatternd von dem eigenartigen Kribbeln, das das Repulsionsfeld bei ihm an Kopf und Armen hervorgerufen hatte. Ein weiterer Wemarer wollte gerade auf den leeren Transporter steigen, als Remrath ihn verscheuchte, indem er ihm androhte, ihn gleich in der Luft zu zerreißen und noch auf andere grausame Weise zu bestrafen, was angesichts der körperlichen Schwäche und eingeschränkten Bewegungsfreiheit des Chefkochs weder er selbst noch der junge Wemarer ernst nahmen. Schon steuerte Naydrad den Transporter wieder auf das Schiff zu, und Gurronsevas wandte sich gerade ab, um sich ihr anzuschließen, als sich Remrath noch einmal zu Wort meldete. „Tawsar würde sich ebenfalls freuen, wenn Sie uns wieder besuchten, um den Kindern von den fremden Planeten und Lebewesen und von den Wundern zu erzählen, die Sie gesehen haben“, sagte er. „Doch über Ihre Arbeit in der Küche dürfen Sie nur mir berichten, damit nicht wieder einer Ihrer Einfalle bezüglich des Essens bei jemandem zu psychischer Erregung oder Übelkeit führt.“ Der Tralthaner war gerade noch in der Lage, die eigene psychische Erregung unter Kontrolle zu halten, die durch die Erschütterung und die Wut darüber hervorgerufen wurde, daß es jemand auch nur anzudeuten wagte, der große Gurronsevas sei imstande, eine Mahlzeit zuzubereiten, von der irgend jemandem übel werden könne, bevor er in den näheren Bereich von Priliclas empathischen Fähigkeiten geriet. Als er aufs Unfalldeck der Rhabwar zurückkehrte, hatte Naydrad die Proben bereits ausgeladen und machte sich gerade am Essensspender zu schaffen, wobei sich ihr Fell schon im voraus kräuselte, während Danalta völlig unbegreifliche Dinge an der Analysatorkonsole trieb. Gurronsevas blickte sich nach Prilicla um, doch die Pathologin beantwortete ihm seine Frage, bevor er sie überhaupt stellen konnte. „Wie Sie wahrscheinlich wissen, sind Cinrussker nicht gerade ausdauernd“, erklärte Murchison lächelnd. „Prilicla schläft seit vier Stunden, und wir bemühen uns, unsere emotionale Ausstrahlung nicht zu stark werden zu lassen. Sie haben einen langen Tag hinter sich, Gurronsevas. Brauchen Sie was zu essen oder Schlaf oder beides?“ „Weder noch“, antwortete der Tralthaner. „Was ich brauche, sind Informationen.“ „Brauchen wir die nicht alle?“ entgegnete Murchison stirnrunzelnd. „Was wollen Sie denn genau wissen?“ Gurronsevas beantwortete die Frage so präzise wie möglich. Dafür brauchte er eine ganze Weile, und Murchison wollte ihm gerade die gewünschten Auskünfte erteilen, als Prilicla hereingeflogen kam, um sich zu ihnen zu gesellen. Mit einem seiner zierlichen Greiforgane gab er der Pathologin das Zeichen fortzufahren. „Zuerst zu Ihren Fragen bezüglich der Untersuchung der Wemarer Pflanzen auf die Verträglichkeit für die Klassifikation FGLI, also Ihre eigene, und für die einheimischen DHCGs“, begann Murchison in forschem Ton. „Von Tawsar haben wir mehr physiologische Daten erhalten, als ihr bewußt war. Obwohl wir noch viele Fragen zur inneren Sekretion der Wemarer haben sowie zu den festgestellten Anzeichen für einen möglichen entwicklungsgeschichtlichen Sprung im Bereich des Wechsels vom Pflanzen- zum Fleischfresser — oder vielleicht auch zum Allesfresser—, der in der Pubertät stattfindet, müßte uns dies alles klar werden, wenn wir mehr. Tut mir leid, Gurronsevas, dieser Teil der Untersuchung ist ein medizinisches Spezialgebiet und für Sie nicht von Interesse. Was wir Ihnen mitteilen können, ist, daß unsere Untersuchungen des Zungenaufbaus und die Speichelanalyse auf das Vorhandensein eines Geschmackssinns und eines Vorverdauungssystems im Mund hindeuten, das in den meisten Beziehungen demjenigen ähnelt, das man bei der Mehrheit der warmblütigen sauerstoffatmenden Lebensformen einschließlich Ihrer eigenen vorfindet“, fuhr die Pathologin fort. „Wenn Sie die Pflanzen, die Sie gesammelt haben, bestimmen und mit einem Anhänger versehen und uns ein paar Stunden Zeit geben, um uns damit zu beschäftigen, werden wir in der Lage sein, Ihnen mit einem recht hohen Maß an Gewißheit zu sagen, welche Pflanzen oder Pflanzenteile — wie etwa Wurzeln, Stiele, Blätter oder die Frucht — die Wemarer und Sie selbst essen können und welche mehr oder weniger giftig sind. Da Stoffe, die wir als giftig einstufen, wenn man sie direkt in den Blutkreislauf bringt, oft durch die normalen Entgiftungsprozesse bei der Verdauung unschädlich gemacht werden, ist es unwahrscheinlich, daß Sie einen Wemarer oder sich selbst vergiften, wenn Sie die untersuchten Pflanzen zuerst nur in geringen Mengen verwenden. Dasselbe gilt für alle Nahrungsmittel, die der Synthesizer der Rhabwar für die Wemarer herstellt. Wie die einzelnen Pflanzenproben genau schmecken, können wir Ihnen nicht sagen“, setzte Murchison ihre Ausführungen fort. „Zwar zeigt die chemische Zusammensetzung an, ob die betreffende Pflanze einen kräftigen oder faden Geschmack hat, aber nicht, ob dieser Geschmack den Wemarern angenehm oder unangenehm sein wird. Wie Sie selbst besser als irgend jemand sonst an Bord wissen, ist Geschmack eine Frage der persönlichen Vorliebe und schon bei Mitgliedern ein und derselben Spezies vollkommen verschieden, ganz zu schweigen von denjenigen mit einer völlig anderen Evolution.“ „Mir scheint, ich werde den Gaumen der Wemarer umerziehen müssen“, merkte Gurronsevas an. Murchison lachte. „Zum Glück ist das nicht mein Problem. Wollen Sie sonst noch etwas wissen?“ „Danke, ja“, antwortete Gurronsevas und richtete sämtliche Augen auf Prilicla. „Doch dabei geht es weder um eine medizinische Angelegenheit, noch um eine, die etwas mit der Esse^z^ere^^ zu tun hat. Ich würde gerne wissen, wieviel Zeit ich für die Bewältigung dieses Problems habe. Das momentan freundliche Verhältnis zu den Wemarern in der Mine könnte sich rasch ändern, sobald die Jagdgruppe zurückkehrt. Wann wird die eintreffen?“ „Das zu wissen wäre für uns ebenfalls nützlich“, entgegnete der Chefarzt. „Freund Fletcher?“ „Es gibt da ein kleines Problem, Doktor“, verkündete die Stimme des Captains aus dem Wandlautsprecher. „Die Tremaar hat ihre Überwachung auf ein kreisförmiges Gebiet mit einem Radius von achtzig Kilometern rings um die Mine konzentriert und keine Spur von den Jägern entdeckt. Außerhalb dieses Umkreises ist die Planetenoberfläche uneben und bewaldet, und dadurch entstehen große Gebiete, die einen natürlichen Schutz bieten, so daß die Beobachtungen der Tremaar alles andere als zuverlässig sind. Zwar werden noch weitere Siedlungen überwacht, aber die nächste liegt etwa fünfhundert Kilometer entfernt am Ufer eines Gebirgssees. Wegen der Abneigung der Wemarer gegen das Sonnenlicht glaubt man auf der Tremaar, daß sie möglicherweise nachts marschieren und sich tagsüber an einer Stelle ausruhen, an der man sie nicht sehen kann. Ob nun das eine oder das andere zutrifft, die Jäger haben jedenfalls keine tragbare Ausrüstung mit einer Strahlungssignatur dabei, die den Sensoren im Orbit ihren Aufenthaltsort verraten würde. Aber ich könnte unser unbemanntes Aufklärungsflugzeug für Verletzte hochschicken“, fuhr Fletcher fort. „Das spürt auch das geringste Lebenszeichen auf, selbst wenn es kurz vorm Erlöschen ist. Es wird den Boden aus geringer Höhe auf einem spiralförmigen Kurs absuchen, und sofern nicht sämtliche Jäger tot sind, werden Sie die Gruppenstärke, die Marschgeschwindigkeit und die geschätzte Ankunftszeit bis auf einen oder zwei Tage genau erfahren — das hängt davon ab, wie weit die Gruppe im Moment entfernt ist.“ „Schicken Sie das Flugzeug bitte sofort los“, forderte ihn Prilicla auf. Dann flog er näher an Gurronsevas heran und sagte: „Ich kann Ihre Befriedigung spüren, mein Freund, aber wir anderen sind mit unseren Fortschritten alles andere als zufrieden. Schließlich sind wir nur ein kleines und für diese Aufgabe ungewöhnlich ausgerüstetes medizinisches Team. Wir haben zu wenige Mitarbeiter, um die Krankheiten eines ganzen Planeten zu heilen.“ „Dafür sind wir aber äußerst bescheiden“, warf Naydrad ein, wobei sie sich vom Essensspender zu den anderen umsah. „…sollten jedoch imstande sein, die Schwierigkeiten einer kleinen, isolierten Bevölkerungsgruppe zu beheben. Aber unser Kontakt läuft nicht gut. Aus Ihren Gesprächen mit Remrath sind die Gründe für die Scham klargeworden, die er als Erwachsener empfindet, weil er gezwungen ist, Kindernahrung zu essen. Tawsar hingegen widerstrebt es noch immer, uns in bestimmten, für das volle Verständnis wichtigen Bereichen Auskünfte zu erteilen. Nur in der Küche der Wemarer werden auf der gemeinsamen Basis der Kochkunst Fortschritte erzielt. Das ist zweifellos der erste Fall dieser Art in der Geschichte der Erstkontaktverfahren, Chefdiätist Gurronsevas.“ Der Tralthaner entgegnete nichts. Er freute sich sowohl über das unerwartete Kompliment als auch über den Gebrauch seines Titels in Verbindung damit, und er wußte, daß auch Prilicla seine Freude spürte. „Wir haben Remraths Einladung an Sie mitgehört“, sagte Prilicla. „Was haben Sie nun vor?“ „Ich würde gern morgen zur gleichen Zeit in die Mine zurückkehren“, antwortete Gurronsevas. „Bis dahin werden die genießbaren Pflanzen analysiert und bestimmt sein, und ich werde genug wissen, um ein paar Experimente mit dem Essen anzustellen, während ich mich mit Remrath unterhalte und ihm in der Küche helfe. Doch ein persönlicher Schutz ist nicht erforderlich. Ich fühle mich bei der Arbeit dort drinnen sehr wohl.“ Daß er sich in Remraths dampfenden und qualmenden und insgesamt primitiven Küche heimischer fühlte als inmitten der blitzenden, keimfreien medizinischen Ausstattung auf dem Unfalldeck, fügte er nicht hinzu. „Ich bin mir Ihrer Empfindungen durchaus bewußt, mein Freund“, sagte der Empath in sanftem Ton. „Doch ich wäre glücklicher, wenn Danalta Sie begleiten würde. Er könnte Ihnen nicht nur unmittelbar helfen, sondern stünde auch bei einem medizinischen Notfall sofort zur Verfügung. Statistiken zufolge ist die Küche der Ort, in dem die zweitgrößte Wahrscheinlichkeit für einen Unfall besteht.“ „Insbesondere in der Küche eines Haufens von Kannibalen“, warf Naydrad ein. „Ganz wie Sie wollen, Doktor“, willigte Gurronsevas ein, wobei er die Oberschwester einfach überhörte. „Darf ich Remraths Gastfreundschaft erwidern und ihn hierher einladen?“ „Selbstverständlich“, stimmte Prilicla sofort zu. „Aber seien Sie vorsichtig. Dieselbe Einladung haben wir schon gegenüber Tawsar ausgesprochen, die sie heftig abgelehnt hat. Tawsars emotionale Ausstrahlung war in diesem Moment sehr kompliziert und intensiv und sogar unfreundlich. Remrath könnte in gleicher Weise reagieren. Deshalb müssen wir auch mit Ihnen erst die Gesamtsituation hier auf Wemar besprechen — die Tatsachen also, die uns bekannt sind, und unsere Vermutungen, die darauf beruhen—, bevor Sie sich wieder mit Remrath unterhalten können“, fuhr der Cinrussker fort. „Da man uns gegenüber aus irgendeinem unbekannten Grund ein Gefühl der Abneigung oder des Mißtrauens entgegenbringt, sind Sie derjenige, der unsere vielversprechendste Verbindung mit den Wemarern aufrechterhält. Dieser Kontakt darf natürlich nicht versehentlich abreißen, nur weil wir Sie nicht mit allen verfügbaren Informationen versehen haben.“ Ich bin Koch und kein Arzt oder Kontaktspezialist für fremde Spezies, dachte Gurronsevas. Doch jetzt behandelte man ihn offenbar so, als würde er alle drei Berufe auf einmal bekleiden. Das ließ seltsam angenehme Empfindungen in ihm aufkommen, und er war kein bißchen ängstlich. „Wir werden Ihre Gespräche mit Remrath in der Mine und im Freien zwar weiterhin verfolgen und aufzeichnen, halten es aber nicht mehr für notwendig, Sie mit überflüssigen Ratschlägen abzulenken“, setzte Prilicla seine Ausführungen in beruhigendem Ton fort. „Sollte sich ein Notfall ereignen, werden wir natürlich schnell reagieren, und unser Schweigen wird dann nicht bedeuten, daß wir Sie vergessen haben. Über die persönlichen Sicherheitsmaßnahmen werden wir Sie in den genauen Instruktionen unterrichten.“ „Vielen Dank“, sagte Gurronsevas. „Sie brauchen sich keine Sorgen zu machen, mein Freund, weder um Ihre Sicherheit noch um Ihre Fähigkeit, mit der Aufgabe fertig zu werden“, beruhigte ihn der Empath. „Sie haben bereits gute Arbeit geleistet und werden das auch weiterhin tun. Allerdings finde ich es schon etwas merkwürdig, daß sich ein Fachmann von Ihrer Bedeutung noch nicht wegen der niedrigen Dienste, die er hier verrichtet, beklagt hat und auch nicht viel mehr als eine ganz leichte und vorübergehende emotionale Anspannung verspürt hat. Schließlich behandelt man Sie hier auf Wemar nicht mit dem Respekt, der Ihnen gebührt.“ „Auf Wemar muß ich mir den Respekt erst noch verdienen“, stellte Gurronsevas klar. 25. Kapitel Fletchers mit Sensoren ausgerüstetes Aufklärungsflugzeug entdeckte aus geringer Höhe eine Gruppe von dreiundvierzig erwachsenen Wemarern, die sich in Richtung Mine bewegten, sich aber schätzungsweise noch in einer Entfernung von neun Tagesmärschen befanden, und übermittelte Bilder von ihnen zur Rhabwar. Die Wemarer sprangen nicht voran, sondern gingen nur, weil vier von ihnen einen fünften auf einer Trage mitschleppten, die man aus dünnen, geraden, von allen Zweigen befreiten Ästen angefertigt hatte. Jeweils zwei kleine Tiere von etwa einem Fünftel der Körpergröße eines Wemarers wurden zwischen zwei Jägern, die ein doppeltes Seil am Hals der Tiere befestigt hatten, sowohl vorangetrieben als auch hinterhergezogen. Bis auf den kranken oder verletzten DHCG auf der Bahre waren alle Jäger mit Tornistern ausgestattet, die schlaff vom Rücken herabhingen. Ganz offensichtlich war die Jagd nicht erfolgreich gewesen. Ob oder wann Gurronsevas diese Bilder Remrath zeigen wollte, hatte man ihm selbst überlassen. Die Nachricht von der Ankunft der Jagdgruppe hätte einen störenden Einfluß auf das sich ständig verbessernde Verhältnis zu Remrath haben können. Seit ihrem gemeinsamen Ausflug durchs Tal hatte es dem Chefkoch nie an Worten gefehlt, insbesondere wenn es sich, wie jetzt, um kritische handelte. „Das ist völlig albern und kindisch!“ protestierte Remrath voller Ungeduld. „Gurronsevas, wie oft muß ich Ihnen denn noch sagen, daß wir Gemüse nicht aus freien Stücken essen, sondern nur, weil wir durch den drohenden Hungertod dazu gezwungen sind? Kalt oder warm, roh oder gekocht, in welcher Form es auch immer zubereitet wird, es bleibt Gemüse. Gut, es sieht hübsch aus, wie Sie es auf dem Teller arrangieren, das gebe ich ja zu, aber Kinder finden es angenehmer, hübsche Muster zu legen, indem sie farbige Steine und Holzstücke auf ihren Schultischen herumschieben, als mit ungekochten Gemüsehappen auf dem Teller herumzumanschen. Was soll das? Sie erwarten doch wohl von niemandem, daß er tatsächlich dieses Zeug ißt, oder?“ „Es handelt sich um einen Salat“, erklärte Gurronsevas ruhig und nachsichtig, um zu versuchen, der Ungeduld des Chefkochs entgegenzuwirken. „Wenn Sie ihn genau betrachten, werden Sie feststellen, daß er sich aus geringen Mengen bekannter Pflanzenarten Ihres Planeten in ungewohnten Formen zusammensetzt, da ich sie in Würfel, Scheiben und Streifen geschnitten habe. Angemacht ist das Ganze mit ein wenig Dressing, das aus den Keimen Ihres Vries besteht, die ich zerdrückt und mit dem Saft unreifer Moosbeeren gemischt habe, damit es den nötigen Geschmack bekommt. Zu guter Letzt habe ich den Salat zu einem optisch interessanten Muster arrangiert. Die Crillknospen kann man, falls man will, ebenfalls essen, und wenn der Salat schließlich auf den Tisch kommt, werden sie sich bereits geöffnet haben, doch in erster Linie sind sie als Verzierung gedacht und sollen das Aroma steigern. Daß der Reiz einer Mahlzeit nicht nur im Geschmack, sondern auch im Aussehen und Duft liegt, habe ich Ihnen ja schon erklärt — und das gilt auch für die anderen beiden Gänge des Menüs, die dort auf dem Tablett stehen. Bitte probieren Sie den Salat mal“, forderte er Remrath auf. „Ich habe selbst alle drei Gänge gegessen, ohne Schaden zu nehmen, und trotz der für mich ungewohnten Zutaten einiges vom Geschmack her als recht angenehm gefunden.“ Das ist allerdings nicht ganz wahr, dachte Gurronsevas insgeheim, denn während der ersten Experimente mit Wemarer Pflanzen war auf die anfängliche Freude schnell eine Magenverstimmung gefolgt. Doch wie er sich vor Augen hielt, hatten alle Leute, die glaubten, unbedingt zu viel von der Wahrheit ausplaudern zu müssen, in der Geschichte aller Planeten schon immer eine Unmenge Probleme verursacht. „Jetzt probieren Sie doch mal, dann werden Sie schon sehen“, wiederholte er. „Ich verstehe nicht, weshalb es drei verschiedene Gerichte geben muß“, wandte Remrath ein. „Wieso mischen wir nicht einfach alle drei miteinander?“ Allein bei der Vorstellung lief Gurronsevas schon ein kleiner, unmerklicher Ekelschauer über den breiten Rücken. Diese Frage hatte er bereits beantwortet, und er vermutete, daß Remrath lediglich eine Verzögerungstaktik verfolgte, mit der Erfolg zu haben der Wemarer in seiner Rolle als Kochgehilfe nicht hoffen konnte. Vielleicht sollte ich die Frage ein zweites Mal beantworten, sagte sich Gurronsevas, um dieses Mal bei meinem Kollegen auch den letzten Zweifel über meine Absichten auszuräumen. „Bei allen intelligenten Spezies, die ich kenne, ist es üblich, Mahlzeiten zuzubereiten und zu servieren, die aus mehreren miteinander kontrastierenden oder sich ergänzenden einzelnen Gerichten oder Gängen bestehen“, erklärte er geduldig. „Dies liegt daran, daß man das Essen für eine Gaumenfreude hält, die zu bestimmten Zeiten subtil und recht lange anhaltend und zu anderen Zeiten eher herzhaft und intensiv sein kann. Die Zutaten der unterschiedlichen Gänge werden so ausgewählt, daß sie innerhalb eines einzelnen Gerichts dieselbe Funktion einer Gesamtmahlzeit in kleinerem Maßstab erfüllen. Ein Menü kann aus vielen verschiedenen Gängen bestehen, aus fünf oder elf oder sogar noch mehr, so daß es beispielsweise möglich ist, vier Stunden zu speisen“, fuhr er begeistert fort. „Bei den größeren und vielschichtigeren Menüs, die oft die politische und psychologische Nebenfunktion erfüllen, die Gäste mit dem Reichtum des Gastgebers, der Organisation oder der Bevölkerungsgruppe zu beeindrucken, wird vom Speisenden nicht erwartet, alles zu essen, was ihm vorgesetzt wird. Versucht er es trotzdem, ergeben sich für ihn daraus starke Verdauungsbeschwerden. Ich persönlich bin nicht für solche überreichlichen und verschwenderischen Festgelage, da ich die Qualität der Quantität vorziehe. Wie dem auch sei, ich bereite jeden einzelnen Gang mit peinlicher Sorgfalt zu und serviere ihn mit den geeigneten.“ „Ihr Fremdweltler vergeudet in eurem Leben offenbar furchtbar viel Zeit mit Essen“, fiel ihm Remrath ins Wort. „Woher nehmt ihr da noch die Zeit, Raumschiffe und Fahrzeuge, die über dem Boden schweben, und eure anderen technischen Wunderwerke zu bauen?“ „Diese Sachen benutzen wir, ohne ihre Funktionsweise verstehen zu müssen“, antwortete Gurronsevas. „Sie sind nicht zur Zeitverschwendung, sondern zur Zeitersparnis gebaut worden, damit wir mehr Zeit haben, die anhaltenden Freuden des Lebens zu genießen, wie zum Beispiel das Essen.“ Remraths Entgegnung ließ sich nicht übersetzen. „Sicherlich gibt es auch noch andere Genüsse“, räumte Gurronsevas ein, „insbesondere diejenigen, die mit der Fortpflanzung zusammenhängen. Aber denen kann man sich nicht ständig oder oft hingeben, ohne eine schwere Entkräftung oder einen anderen gesundheitlichen Nachteil zu riskieren. Dasselbe gilt für aufregende oder gefährliche Betätigungen wie beispielsweise Bergsteigen, Tiefseetauchen oder Segelfliegen. Das hauptsächlich Aufregende an derartigen Beschäftigungen ist, daß der Betreffende in einer Situation, die durchaus lebensbedrohlich werden kann, all seinen Wagemut und sein ganzes Geschick aufbieten muß. Zwar läßt das für diese Aktivitäten erforderliche Zusammenspiel von Geist und Körper mit zunehmendem Alter nach, doch dafür nimmt das Vergnügen an gutem Essen und Trinken im Alter mit der Gewohnheit zu. Und dabei handelt es sich um Freuden, die man immer wieder bis zum Überdruß genießen kann und die das Leben womöglich erheblich verlängern, wenn man die geeigneten Speisen regelmäßig und in der richtigen Menge zu sich nimmt.“ „Dieses Grünzeug zu essen, ungekochte Pflanzen zu verzehren, erhält das meinen Körper etwa jung und frisch?“ fragte Remrath leise. „Wenn man sie von Kindsbeinen an und das ganze Erwachsenenalter hindurch ißt, bleibt man viel länger wesentlich jünger und frischer“, antwortete Gurronsevas. „Insbesondere, wenn man lernt, sich ausschließlich pflanzlich zu ernähren, so wie ich es vorziehe. Unsere Ärzte sind ebenfalls dieser Meinung, und ich verfüge über Erfahrungen als Koch für alte Leute, bei denen sich das bewahrheitet hat. Aber ich darf Sie nicht anlügen. Ihre Eßgewohnheiten zu ändern bedeutet für Sie und Ihr Volk keineswegs das ewige Leben.“ Remrath wandte seine Aufmerksamkeit wieder dem Tablett mit den einzelnen Gerichten zu, die Gurronsevas mit solcher Sorgfalt zubereitet hatte, und sagte dann griesgrämig: „Wenn man dafür dieses Zeug essen müßte, wäre auch niemand scharf darauf.“ Gurronsevas dachte daran, daß er sich in seiner Eigenschaft als Koch in seinem ganzen Leben noch nicht so viele Beleidigungen hatte anhören müssen wie seit seiner Ankunft auf Wemar. Er deutete aufs Tablett und kehrte zum eigentlichen Thema zurück. „Wie ich schon sagte, besteht ein Menü normalerweise aus drei Gängen“, erklärte er. „Beim ersten, den ich Ihnen bereits beschrieben habe, handelt es sich um eine kleine, frisch schmeckende Vorspeise, die den Appetit nicht stillen, sondern lediglich anregen soll. Auf diesen Gang folgt der zweite, der gehaltvoller, von den Zutaten her abwechslungsreicher und, wie Sie sehen können, wesentlich umfangreicher ist. Auch hier spielt das Aussehen eine wichtige Rolle, und Sie werden die meisten der verwendeten Gemüsesorten erkennen, wenn Sie es auch sicherlich nicht gewohnt sind, sie in dieser nicht ganz gar gekochten Form zu sehen. Das habe ich deshalb gemacht, um jedes Gemüse für sich allein auf den Teller legen zu können, wodurch nicht nur die optische Wirkung gesteigert wird, sondern auch alle Sorten den eigenen Geschmack behalten, der schwächer oder sogar ganz verlorengehen würde, wenn man sie zu einem Eintopf vermischt. Was Ihren Eintopf betrifft, verwenden Sie in erster Linie Orrogne. Das ist, wenn Sie mir die Bemerkung verzeihen, ein besonders fades und unschmackhaftes Gemüse, das ich in Scheiben geschnitten und ohne Flüssigkeit gekocht habe — diesen Vorgang nennen wir „schmoren“—, nachdem es von mir, um ein Anbrennen zu vermeiden, mit ein wenig Öl aus zerdrückten Glänzbeeren eingepinselt worden ist, die Sie offenbar überhaupt nicht als Nahrungsmittel betrachten. Der Geschmack der Orrogne bleibt zwar derselbe, doch ich glaube, mit der knusprigen Oberfläche, die von einem dünnen Fettfilm überzogen ist, werden Sie das Gemüse interessanter zu essen finden.“ „Zumindest riecht es interessant“, räumte Remrath ein, wobei er sich übers Tablett beugte und geräuschvoll durch die Nase einatmete. „…insbesondere in Verbindung mit der dickflüssigen dunkelroten Gewürztunke, die ich ebenfalls aus hier wachsenden. Nein, essen Sie die nicht so mit dem Löffel ohne etwas dazu! Nehmen Sie Ihren Eßspieß, stechen Sie ihn in einen Happen Gemüse und tupfen Sie damit leicht gegen die Tunke. Sie hat Ähnlichkeit mit dem kelgianischen Sarkun oder dem scharfen Senf von der Erde und brennt wirklich sehr stark auf der Zunge.“ „Mann, ist die scharf!“ rief Remrath, wobei er nach einem der beiden Becher auf dem Tablett griff und den Inhalt in Windeseile hinunterstürzte, bevor er hinzufügte: „Großer Corel! Mein ganzer Mund brennt davon! Aber. aber was haben Sie denn mit dem Wasser angestellt?“ „Entweder habe ich die Empfindlichkeit des Wemarer Gaumens falsch eingeschätzt, oder ich muß weniger gemahlene Cresselwurzeln nehmen“, sagte Gurronsevas in entschuldigendem Ton. „Vielleicht müssen Sie aber auch erst mal Geschmack an der Tunke finden, wie es bei allen neuen Gewürzen ist. Dem Wasser in den Bechern habe ich mit dem Saft von zwei verschiedenen Beerenarten etwas Geschmack gegeben, wobei der eine Saft eine bittere und der andere eine etwas süßere und würzigere Note hat. Wie die Beeren bei Ihnen heißen, weiß ich nicht, weil Sie sie nicht in der Küche verwenden, aber die Ärzte auf dem Schiff haben mir versichert, daß sie für die Wemarer unschädlich sind.“ Remrath entgegnete nichts. Mit dem Eßspieß hatte er ein zweites Stück geschmorte Orrogne aufgepickt und tupfte es vorsichtig in die Tunke. Mit der anderen Hand hielt er sich den Becher dicht vor den Mund, als wolle er bereit sein, sofort einen weiteren Brand zu löschen. „Ihr Gebirgsquellwasser ist zwar kühl und frisch und stellt ein angenehmes flüssiges Beiwerk zu einer Mahlzeit dar“, fuhr Gurronsevas fort, „aber wenn es dann endlich getrunken wird, ist es längst lauwarm und geschmacklich uninteressant geworden. Die Zugabe der Beerensäfte ist ein Versuch, dem Wasser einen Reiz zu verleihen, der nicht allein auf der niedrigen Temperatur beruht, sondern den Geschmackssinn hoffentlich zu einer größeren kritischen Würdigung des gleichzeitig gereichten Essens anregt. Auf vielen Planeten wird als Getränk zu Mahlzeiten Wein bevorzugt. Dabei handelt es sich um eine Flüssigkeit, die in wechselndem Verhältnis einen chemischen Stoff namens Alkohol enthält, der bei der Gärung bestimmter Pflanzenarten entsteht. Es gibt viele verschiedene Weine, die man zur Ergänzung und Betonung des Geschmacks eines Gerichts oder einzelnen Gangs servieren kann, doch hier auf Wemar bin ich, was die Erzeugung von Alkohol betrifft, auf Schwierigkeiten gestoßen, durch die ich gezwungen war, den Versuch aufzugeben.“ Zwar wuchsen auf Wemar mehrere Pflanzen, bei deren Gärung Alkohol entstanden wäre, doch die Probleme waren eher philosophischer als physikalischer Natur gewesen. Soweit das medizinische Team wußte, war die Verwendung von Alkohol in Getränken auf Wemar nicht bekannt, und man wollte nicht dafür verantwortlich sein, ihn auf diesem Planeten eingeführt zu haben. Besonders vehemente Einwände hatte die Pathologin Murchison erhoben, wobei sie sich auf das Beispiel einer frühen terrestrischen Kultur, nämlich der der amerikanischen Indianer, berief, die durch übermäßigen Alkoholgenuß praktisch zerstört worden war, weil die Indianer keinerlei Erfahrung mit der den Kopf benebelnden und zu Stimmungsänderungen führenden Wirkung gehabt hatten. Prilicla hatte ihr, wenn auch nur unter Vorbehalten, zugestimmt, da die Wemarer in ihrer momentanen Lage schon vor genügend Problemen standen. „Den dritten Gang bezeichnen wir als „Nachtisch“ oder „Süßspeise““, führte Gurronsevas seine Erklärungen fort. „Dabei handelt es sich wiederum um eine kleine Portion, um einen angenehmen Abschiedsgruß an den Magen, der zu diesem Zeitpunkt schon fast bis zum Rand gefüllt ist. Dieser Nachtisch hier ist aus gehackten Crettohalmen zubereitet, die ich gekocht habe, bis das Wasser verdampft gewesen und eine dickliche, geschmeidige und geschmacksneutrale Paste zurückgeblieben ist, in der sich jetzt einige entkernte Denbeeren, gewürfelte Mattos und ein paar andere Zutaten verbergen, die ich Ihnen noch nicht verraten möchte. Bitte probieren Sie mal. Sie werden sich zwar nicht die Zunge verbrennen, aber ich glaube, Sie werden überrascht sein.“ „Moment mal!“ widersprach Remrath. Er hatte den Becher abgestellt und fuhr gerade behutsam mit dem bereits fünften Stück Orrogne durch die schmackhafte Tunke. „Ich bin mir nämlich noch nicht einmal darüber im klaren, wie groß meine Abneigung gegen dieses Zeug hier ist.“ „Lassen Sie sich ruhig Zeit“, entgegnete Gurronsevas und fuhr dann fort: „Statt eines kalten Salats kann die Vorspeise auch aus einer heißen Suppe bestehen. Von der Konsistenz und vom Geschmack her liegt so etwas zwischen einem gewürzten Getränk und einem sehr dünnen Eintopf. Neben einem geringen Gemüseanteil sind in einer Suppe zur Abwandlung des Geschmacks auch ganz winzige Mengen von Krautern und Gewürzen enthalten. Zur Zeit experimentiere ich noch mit verschiedenen Mischungen aus Ihren Krautern und Gewürzen herum, doch ich möchte keinesfalls, daß Sie das Ergebnis eines erfolglosen Versuchs probieren. Offenbar sind Sie sich der vielen genießbaren Krauter und Gewürze, die im Tal wachsen, gar nicht bewußt“, klärte er den Chefkoch auf. „Den Großteil davon haben unsere Ärzte als ungefährlich und sogar als wohltuend für die Wemarer und auch für mich eingestuft. Leider bestehen zwischen den Wemarern und den Tralthanern feine Unterschiede, was die Geschmacksrichtung und — Sensibilität angeht, und diese Unterschiede zu beseitigen ist wichtig, damit ich weitere Vorschläge machen kann.“ Remrath legte den Eßspieß beiseite und tauchte nun den Löffel vorsichtig in die Süßspeise. Der Teller mit dem Hauptgericht, das aus ziemlich kleinen Portionen bestand, war bereits halb leer. „Sie haben gesagt, in der Mine würde es nachts sehr kalt und feucht werden, wenn starker Regen in die Belüftungsschächte dringt“, kam Gurronsevas auf ein neues Thema zu sprechen. „Die jungen Wemarer stört das nicht, aber die Lehrer schon. Einer meiner Vorschläge lautet, daß die Lehrer das zum Abendbrot servierte Wasser erhitzen — falls Ihre Brennstoffvorräte das zulassen—, damit sie sich wärmer fühlen, wenn sie sich schlafen legen. Noch besser wäre es, wenn sie vor dem Schlafen eine dicke, stark gewürzte Suppe zu sich nähmen, eine die sowohl scharf als auch heiß ist. Das würde sie mehr erquicken, als unter der Decke zu bibbern, bis ihnen durch die eigene Körpertemperatur allmählich warm wird. Für Sie selbst würde das nur eine kleine Veränderung des gewohnten Arbeitsablaufs bedeuten“, fügte er hinzu, „doch bei vielen Spezies von anderen Planeten ist das abendliche Heißgetränk beziehungsweise die Suppe ein beliebter Brauch, dem man sowohl körperlich und geistig beruhigende als auch schlaffördernde Wirkung zuschreibt.“ Remrath hielt mit dem zweiten Löffel voll Süßspeise auf halbem Weg zum Mund inne und sagte: „Ja, es wäre nur eine kleine Veränderung, eine von vielen kleinen Veränderungen und Vorschlägen, die mich dazu verleitet haben, diese fremdartigen Pflanzenmischungen hier zu essen, und die mich schließlich zu wer weiß was sonst noch treiben werden. Sie haben die Absicht, uns zu helfen, und das ist der Grund, weshalb ich mich — wie auch in geringerem Maße die übrigen Lehrer — Ihren seltsamen und oftmals Übelkeit erregenden Experimenten mit den Pflanzen von Wemar aussetze. Doch vergessen Sie dabei nicht, daß wir, weil wir nicht nur alt, sondern auch hungrig sind, unsere Scham unterdrückt haben, um Ihnen entgegenzukommen, und daß die jungen Erwachsenen Ihre Hilfe am meisten benötigen und vor allem Fleisch brauchen? Gurronsevas“, schloß er, „Sie sind mit solcher Begeisterung, Energie und Zielstrebigkeit bei der Sache und tun alle Einwände mit einer derartigen Selbstverständlichkeit ab, daß Sie sich wie jemand aufführen, der seinem Lieblingshobby nachgeht.“ Der Große Gurronsevas ein Hobbykoch! empörte sich der Tralthaner zornig. Einen Moment lang war er zu wütend, um zu sprechen, und in diesem Augenblick schoß ihm ein äußerst beunruhigender Gedanke durch den Kopf. Worin bestand der Unterschied zwischen jemandem, der ein Hobby betrieb, das all seine Aufmerksamkeit in Anspruch nahm, und jemandem, der sein Leben der Vollendung einer einzigen, alles verzehrenden Tätigkeit verschrieben hatte? „Und noch eines vergessen Sie: Zwar haben sich die Lehrer — wenn auch nur widerwillig — bereit gefunden, mit Ihnen zusammenzuarbeiten, aber bei den Schülern brauchen Sie nicht damit zu rechnen“, klärte ihn Remrath auf. „Mag sein, daß bei uns das Alter den Verstand in Mitleidenschaft gezogen oder weniger widerstandsfähig gegen Argumente gemacht hat. Doch wenn Sie versuchen, die Kinder und Jugendlichen dazu zu bewegen, dieses Zeug zu essen, werden die mit Ihren sorgfältig zubereiteten experimentellen Gerichten höchstwahrscheinlich die nächste Wand oder Sie selbst bewerfen. Was wollen Sie dagegen tun?“ „Nichts“, antwortete Gurronsevas trocken. „Nichts?“ „Nichts, was die Kinder und Jugendlichen betrifft“, erläuterte Gurronsevas. „Die werden die neuen Gerichte zwar sehen, aber nicht probieren dürfen, da diese ausschließlich den Erwachsenen vorbehalten sind. An diesem Punkt werde ich erneut Ihre Mitarbeit und die der übrigen Lehrer benötigen. Wie Sie gesagt haben, speist Tawsar allein, weil sie sich schämt, gezwungenermaßen Gemüse essen zu müssen. Doch wenn man erklären würde, daß sie das nicht tut, weil sie sich dafür entschieden hat, sondern um bei wichtigen Versuchen mit Lebensrnitteln zu helfen, die die Fremdweltler durchführen, wäre das vielleicht der Vorwand, den sie braucht, um öffentlich essen zu können. Wenn die jungen Wemarer dann sehen, wie Sie alle gemeinsam die neuen Gerichte verzehren und genießen — und von letzterem bin ich immer mehr überzeugt—, wird die natürliche Neugier der Kinder die Oberhand gewinnen und zu dem Wunsch führen, die Gerichte ebenfalls zu probieren. Doch Sie werden es Ihnen trotzdem nicht erlauben. Das wird die Kinder nun immer stärker betrüben, da sie es für selbstsüchtig von Ihnen halten werden, diesen Genuß nicht mit anderen zu teilen. Sie werden schließlich darum bitten, und Sie werden sich nach und nach erweichen lassen und diesen Bitten nachgeben. Ein vorenthaltener Genuß ist nämlich ein doppelter Genuß. Ihr gegenwärtiges Küchenpersonal reicht vielleicht für das Kochen von Eintöpfen und einem seltenen Fleischgericht aus“, fuhr er fort. „Für die Zubereitung und insbesondere für das Anrichten und Dekorieren des neuen Drei-Gänge-Menüs brauchen wir allerdings viel mehr und wesentlich ffinkere Hilfskräfte. Sie wählen die entsprechende Menge aus, und das Anlernen übernehmen wir dann gemeinsam. Als besondere Vergünstigung und Belohnung für die Hilfe in der Küche dürfen diese wenigen Auserwählten während der Ausbildungszeit die neuen Gerichte essen. Wie es so die Art von Kindern und Jugendlichen ist, werden die frischgebackenen Küchengehilfen bestimmt von ihrer neuen Arbeit erzählen und vielleicht sogar gegenüber ihren weniger beliebten Freunden damit prahlen. Als Lehrer wissen Sie ganz genau, was in den Köpfen von Kindern vorgeht und wie man sie beeinflußt, Remrath. Es dürfte nicht lange dauern, bis hier alle so speisen wollen wie die Fremdweltler.“ Remrath schwieg mehrere Minuten lang, und in dieser Zeit aß er den Nachtisch auf und machte sich wieder an seine zaghaften Kostproben des allmählich abkühlenden Hauptgerichts. Bei dem bloßen Gedanken, die einzelnen Gänge eines Menü in der falschen Reihenfolge zu sich zu nehmen, zog sich Gurronsevas alles zusammen, doch er hielt sich vor Augen, daß der Chefkoch in kulinarischer Hinsicht immer noch unkultiviert war. Schließlich brach Remrath das Schweigen. „Gurronsevas“, sagte er, „Sie sind ein ganz schlauer und gerissener Grudlich.“ Zweifellos existierte letzterer Begriff ausschließlich in der Sprache der Wemarer, denn Gurronsevas’ Translator gab den Wortlaut ohne eine tralthanische Entsprechung wieder. Er vermied es absichtlich, Remrath nach einer genauen Übersetzung zu fragen; für heute hatte er genügend Beleidigungen einstecken müssen. 26. Kapitel T unterstützt durch sämtliche Möglichkeiten der medizinischen Ausrüstung der Rhabwar und die Fachkenntnis des medizinischen Teams schritt die Erziehung der Wemarer zu Feinschmeckern rasch voran. Doch der Informationsfluß strömte jetzt in beide Richtungen und war nicht mehr allein aufs Kochen beschränkt, denn dem Team wurde endlich nach und nach das volle Ausmaß des Problems von Wemar bewußt, während es die Wemarer selbst allmählich aus dem Blickwinkel der Fremdweltler betrachteten, die eine Lösung zu finden versuchten. Auf beiden Seiten schritt der Lernprozeß in zufriedenstellendem Tempo voran. Einst war Wemar ein grüner, dicht bewaldeter Planet gewesen, dessen dominante Lebensform schnell von der Stufe vor der Entwicklung von Intelligenz zu einer technisch fortschrittlichen Zivilisation aufgestiegen war, und zwar durch die herkömmliche Methode, Bündnisse zu schließen und sich regelmäßig mit der gegenseitigen Vernichtung durch zunehmend mechanische Formen der Kriegführung zu drohen. Zum Glück hatten die Wemarer nie die Kernspaltung oder — Verschmelzung entdeckt, so daß die Zivilisation unversehrt fortbestand, bis man allmählich lernte, in Frieden miteinander zu leben, und sich die Bevölkerung unkontrolliert vermehrte. Bedauerlicherweise war die Zivilisation der Wemarer in sich gekehrt und betrachtete die Naturschätze des Planeten, dessen Fauna und Flora und die nachwachsenden und fossilen Brennstoffreserven als unerschöpflich. Man besaß nicht den Scharfblick zu sehen, was man dem Planeten eigentlich antat, bis es schließlich zu spät war. Mit jeder neuen Generation verdreifachte sich die Bevölkerung auf Wemar, und mit diesem Wachstum hielt auch der Grad der Luftverschmutzung durch die energieverschlingenden und nicht mit Kernenergie betriebenen Herstellungsverfahren Schritt, bis die Ozonschicht in der Atmosphäre, die den Planeten gegen die schädlichen Anteile des Strahlenspektrums der Sonne schützte, zu guter Letzt immer stärker in Mitleidenschaft gezogen wurde. Wie beim Großteil der Planeten ohne Achsehheigüng und jahreszeitliche Temperaturwechsel wurden die Witterungsveränderungen auf Wemar allein durch die Planetenrotation hervorgerufen, weshalb das Wettergeschehen gewöhnlich unspektakulär und voraussagbar war. Als Folge davon stiegen die Schadstoffe ungehindert in die oberen Schichten der Atmosphäre auf und sammelten sich über dem Nord- und Südpol. Dort erhöhten sich die Schadstoffmengen nun und breiteten sich aus, wobei sie die Polargebiete der schützenden Ozonschicht beraubten und unerbittlich in die höheren Schichten der Stratosphäre über den stark bevölkerten gemäßigten Zonen und noch darüber hinaus vordrangen. Zwar handelte es sich dabei um einen schleichenden Vorgang, doch nach und nach erkrankte die Vegetation auf der Planetenoberfläche von den Polen bis zu den subtropischen Breitengraden und ging zum Großteil ein, genau wie die großen Tierherden, die den Wemarern als Nahrung dienten und von den sterbenden Pflanzen abhängig waren, die Fische und die Unterwasserpflanzen an den flachen Stellen vor der Küste und schließlich in zunehmendem Maße auch die Wemarer selbst, die ohne ihr begehrtes Fleisch hungern mußten. Und es kam noch schlimmer: Dieselbe Sonne, durch deren Strahlen die von den Beutetieren verzehrten Pflanzen und Gräser einst gewachsen und gediehen waren, ließ sie jetzt verdorren und absterben, und auch die Wemarer hatten wegen eigenartiger, auszehrender Haut- und Augenkrankheiten, die durch den Aufenthalt im immer lebensgefährlicheren Sonnenlicht entstanden, viele Todesfälle zu beklagen. Nach und nach brach ihre technische Zivilisation zusammen. Die stete Abnahme der Bevölkerung wurde durch immer grausamere Kriege beschleunigt, die die in den Äquatorgebieten lebenden und vergleichsweise gut genährten Reichen, die nach wie vor von einer ausreichend dicken Ozonschicht geschützt wurden, gegen die hungernden Armen in den gemäßigten Zonen führten. Im Laufe der letzten beiden Jahrhunderte hatte sich die Lage stabilisiert, da die Weltbevölkerung stark dezimiert und die von ihr verursachte Verschmutzung abgebaut worden war, so daß der schwerkranke Planet jetzt gerade mit dem Selbstheilungsprozeß begann. Die Sonne ionisierte allmählich wieder die obere Atmosphäre und erneuerte die beschädigte Ozonschicht. Mit der Zeit, vielleicht schon in vier oder fünf Generationen, wie die Besatzung der Tremaar beteuerte, würde der Heilvorgang abgeschlossen sein. Doch nur, wenn die geradezu tragisch wenigen verbliebenen Wemarer weiterhin überleben konnten und ihre Bevölkerung nicht wieder unkontrolliert wachsen ließen oder zu ihrer Unterstützung erneut die alte, umweltverschmutzende Technik einführten. „Ich sage es Ihnen noch einmal“, warnte Gurronsevas den Chefkoch in sehr ernstem Ton, „beim nächsten Selbstmordversuch könnten die Wemarer Erfolg haben.“ Remrath blickte von den Desserts, die er gerade für die Lehrer und die in der Küche helfenden Schüler zubereitete, nicht auf und grummelte verärgert: „Wir Wemarer werden nicht gerne ständig daran erinnert, daß wir auf fast kriminelle Weise dumm sind. Selbstverständlich werden wir so etwas nicht noch einmal versuchen.“ „Tut mir leid. Was ich eben gesagt habe, ist übereilt und unbesonnen gewesen, weil mir diese Sache so sehr am Herzen liegt“, entschuldigte sich Gurronsevas schnell. „Sie sind weder dumm noch kriminell, und das gilt auch für alle anderen Wemarer, die ich kenne. Das Verbrechen ist von Ihren Vorfahren begangen worden. Die haben Ihnen das Problem hinterlassen, doch diejenigen, die es jetzt lösen müssen, sind Sie und Ihr Volk.“ „Ich weiß, ich weiß“, seufzte Remrath, der immer noch nicht von seiner Beschäftigung aufsah. „Indem wir Gemüse essen?“ „Bald wird es für Sie nichts anderes mehr zu essen geben“, stellte Gurronsevas zum wiederholten Male klar. Im Laufe der vergangenen Tage waren er und Remrath sich nahegekommen wie zwei gute Bekannte, wenn nicht sogar Freunde, und diese Vertrautheit war so groß, daß Gurronsevas sich beim Aussprechen der Wahrheit nicht mehr durch das Hinzufügen von unnötigen Höflichkeitsfloskeln ablenken ließ. Diese schonungslose Aufrichtigkeit hatte anfangs Beunruhigung bei den Zuhörern auf der Rhabwar ausgelöst, die den Tralthaner nicht nur mit den neuesten Nachrichten versorgten, die sie fortwährend über die Wemarer Zivilisation herausfanden oder sich zusammenreimen konnten, sondern ihn auch ständig daran erinnerten, daß er ihre einzige wirksame Verbindung zu den DHCGs darstellte. Doch man erwartete von ihm, Remrath und den anderen Lehrern eine Situation zu erklären, die er selbst nicht voll und ganz begriff, weil er weder Arzt noch Anthropologe und nicht einmal Biologe war. Bat er um eine ausführlichere Erklärung, war es gewöhnlich die Pathologin Murchison, die ihm die fast ausschließlich medizinischen Antworten auf möglichst einfache Weise erteilte. Von entwicklungsgeschichtlichen Sprüngen oder den verschiedenen Beispielen auf anderen Planeten für den offenbaren Übergang der Wemarer von den Ernährungsgewohnheiten der Allesfresser zu denen der Fleischfresser in der Pubertät oder dem Umstand, daß auf der Erde Kaulquappen und Frösche dieselbe Umstellung durchmachten, hatte Gurronsevas überhaupt keine Ahnung, und es war ihm auch vollkommen egal. Für ihn waren Froschschenkel nichts weiter als eine kulinarische Delikatesse, die sowohl den einen oder anderen Terrestrier als auch einige Vertreter anderer Spezies mit einem kultivierten Gaumen erfreuten. Im Gegensatz zur Terrestrierin Murchison hatte Gurronsevas in seiner Kindheit nie Frösche oder Kaulquappen gefangen und in ein Einmachglas gesperrt, weil es für diese Lebensformen auf Traltha keine Entsprechungen gab. Doch zu guter Letzt war es der Pathologin gelungen, ihm den Unterschied zwischen den Verdauungssystemen von Pflanzen-, Fleisch- und Allesfressern verständlich zu machen. Bei den großen, gutes Fleisch liefernden Pflanzenfressern handelte es sich normalerweise um Wiederkäuer, die, solange sie wach waren, ständig fressen mußten, damit ihr komplizierter Magen die Nahrung umwandeln konnte; denn die Verdauung und Verwertung der Nährstoffe nahm wegen des hohen Anteils an Pflanzenfasern und wegen der wenig gehaltvollen Bestandteile sehr lange Zeit in Anspruch. Wurden diese Lebensformen von Raubtieren bedroht, konnten sie sich sehr schnell bewegen und sich manchmal durch Hörner oder Hufe schützen, doch ihnen fehlte die Geschwindigkeit und Ausdauer der Fleischfresser, die ihre Nahrung leichter umsetzen konnten und schneller als Energie zur Verfügung hatten. Nur in selten auftretenden Umweltbedingungen entwickelte sich eine Spezies von Wiederkäuern zur dominanten Lebensform eines Planeten oder erreichte einen Intelligenzgrad, der zur Bildung einer Zivilisation führte. Falls sie nicht durch Jagden ausgerottet wurden, wurden sie von den Spezies, die den jeweiligen Planeten beherrschten, zu Haustieren gemacht und als dauerhafte Nahrungsquelle gefüttert und geschützt. Eine fleischfressende Lebensform erreichte so gut wie nie die Stufe der Zusammenarbeit über den Familienkreis hinaus, die die Entwicklung einer fortschrittlichen Zivilisation ermöglichte, und auch das gelang ihr nur dann, wenn sie ihr Raubtierverhalten und die Ernährungsgewohnheiten grundlegend änderte. Allesfressende Lebensformen waren in Ernährungsfragen wesentlich anpassungsfähiger, da sie die Möglichkeit hatten, ihre Nahrung zu jagen und zu ernten oder — wenn sich ihre Anpassungsfähigkeit zur ersten Regung wirklicher Intelligenz entwickelt hatte — in Herden zu halten und anzubauen. Und wenn diesen intelligenten Allesfressern der Hungertod drohte, weil eine Ernte mißraten war oder ihre Herdentiere krank geworden und gestorben waren, fanden sie immer einen Weg zu überleben, selbst wenn sie eine Naturkatastrophe von dem Ausmaß erlitten hatten, wie sie über Wemar hereingebrochen war. Zu dem Vorgehen, das die Jäger auf Wemar zur Zeit verfolgten, gab es eine wesentlich einfachere Alternative. „Aus Instinkt oder Erfahrung haben die wenigen Tiere, die noch für die Jagd übriggeblieben sind, gelernt, sich aus dem Sonnenlicht zu halten“, fuhr Gurronsevas fort. „Ob klein oder groß, sie sind dämmerungs- oder nachtaktiv geworden, das heißt, sie verbergen sich tagsüber im Schutz tiefer Höhlen und Erdlöcher. Und da sie nur noch auf sich selbst Jagd machen können, sind sie wirklich äußerst gefährlich geworden. Wie Sie mir erzählt haben, sind Ihre Jäger häufig gezwungen, viele gefahrvolle Stunden im Sonnenschein zu verbringen, während sie durch die Schutzumhänge behindert die Tiere ausgraben oder ihnen in tiefe Höhlen folgen, weil die Tiere nachts im Vorteil sind. Was die Jäger leisten, ist harte und gefährliche Arbeit, und oftmals werden sie selbst zu Gejagten. Ein bloßer Gemüsebauer würde zwar nicht die Bewunderung und das Ansehen eines mutigen Jägers gewinnen, doch er hat eine leichtere Arbeit und eine höhere Lebenserwartung, da sich das Gemüse nicht wehrt. Solange man es nicht mit zu viel gemahlenen Cresselwurzeln serviert“, fügte er lächelnd hinzu. „Gurronsevas!“ ermahnte ihn Remrath. „Das hier ist eine ernste Angelegenheit. Die Wemarer sind immer Fleischesser gewesen.“ Plötzlich wünschte sich Gurronsevas, wieder im Orbit Hospital zu sein und Chefpsychologe O’Mara oder noch besser Padre Lioren um Rat zu diesem Problem bitten zu können. Er führte Logik gegen eine bloße Überzeugung ins Feld, unbestreitbare wissenschaftliche Fakten gegen einen Zustand, der zur Religion geworden war, und wieder einmal ging die Wissenschaft aus dieser Auseinandersetzung als Verliererin hervor, wie es bei aufstrebenden Zivilisationen so oft der Fall war. „Da haben Sie natürlich recht“, pflichtete er dem Wemarer bei. „Die Angelegenheit ist sehr ernst, und die Wemarer sind schon immer, so weit ihre Erinnerungen und Aufzeichnungen zurückreichen, Fleischesser gewesen. Vor einigen Jahrhunderten, als auf ihren Ebenen und in den Wäldern noch viele Tiere gelebt haben, die sie ohne Angst im Licht der Sonne jagen konnten, haben vermutlich nicht nur die Erwachsenen Fleisch gegessen. Ich glaube, und meine Ansicht wird von den Untersuchungen der Ärzte auf dem Schiff untermauert, die frisch entwöhnten Kleinkinder sind deshalb mit einem dünnen, mit Fleisch geschmacklich angereicherten Gemüseeintopf gefüttert worden, weil ihre jungen Mägen keine ausschließlich aus Fleisch bestehende Nahrung vertragen konnten. Dennoch werden sie schon in sehr jungem Alter — unter Berücksichtigung der geringeren Körpergröße — denselben Anteil Fleisch bekommen haben wie die Erwachsenen. Doch weder die Kleinkinder noch Sie selbst sind reine Fleischesser. Vom Körper her eignen sich die Wemarer nicht zu Bauern“, fuhr Gurronsevas fort. „Die langen Beine und Schwänze, die raschen Bewegungen und die Fähigkeit zum abrupten Richtungswechsel haben sich bei Ihrer Spezies lange vor dem Erwerb von Intelligenz wahrscheinlich deshalb entwickelt, um großen Raubtieren entwischen zu können. Bevor sich die Umweltkatastrophe auf Ihrem Planeten ereignet hat, ist Fleisch immer im Überfluß vorhanden gewesen, und Tiere zu jagen und in Herden zu halten war viel einfacher, als Gemüse anzubauen, und deshalb ist aus dem ausschließlichen Verzehr von Fleisch eine Tugend geworden. Aber als der Fleischbestand zurückgegangen ist — und jetzt werden Sie vielleicht Schwierigkeiten haben, sich mit dem, was ich sage, abzufinden—, hat sich diese Gewohnheit zur Untugend entwickelt. Natürlich sage ich das nicht aus einer sicheren Erkenntnis heraus“, sprach Gurronsevas schnell weiter, bevor ihn Remrath unterbrechen konnte, „denn über Ereignisse, die sich vor zwei oder drei Jahrhunderten zugetragen haben, kann ich nur spekulieren. Doch ich würde mal vermuten, daß man, als die Fleischknappheit allmählich ernster wurde, die kurze Zeit, in der man die Kleinkinder mit Gemüseeintopf gefüttert hat, bis zum Eintritt in die Pubertät verlängert und die Beschränkung, kein Fleisch mehr zu essen, auf die alten Erwachsenen ausgeweitet hat, die körperlich bereits die besten Jahre hinter sich hatten, vermutlich sogar auf deren eigenen Wunsch. Kurz danach konnten sich wahrscheinlich nur noch die jungen Jäger und Jägerinnen sicher sein, genügend Fleisch zum Essen zu haben, und zwar wegen der zunehmenden Gefahren, denen sie sich ausgesetzt gesehen haben, und aufgrund ihrer Bedeutung für das Überleben ihres Stamms. Und in Zeiten großer Knappheit mag man von den Jägern sogar erwartet haben, das erbeutete Fleisch für sich selbst zu behalten. Das werden sie jedoch wohl kaum aus Selbstsucht getan haben, die eigenem großen Hunger zuzuschreiben gewesen wäre“, fügte Gurronsevas hinzu. „Vielmehr wird das an der festen Überzeugung gelegen haben, daß das weitere Überleben der Spezies davon abhing, diejenigen mit Fleisch zu versorgen, die die Nahrung herangeschafft haben. Stimmt’s?“ Da die auf dem Rückweg befindlichen Jäger langsamer vorankamen als erwartet, hatte Gurronsevas Zeit gehabt, sich ein wenig mit Remraths Körpersprache und Minenspiel vertraut zu machen. Der alte Koch sah gequält und beschämt aus — Gefühle, die schnell in Zorn umschlagen konnten — und entgegnete nichts. In seinem starken Verlangen, Remrath zu helfen, bedrängte ihn Gurronsevas zu sehr. Er mußte schleunigst etwas sagen, um das Gespräch aufzuheitern, dachte er, sonst könnte die Verbindung hier und jetzt für immer abreißen. „Wenn ich Ihre Jäger höflich darum bitten würde, würden die mir dann ein bißchen von ihrem Fleisch abgeben?“ fragte er. „Schon ein kleines Stück wäre ausreichend. Was Fleischgerichte angeht, kann ich ganz schön einfallsreich sein.“ Für einen Moment hatte Remrath Atembeschwerden, doch dann gingen die Würgelaute in das dunkle Bellen über, das Gurronsevas inzwischen als das Lachen der Wemarer kannte. „Das werden die nie und nimmer tun!“ rief er laut. „Fleisch ist viel zu kostbar, als daß man es riskieren würde, es von einem gemüsekochenden Fremdweltler verderben zu lassen.“ Gurronsevas schwieg ganz bewußt. Wie er gehofft hatte, glaubte jetzt wiederum Remrath, ihn gekränkt zu haben, denn seine Stimme nahm einen entschuldigenden Unterton an. „Klar, Sie würden ein Gericht niemals absichtlich verderben“, versicherte ihm der Chefkoch schnell. „Aber Sie würden den Geschmack mit Ihren Soßen und Gewürzen vielleicht so verändern, daß man es nicht mehr als Fleisch erkennen könnte.“ Er zögerte kurz und fuhr dann fort: „Und Sie haben recht. Sofern es keine besonders erfolgreiche Jagd gewesen ist - und das ist nicht mehr der Fall gewesen, seit ich der Jagd den Rücken gekehrt habe, um als Lehrer zu arbeiten—, werden weder die Kinder noch die Alten etwas von dem Fleisch bekommen. Manchmal spart ein zurückkehrender Jäger heimlich einen Bissen für einen Lehrer oder ein Kind auf, doch ich kann mich nicht mehr daran erinnern, wann das zum letzten Mal passiert ist. Nun ist Fleisch dermaßen knapp, daß selbst die Jäger gezwungen sind, Gemüse zu essen, um auf diese Weise Portionen größer zu machen, die sonst eine äußerst karge Mahlzeit darstellen würden“, fuhr er mit einer vor Scham derart leisen Stimme fort, daß Gurronsevas sie kaum hören konnte. „Doch sie bestehen auf Fleisch, um Kraft zu bekommen, und sie kommen sich privilegiert vor, wenn der Geschmack von Fleisch vorhanden ist. Ich glaube, der Stolz treibt die Jäger häufig eher an den Rande des Hungertods und der Entkräftung, als daß er ihnen mehr Kraft gibt.“ Genau das war es, was Gurronsevas ihm schon die ganze Zeit klarzumachen versucht hatte, doch jetzt war nicht der Moment, um Punkte für die überzeugendste Argumentation zu sammeln. Folglich lachte er nur und sagte: „Dann müssen wir eben weiterhin Gemüse kochen und die Jäger ganz einfach neidisch auf den leckeren Geschmack machen.“ Remrath lachte nicht und meinte mit ernster Stimme: „Vor ein paar Tagen, bevor Sie alle dazu bringen wollten, Ihre merkwürdigen „drei Gerichte in einem“ zu essen, wäre das noch ein alberner Vorschlag gewesen, aber jetzt. Gurronsevas, neue Gemüsegerichte für die Kinder und die Alten reichen bei weitem nicht aus. Was wir brauchen, damit die Wemarer als Spezies überleben, ist Fleisch — und unsere Jäger sind schon lange überfällig.“ In bedauerndem Ton fügte er hinzu: „Muß ich Sie an das Versprechen Ihres obersten Arztes erinnern, daß uns die Fremdweltler verlassen werden, bevor die Jäger zurückkehren?“ Prilicla hatte Gurronsevas die Entscheidung überlassen, wann der beste Zeitpunkt gekommen war, um den Wemarern in der Mine zu sagen, daß sie bald mit der Ankunft der Jäger rechnen konnten, und jetzt schien der geeignete Moment dafür zu sein. Doch mit der guten Nachricht sollte er zugleich auch eindringlich darauf hinweisen, daß Veränderungen für die Wemarer unvermeidbar waren. Gurronsevas öffnete den Ranzen, den er an der Seite hängen hatte, blickte mit einem Auge hinein und suchte nach den Fotos, die das Aufklärungsflugzeug der Rhabwar geschossen hatte. „Unter Berücksichtigung der Größen- und Altersunterschiede hält die pflanzliche Ernährung sowohl die jungen als auch die alten Wemarer gesund und munter“, sagte er. „Die Ärzte auf dem Schiff, die sich mit solchen Dingen von vielen anderen Planeten her auskennen, sagen, Ihre jungen Erwachsenen würden durch dieselbe Ernährung ebenfalls leben und gedeihen und sich weiter vermehren. Fleisch zu essen ist gut für sie, da stimmen die Ärzte voll und ganz zu, aber es ist für sie nicht die einzige Quelle, aus der ihnen Gesundheit und Kraft zukommt. Nach unserer Ansicht ist das Fleischessen schon vor vielen Generationen zu einer Glaubenssache und zu einer Gewohnheit geworden, und zwar zu einer Gewohnheit, die Sie durchaus aufgeben können. Aber fangen wir nicht einen erneuten Streit an“, fügte er rasch hinzu, „denn ich habe eine gute Nachricht für Sie. Bei der momentanen Marschgeschwindigkeit, die wegen der schweren Lasten sehr langsam ist, werden Ihre Jäger übermorgen am frühen Vormittag hier eintreffen. Wenn es Fleisch ist, was Sie wollen, dann sollen Sie es bald bekommen.“ Ohne zu verraten, vor wie langer Zeit die Bilder bereits aufgenommen worden waren, erklärte er Remrath in einfachen Worten die Funktionsweise des Aufklärungsflugzeugs der Rhabwar und fing an, die Fotos vor dem Chefkoch auszubreiten. Sie waren vergrößert und von der Schärfe und dem Kontrast her verbessert worden und zeigten sämtliche Einzelheiten der fünf erjagten Tiere, die an ihren Stricken zerrten, und jede Falte in den zusammengenähten Häuten, mit denen die Trage bedeckt war, die von sechs Wemarern geschleppt wurde. Da es den ganzen Tag über stark bewölkt gewesen war, hatten die Jäger die Kapuzen und Umhänge zum Schutz gegen die Sonne zurückgebunden, so daß man jedes einzelne Gesicht deutlich erkennen konnte. Selbst für Gurronsevas war die Schärfe der Fotos beeindruckend. „Vielleicht treffen sie später als erwartet ein, weil sie fünf Tiere gefangen und eine schwere Trage zu schleppen haben“, führ er begeistert fort. „All das können Sie selbst so deutlich sehen, daß Sie bestimmt auch Ihre Freunde erkennen werden. Ich habe zwar keine Ahnung, mit wieviel Beute die Jäger normalerweise zurückkehren, aber ich glaube, ich weiß, was ein großer Fang ist.“ „Sie wissen überhaupt nichts, Gurronsevas“, widersprach Remrath mit sehr leiser Stimme. „Das ist kein großer Fang. Die Jäger sollten nicht gemächlich gehen, sondern laufen und springen, damit die toten kleinen Tiere in den Tornistern nicht vor dem Eintreffen bei der Mine verdorben sind, und statt fünf mageren Twasachjungen mehr als zwanzig große Crellan und fette, ausgewachsene Twasachs hinter sich herziehen. Aber viele der Tornister sind leer, und einen aus ihrer Gruppe schleppen sie auf der Trage mit sich, was bedeutet, daß einer der Jäger verletzt worden oder gar tot ist oder im Sterben liegt.“ „Das tut mir leid“, sagte Gurronsevas. „Wissen Sie, um wen es sich dabei.? Ist es ein Freund von Ihnen?“ Kaum hatte Gurronsevas die Frage ausgesprochen, wußte er, daß sie überflüssig gewesen war. Alle Gesichter auf den Fotos waren nämlich derart scharf und deutlich, daß Remrath den verletzten Wemarer einfach durch negative Auslese identifizieren konnte. „Es ist Creethar, ihr Anführer“, antwortete Remrath mit noch leiserer Stimme. „Ein äußerst mutiger, einfallsreicher und beliebter Jäger. Creethar ist mein jüngster Sohn.“ 27. Kapitel Tawsar stand dem Vorhaben zwar ablehnend gegenüber, hatte aber Mitleid, und Remrath war unnachgiebig, was bedeutete, daß der Chefkoch als Sieger aus der Auseinandersetzung hervorging. Doch auch so dauerte es noch drei Stunden, bevor die Rhabwar mit Remrath an Bord zu jener Sorte von Einsatz starten konnte, für den sie eigens gebaut worden war. Über die Umstände durfte man gar nicht nachdenken, selbst als medizinisch unversierter Tralthaner nicht. Und wie Gurronsevas befürchtete, mußte es für einen für Emotionen empfänglichen Empathen wie Prilicla einfach schrecklich sein. Wie er sich bei dieser Sache selbst fühlte, wußte er ganz genau, und er glaubte auch Remraths Empfindungen und die der anderen auf dem Unfalldeck zu kennen. Obwohl sie sich bestimmt alle bemühten, ihre Gefühle unter Kontrolle zu halten, mußten sie nur wenige Meter von Prilicla entfernt starke Emotionen ausstrahlen. Vielleicht war das auch der Grund, weshalb der Chefarzt seit über einer Stunde niemanden mehr mit „mein Freund“ angesprochen hatte. Bei den Wemarern war Fleisch derart knapp geworden, daß sie Gruppen von Jägern in weit entfernte Gegenden schickten, um etwas aufzutreiben. Gleichzeitig war ihr technischer Stand derart niedrig, daß sie die Beute bis zur Rückkehr zur Mine nicht lange Zeit frisch halten konnten. Deshalb bestand die einzige Möglichkeit, sie über große Entfernungen zu transportieren, darin, sie am Leben zu lassen. Wenn das gefangene Tier nicht schon tot war, versuchte es der Jäger, der es erbeutet hatte, mit Hilfe seiner Kollegen am Leben zu erhalten, damit die zarten Fleischhappen, die es später liefern sollte, beim Eintreffen noch frisch waren. Trotz des ständigen Kummers, unter dem Remrath auf dem Flug leiden mußte, und ungeachtet der Tatsache, daß seine kannibalische Spezies wenig oder nichts von den Verfahren der Heilmedizin wußte, erzählte er dem medizinischen Team, daß Creethar bis zum letztmöglichen Augenblick versuchen werde, am Leben zu bleiben, da dies als tapferer und ehrenwerter Wemarer seine Pflicht und Schuldigkeit sei. Im Moment stand Remrath vor dem Bildschirm auf dem Unfalldeck und ließ keine äußere Reaktion erkennen, als Fletcher nur wenige hundert Meter von der Jagdgruppe der Wemarer entfernt mit der Rhabwar zu einer vollen Notlandung ansetzte, die, wie sich Gurronsevas sicher war, kaum viel mehr als ein kontrollierter Absturz gewesen sein konnte. Prilicla schwebte unruhig neben ihm. Um seine Besorgnis zu verbergen, sprach Gurronsevas den Cinrussker an, als ihm plötzlich bewußt wurde, daß man einem Empathen die eigenen Gefühle nicht verheimlichen konnte. „Als ich mich Ihrer Bitte entsprechend mit Tawsar und Remrath sowohl einzeln als auch gemeinsam unterhalten habe, ist es zu Meinungsverschiedenheiten gekommen“, sagte er, wobei er den Translator so eingestellt hatte, daß er nichts ins Wemarische übersetzte. „Tawsar hat uns jede Einmischung untersagt, und Remrath ist ganz wild darauf gewesen, uns in jedweder Form entgegenzukommen. Wenn wir also versuchen, Creethar ohne Tawsars Erlaubnis zu helfen, gefährden wir dadurch womöglich unser momentan gutes Verhältnis zu den Wemarern. Doch nach dem, was ich so mitbekommen habe, mag und respektiert Tawsar den Chefkoch und Arzt und hat im Moment großes Mitleid mit ihm; darum ist das Risiko vielleicht auch nur gering. Immerhin ist Creethar Remraths jüngstes und einziges noch lebendes Kind.“ „Das haben Sie mir alles schon erzählt, und Ihren Versuch, mich zu beruhigen, weiß ich genau wie beim letzten Mal zu schätzen“, entgegnete der Cinrussker. „Aber als ranghöchster medizinischer Offizier eines Ambulanzschiffs habe ich keine Wahl. Oder beunruhigt Sie etwas anderes?“ „Ich bin mir nicht sicher“, antwortete Gurronsevas. „Offenbar gibt es Verständigungsschwierigkeiten. Da Remrath gegen Tawsars Wunsch mit uns losgeflogen ist, um die Jäger von unseren guten Absichten zu überzeugen, können wir Creethar schnell nach Hause bringen, damit er dort behandelt werden oder sterben kann — aber das will Remrath anscheinend gar nicht. Bevor er zusammen mit mir die Mine verlassen hat, müssen Sie ja mitgehört haben, wie er Tawsar sagte, als Vater stehe ihm das letzte Wort darüber zu, was mit dem verletzten Anführer der Jäger zu geschehen habe, und er wolle Creethar lieber von den Fremdweltlern so lange wie nötig im Schiff behandeln lassen als von sich selbst oder irgendeinem anderen Wemarer. Direkt hat er zu mir weiter nichts gesagt, und ich besitze nicht Ihre Fähigkeit, emotionale Ausstrahlungen zu deuten“, fuhr Gurronsevas fort. „Doch warum sollte ein Vater seinen Sohn in dieser furchtbaren Situation unter so geringen Einwänden uns überlassen, wildfremden Wesen, die er erst seit so kurzer Zeit kennt? Ich bin mir sicher, daß von ihm bei weitem nicht alles gesagt worden ist, was er gedacht und auf dem Herzen gehabt hat. Und das beunruhigt mich.“ „Ich weiß über Ihre und Remraths Empfindungen Bescheid“, sagte der Empath. „In diesem Moment nehme ich bei ihm diese Mischung aus Ungewißheit und Kummer wahr, die für den erwarteten Verlust eines geliebten Wesens charakteristisch ist, von dem er ja nicht weiß, wie schwer die Verletzungen sind und wie die Überlebenschancen stehen. Zudem sind bei ihm, von diesen stärkeren Gefühlen natürlich fast verschüttet, ein kindliches Staunen und eine starke Aufregung wegen seines ersten Flugerlebnisses zu entdecken. Bei Remrath handelt es sich um eine intelligente Persönlichkeit, die trotz der gegenwärtigen halbbarbarischen Zustände auf Wemar gebildet und aufgeschlossen ist und uns vertraut. Dieses Vertrauen haben Sie gewonnen, mein Freund, und allein aus diesem Grund werden wir in der Lage sein, Creethar mit Zustimmung seines Vaters die bestmögliche Behandlung zu gewähren. Sie haben zwar keinen Grund mehr, beunruhigt zu sein, machen sich aber trotzdem immer noch Sorgen“, schloß Prilicla. Bevor Gurronsevas etwas entgegnen konnte, spürte er einen sanften Druck der Bodenplatten gegen die Füße, da die Schwerkraftkompensatoren die Erschütterung durch die Notlandung ausgleichen mußten. Als sich die Luftschleuse des Unfalldecks öffnete, schlug ihnen warme Außenluft entgegen. Remrath stieg mit steifen Bewegungen auf den Krankentransporter, und das medizinische Team ging mit Ausnahme von Pathologin Murchison, die alles für die Aufnahme des Verletzten nach einem vorläufigen Bericht über dessen medizinischen Zustand vorbereiten wollte, die Rampe hinunter und steuerte auf die Gruppe der Jäger zu. In diesem Moment übernahm Remrath die Leitung, indem er das Team anwies, still zu sein, während er sich mit den Jägern unterhalten wollte. Ohne seine Anwesenheit, so hatte er beteuert, würde jeder Versuch der Fremdweltler, Creethar von der Trage zu holen, mit Gewißheit fehlschlagen und wahrscheinlich auf beiden Seiten viele Opfer fordern. Es sei unumgänglich, daß ein Wemarer mit Autorität zu den Jägern spreche. Das medizinische Team hatte sich notgedrungen damit einverstanden erklären müssen. Doch Gurronsevas versuchte, sich in die Lage einer Gruppe von Jägern zu versetzen, die zum ersten Mal in ihrem Leben einem Raumschiff und Fremdweltlern begegneten, die gleichermaßen absurd und furchterregend aussahen und die versuchten, jemanden aus ihrer Mitte zu holen. Er fragte sich ernsthaft, ob sein Freund Remrath womöglich altersbedingt an übersteigertem Selbstvertrauen litt. Doch Remrath redete mit den Jägern, als ob sie immer noch seine Schüler wären: in bestimmtem und beruhigendem Ton und mit Autorität. Zuerst sagte er ihnen, daß sie nichts zu befürchten hätten, und erklärte ihnen dann den Grund dafür. Er begann mit einer kurzen und sehr einfachen Lektion in Astronomie, die die Zusammensetzung der Sternsysteme, die intelligenten Lebensformen, die in einigen davon wohnen mußten, und die gewaltigen Entfernungen zwischen diesen Systemen behandelte. Daraufhin ging er zu einer gleichermaßen knappen Erörterung der viele Jahrhunderte währenden friedlichen Zusammenarbeit über, die auf den entsprechenden Planeten erforderlich gewesen war, um jenen technologischen Stand zu erreichen, der Raumfahrt erst möglich gemacht hatte. Danalta hatte die Gestalt eines Vierfüßers ohne natürliche Waffen angenommen, um keinen der Jäger zu beunruhigen. Der Verwandlungskünstler kam näher an Gurronsevas heran und murmelte: „Als uns Ihr Freund seine Hilfe angeboten hat, habe ich nicht mit etwas Derartigem gerechnet.“ „Obwohl wir über ein gemeinsames Interessengebiet verfügen, haben wir uns über andere Themen als nur übers Kochen unterhalten“, entgegnete Gurronsevas. „Ganz offensichtlich“, stellte Danalta fest. Unterdessen hatte man sich Creethar und der Trage bis auf zwanzig Meter genähert, und die Jäger machten keine Anstalten, den Weg freizugeben. „Die seltsamen Wesen rund um mich herum sind in Frieden gekommen“, verkündete Remrath gerade. „Sie wollen uns nichts tun und sind begierig, uns zu helfen. Einer von ihnen“ — er deutete auf Gurronsevas — „hat uns bereits in der Mine dadurch geholfen, daß er uns in seltsamer und außergewöhnlicher Weise, die ich jetzt aus Zeitmangel nicht beschreiben kann, mit neuen Gerichten versorgt hat. Bei den anderen handelt es sich um Ärzte mit weitreichenden Erfahrungen, die ebenfalls bereit sind, uns zu helfen. Ich habe mich entschlossen, wie es mein Recht als Vater ist, ihnen zu erlauben, ihre fortschrittliche Heilkunst an uns auszuüben. Setzt die Trage ab und nehmt die Decken herunter.“ Mit leiser, weniger autoritärer Stimme stammelte er: „Ist. ist Creethar noch am Leben?“ Ein langes Schweigen antwortete ihm. Prilicla flog voran und schwebte dann direkt über der Trage. Zwei der Jäger hoben die Speere und ein weiterer legte einen Pfeil in den Bogen und zielte auf den Empathen, ohne jedoch die Sehne vollständig zu spannen. Prilicla war sich der Gefühle von allen bewußt, beruhigte sich Gurronsevas, und würde sofort merken, falls ihn wirklich jemand anzugreifen beabsichtigte — hoffentlich noch rechtzeitig genug, um dem Geschoß ausweichen zu können. Doch Priliclas Schwebeflug war unruhig, deshalb konnte es gut sein, daß er um seine Sicherheit genauso besorgt war wie Gurronsevas. „Creethar ist am Leben“, berichtete der Empath, dessen Stimme in der Stille recht laut klang, „aber seine Lebenszeichen sind nur noch sehr schwach. Freund Remrath, wir müssen ihn sofort untersuchen und dann schnell aufs Schiff bringen. Danalta, lassen Sie uns einen Blick auf unseren Patienten werfen.“ Weitere Speere und Bogen wurden gehoben, und diesmal waren sie nicht mehr auf den äußerst zerbrechlich wirkenden Körper von Prilicla, sondern ausschließlich auf die praktisch undurchdringliche Haut des Gestaltwandlers gerichtet. Während Danalta vorsichtig die Tierhäute entfernte, die locker über die auf dem Boden liegende Trage geworfen waren, startete Remrath ein weiteres Ablenkungsmanöver, indem er vom Transporter stieg und seine Forderung wiederholte, Creethar den Fremdweltlern zu übergeben. Die Jäger drängten sich um den Chefkoch und redeten und schrien derart auf ihn ein, daß sie offenbar nichts von dem, was Prilicla, Danalta und Naydrad sagten und taten, mitbekamen. Gurronsevas strengte sich nach besten Kräften an, jedem einzelnen zuzuhören, doch die Jäger wurden immer lauter und aufgeregter, und ihre Einwände waren bald so verworren, daß er schließlich überhaupt nicht mehr folgen konnte. Seine Versuche, aus dem, was sie sagten, schlau zu werden, wurden zusätzlich durch die Fähigkeit der Wemarer erschwert, in atemberaubender Geschwindigkeit aufeinander einzureden und sich gleichzeitig zuzuhören. Kurz schaltete er auf die Schiffsfreqüenz um, damit er das Gespräch des medizinischen Teams ohne Störung durch die Wemarer verfolgen konnte. Prilicla sagte gerade: „Der Patient hat mehrfache Brüche und Fleischwunden an den Armen und in der Brust- und Bauchgegend davongetragen und weist ausgedehnte Quetsch- und Schürfwunden an beiden Seiten auf, die darauf schließen lassen, daß er im Drehen auf eine harte, unebene Oberfläche gestürzt ist, wahrscheinlich auf Steine. Wie Sie sehen können, haftet an den unverletzten Stellen noch etwas, das getrocknetem Sand oder Gesteinsstaub ähnelt, was darauf hindeutet, daß das zum Spülen der Wunden verwendete Wasser knapp war. Dem Scanner zufolge liegen außer einer Schädigung des Brustkorbs keine anderen inneren Verletzungen vor. Durch den Transport ist es zu einer weiteren Splitterung und Komplikation der Frakturen gekommen. Zudem ist ein ausgedehnter Gewebeabbau zu erkennen, aus dem sich schließen läßt, daß der Patient lange Zeit nichts getrunken und gegessen hat. Verglichen mit den normalen Lebenszeichen, die wir bei Tawsar gemessen haben, sehen die von Freund Creethar nicht gut aus. Er ist stark geschwächt und kaum bei Bewußtsein, und seine emotionale Ausstrahlung ist typisch für ein Lebewesen, das kurz vorm Tod steht. Sie sehen dasselbe wie wir, Freundin Murchison. Uns bleibt keine Zeit, um mit Creethars Freunden zu diskutieren, und vorläufig müssen wir es riskieren, ohne ihre Erlaubnis zu handeln. Danalta, Naydrad!“ fuhr er mit forscher Stimme fort. „Dehnen Sie das Schwerkraftkompensationsfeld aus, heben Sie Creethar sanft auf den Krankentransporter und erschüttern Sie seine Gliedmaßen dabei so wenig wie möglich. Wir wollen diese Frakturen ja nicht noch komplizierter machen. Sachte, ja, so ist’s gut. Jetzt schließen Sie das Kabinendach, erhöhen Sie die Innentemperatur um zehn Grad, und schalten Sie die Atmosphäre auf reinen Sauerstoff um. In fünf Minuten müßten wir wieder auf der Rhabwar sein.“ „In Ordnung“, bestätigte Murchison. „Die Instrumente für die orthopädische Behandlung und die innere Untersuchung sind bereit. Aber. aber dieser Patient ist ja völlig ausgemergelt und total ausgetrocknet. Zusätzlich zum Trauma steht er auch noch kurz davor, schlicht und ergreifend zu verhungern. Verdammt noch mal, die Behandlungsart der Wemarer ist gefühllos, ja, sogar grausam. Haben die noch nie was davon gehört, einen Bruch mit Schienen ruhigzustellen? Kümmern sich diese Leute überhaupt um ihre Verletzten?“ Gurronsevas wußte zwar, daß er kein Recht hatte, sich in eine medizinische Besprechung einzumischen, doch die Äußerungen der Pathologin hatten ihn erzürnt. Es war, als wäre er gezwungen, dabei zuzuhören, wie man einen Freund zu Unrecht kritisierte. Diese Empfindung überraschte ihn, aber sie war vorhanden, und zwar in aller Stärke. „Die Wemarer sind weder grausam noch gleichgültig“, protestierte er. „Über diesen Punkt habe ich mich mit Remrath oft unterhalten. Wie er mir erklärt hat, besteht der medizinische Beruf auf Wemar lediglich aus praktischen Ärzten, sogenannten Kochheilern und Naturheilkundigen, und das war’s. Chirurgen, wie wir sie kennen, gibt es hier nicht. Remrath glaubt zwar, daß es diesen Beruf in längst vergangenen Zeiten einmal gegeben hat, aber das Fachwissen ist längst verlorengegangen. Heutzutage kann selbst eine einfache Verletzung zum Tod oder zum langen, schmerzerfüllten Leben eines Krüppels führen, das sowohl für den Invaliden und diejenigen, die ihn pflegen müssen, eine Last ist, als auch eine ständige Belastung für die Versorgung der entsprechenden Bevölkerungsgruppe mit Nahrung darstellt. Da das so ist, verschwenden die Jäger kein Essen an einen Freund, der bald sterben wird, und das würde Creethar auch gar nicht wollen. Grausam ist nur der Planet Wemar, nicht die Wemarer selbst.“ Bis auf ein leises Seufzen, das Gurronsevas als das Geräusch erkannte, das Terrestrier von sich geben, wenn sie ruckartig ausatmen, herrschte einen Moment lang Schweigen. Dann meldete sich erneut Murchison zu Wort: „Entschuldigung, Gurronsevas, ich habe viele Ihrer Gespräche mit Remrath verfolgt, aber das, was Sie gerade gesagt haben, muß ich verpaßt haben. Sie haben recht. Doch es ärgert mich einfach, wenn einem Verletzten lange Zeit starke Beschwerden bereitet werden.“ „Creethars Beschwerden werden wir bald gelindert haben, meine Freundin“, meinte Prilicla. „Halten Sie sich bitte bereit.“ Plötzlich erhob sich der kleine Empath hoch in die Luft, wobei er von seinem G-Gürtel unterstützt wurde, den er auf die cinrusskische Anziehungskraft von einem Achtel Ge eingestellt hatte. Seine langsam schlagenden schillernden Flügel brachen und reflektierten die Sonnenstrahlen wie ein großes, bewegliches Prisma. Schlagartig verstummten die Streitgespräche rings um Remrath, als die Jäger nach oben blickten, um diesen merkwürdigen Fremdweltler zu beobachten, der sie mit seiner Schönheit buchstäblich blendete, und sich die Augen mit den freien Händen beschatteten, da sich Prilicla langsam auf einer Bahn zwischen ihnen und der Sonne bewegte. Wie Gurronsevas vermutete, hatte der Cinrussker seine Höhe und Position so gewählt, um einen gezielten Einsatz der Waffen zu erschweren. Als den Zuschauern endlich klar wurde, was dort vor sich ging, war es für sie bereits zu spät, um etwas dagegen zu unternehmen. Danalta, Naydrad und der Transporter mit Creethar befanden sich schon auf halbem Weg zum Schiff. Als sich Prilicla in der Luft drehte, um hinter ihnen herzufliegen, sagte er in beruhigendem Ton: „Die emotionale Ausstrahlung der Jäger verrät allgemeine Verwirrung, Wut und Verstimmung, die von äußerst starken Verlustgefühlen begleitet werden, aber, wie ich glaube, nicht so stark sind, daß es zu körperlicher Gewalt kommt. Es besteht kaum Gefahr, daß man Sie angreift, Freund Gurronsevas, es sei denn, Sie provozieren die Jäger. Fragen Sie Remrath, ob er bei seinen Freunden bleiben oder gemeinsam mit Creethar aufs Schiff zurückkehren will, und ziehen Sie sich dann so schnell wie möglich zurück.“ Der Versuch, genau das zu tun, kostete Gurronsevas die nervenaufreibendsten fünfzehn Minuten seines Lebens. Zwar hatten die Jäger nichts dagegen, daß Remrath aufs Schiff zurückkehrte, da der Chefkoch zu alt und gebrechlich war, um zu Fuß zur Mine zurückzugehen, doch was Gurronsevas betraf, waren sie anderer Meinung. Der Fremdweltler, verlangten sie lautstark, während sie sich um ihn scharten, um ihm den Fluchtweg abzuschneiden, müsse bleiben und zusammen mit ihnen zur Mine zurückkehren. Das sei notwendig, weil die Wesen auf dem Schiff ihren Anführer entführt hätten und Gurronsevas bis zum Austausch gegen Creethar eine Geisel sei. Sofern er nicht zu fliehen versuche, würde man ihm nichts tun, es sei denn, Creethar werde nicht wieder herausgegeben. Als sich die Jäger daran machten zu besprechen, wie man den riesigen Fremdweltler mit der dicken Haut überwältigen könnte, nahmen ihre Stimmen einen leiseren und beinahe sachlichen Ton an. Speere und Pfeile würden ihn möglicherweise nicht schlagartig außer Gefecht setzen, überlegten sie, so daß es vielleicht am besten wäre, ihm mit dem Schwanz einen heftigen Schlag gegen die drei Beine auf der einen Seite zu versetzen. Diese Beine seien kurz und der Schwerpunkt des Körpers liege offenbar weit oben, und wenn man den Fremdweltler auf die Seite werfe, werde er Schwierigkeiten haben, wieder aufzustehen. Die Haut auf der Unterseite scheine viel dünner zu sein als auf dem Rücken und an den Seiten, so daß ein gezielter Speerwurf in diesen Bereich wahrscheinlich tödlich sei. Da haben sie ganz recht, dachte Gurronsevas, doch das werde ich denen ganz bestimmt nicht auf die Nase binden. Er überlegte noch, was er sagen sollte, als ihm Remrath zu Hilfe kam. „Hört mir zu!“ rief der Chefkoch mit lauter Stimme. „Als ihr Kinder wart, hattet ihr noch mehr Verstand. Strengt doch mal euren Grips an! Wollt ihr es riskieren, wie Creethar zu enden, und es darauf ankommen lassen, daß zu viele von euch verwundet und getötet werden, um alle nach Hause zu tragen? Denkt an die geradezu kriminelle Verschwendung von Fleisch, an euch selbst und an eure fast erwachsenen Kinder, die auf eure Rückkehr warten! Wir haben Gurronsevas niemals kämpfen sehen, weil er sich uns gegenüber immer hilfsbereit verhalten hat. Dieses Lebewesen zu jagen geht völlig über eure bisherigen Erfahrungen hinaus. Gurronsevas wiegt doppelt soviel wie jeweils zwei von euch, so dürr und halb verhungert, wie ihr seid, und ich möchte nicht wissen, was er mit euch anstellen könnte.“ Da Gurronsevas das ebenfalls nicht wissen wollte, überließ er weiterhin Remrath das Reden. „Ihr braucht keine Geisel, denn ihr habt bereits eine“, fuhr der Chefkoch rasch fort. „Gurronsevas verbringt die ganze Zeit, in der wir wach sind, in der Mine, wo er uns beim Kochen hilft. Er bringt dem Küchenpersonal und den jungen Lehrlingen die Methoden der Fremdweltler bei, genießbare Pflanzen zu erkennen und zuzubereiten. Darüber hinaus gibt er ihnen Ratschläge und macht sich auf viele andere Arten nützlich. Bei den Kindern ist er beliebt, bei den Lehrern geachtet, und mögen tun wir ihn alle. Wir wollen nicht, daß er umgebracht oder verletzt oder auch nur in irgendeiner Weise beleidigt wird. Außerdem wäre Gurronsevas nach meiner fachlich fundierten Meinung als euer Chefkoch und Versorger völlig ungenießbar“, schloß Remrath. Die Überraschung und Freude über die schmeichelhaften Dinge, die Remrath gerade über ihn gesagt hatte, verschlugen Gurronsevas für einen Moment die Sprache. Sowohl die jungen als auch die alten Wemarer in der Mine waren zwar sehr gesprächig gewesen, hatten aber mit freundlichen Worten stets gespart, so daß er geglaubt hatte, man würde seine Anwesenheit lediglich dulden, aber nicht mehr. Er hätte gern ein Wort des Dankes an den Chefkoch gerichtet, doch noch war er nicht aus den Schwierigkeiten heraus, und außerdem gab es noch einiges anderes, was er zuerst zu sagen hatte. „Remrath hat recht“, sagte er mit lauter Stimme zu den Jägern. „Ich bin ungenießbar. Und für die Fremdweltler auf dem Schiff ist Creethar ebenfalls ungenießbar, denn wir essen kein Fleisch. Remrath weiß das und hat seinen Sohn in unsere Obhut gegeben, weil wir auf diesem Gebiet über ein größeres Wissen und mehr Erfahrung verfügen. Sowohl Remrath als auch Sie haben unser Wort, daß wir Ihnen Creethar bei der Mine sobald wie möglich zurückgeben.“ Ich spreche die Wahrheit, sagte sich Gurronsevas, nur nicht die ganze. Die Besatzung der Rhabwar und die Hälfte des medizinischen Teams aß sehr wohl Fleisch, allerdings waren die Mahlzeiten, die man an Bord und im Orbit Hospital verzehrte, ein Produkt der Nahrungssynthesizer, so vollkommen sie in Färbung, Struktur und Geschmack auch waren, und bestanden nicht aus Körperteilen irgendeines unglücklichen Tiers — und von einem intelligenten Lebewesen würde man auf der Rhabwar auch nicht den kleinsten Happen essen. Auch davon, daß Creethar bei der Übergabe lebendig oder tot sein könnte, sagte Gurronsevas nichts. Er glaubte zwar zu wissen, welche von den beiden Möglichkeiten eintreffen würde, doch das Überbringen dieser Art von schlechten Nachrichten überließ man besser den Ärzten. Schlagartig fiel ihm ein, daß das medizinische Team über den Patienten nicht mehr wußte, als es mit Hilfe der Scanner sehen konnte. Deshalb könnten Informationen darüber, wie sich Creethar die Verletzungen zugezogen hatte, vielleicht nicht nur für das medizinische Team nützlich sein, sondern Gurronsevas auch die Möglichkeit verschaffen, ein weniger heikles Thema anzusprechen. Die Wemarer unterhielten sich jetzt lebhaft, aber leise miteinander, und nach den wenigen Worten, die Gurronsevas’ Translator aufschnappte, schienen sie inzwischen weniger feindselig gegen ihn eingestellt zu sein. Er war entschlossen, eine Frage zu riskieren. „Könnten Sie mir, falls es nicht allzu schmerzhaft für Sie ist, erzählen, wie Creethar sich seine Verletzungen zugezogen hat?“ Ganz offensichtlich bereitete die Frage keinen Kummer, denn aus der Gruppe der Jäger begann eine Wemarerin namens Druuth, die Creethars Platz als Anführer eingenommen hatte, den Vorfall zu beschreiben. Sie erzählte die Geschichte in sämtlichen Einzelheiten, die sich hin und wieder recht grausam anhörten. Dazu gehörten auch die Ereignisse und Gespräche vor und nach dem Zwischenfall sowie Creethars eigener Bericht und seine letzten Anweisungen, bevor er das Bewußtsein verloren hatte. Gurronsevas gewann den Eindruck, daß die Wemarerin ihm möglicherweise nur deshalb alles so ausführlich berichtete, um irgend etwas zu entschuldigen oder vielleicht auch zu rechtfertigen, das die Gruppe der Jäger getan oder unterlassen hatte. 28. Kapitel Die Ereignisse hatten sich wie folgt abgespielt: Kurz nach Morgengrauen am dreiunddreißigsten Tag der erfolglosesten Jagd, an die sich jemand von ihnen erinnern konnte, entdeckten die Jäger die Fährten eines ausgewachsenen Twasachs mit mehreren Jungen, die vom schlammigen Ufer eines Flusses zu einer Höhle in einem nahegelegenen Abhang führten. Die größeren Spuren waren nicht tief in den weichen Boden eingedrückt, was darauf schließen ließ, daß der Twasach entweder noch nicht voll ausgewachsen oder stark unterernährt war. Daß er jedoch so nah vorm Verhungern stand wie die Jäger, war höchst unwahrscheinlich, was für denjenigen, der ihn fangen und töten mußte, nur noch größere Gefahr bedeutete, wie Druuth mit finsterer Vorahnung befürchtete, denn zwangsläufig fiel diese Aufgabe Druuths Lebensgefährten Creethar, dem Anführer der Jäger, zu. Wie die uralten, langsam zerfallenden Bücher in der Mine berichteten, hatten die Twasachs in ferner Vergangenheit einmal auf Bäumen gelebt und sich sowohl von Pflanzen als auch von kleineren Tieren ernährt, dann jedoch gelernt, alles anzugreifen und zu fressen, was sie finden konnten — egal, wie groß es war, so daß leider auch unvorsichtige Wemarer auf der Jagd dazugehörten. Dieser Twasach hier mußte als besonders gefährlich eingestuft werden, weil er nicht nur Hunger hatte, sondern auch seine Jungen beschützen würde. Doch die herrliche Aussicht, eine gesamte Twasachfamilie auf einmal zu fangen, hatte die Jäger trotz Creethars wiederholter Warnungen übereifrig und unvorsichtig gemacht. Druuth konnte das gut verstehen. Zu lange hatten sie nichts als winzige und bei weitem nicht ausreichende Nagetiere und Erdinsekten gefangen und miteinander geteilt. Danach waren die Jäger immer einzeln aus dem Lager geschlichen, um sich ihre Scham nicht anmerken zu lassen, während sie etwas gegen die gähnende Leere im knurrenden Magen zu tun versuchten und heimlich die Früchte, Beeren und Wurzeln aßen, die sie — unter der Vortäuschung der anderen, nichts davon zu bemerken — unterwegs gesammelt hatten. Doch auf einmal fühlten sie sich wieder wie echte Jäger, die mutig und stolz waren und kurz davor standen, sich mit Fleisch satt zu essen, wie es ihnen von Rechts wegen zustand. Der Abhang war steil und steinig, und noch mehr scharfkantige Steine bedeckten das ausgetrocknete Flußbett zu seinen Füßen. Nur wenige, nicht besonders fest verwurzelte Pflanzenbüschel waren vorhanden, um den Händen einen sicheren Halt zu geben, und das bröckelige, unebene Gesims, das zur Höhle hinaufführte, hielt zwar das Gewicht eines Twasach aus, war aber kaum breit genug, um einen Wemarer zur Zeit zu tragen. Druuth folgte Creethar über das schmale Gesims zur Höhlenöffnung, wo die beiden das an den Rändern beschwerte Netz ausbreiteten, während sie sich in gefährlicher Weise an den Abhang klammerten und die schweren Schwänze über das Gesims hängen lassen mußten, wodurch sie das Gleichgewicht zu verlieren drohten. Die übrigen Jäger waren vom Erfolg derart überzeugt, daß sie schon damit begonnen hatten, ein Zelt zu errichten, um etwaige Fleischreste im Rauch zu trocknen und haltbar zu machen und Brennholz für ein Dauerfeuer zu sammeln. So leise wie möglich hängten Creethar und Druuth das Netz vor die Höhlenöffnung und befestigten es, indem sie die offenen Maschen über geeignete Pflanzen schoben oder an Felsvorsprüngen festklemmten. Dann bezogen sie links und rechts von der Höhlenöffinung Stellung und begannen, ununterbrochen aus voller Kehle in die Höhle hineinzuschreien. Mit bereitgehaltenen Speeren warteten sie darauf, daß ein wütender Twasach herausgeschossen kam und ins Netz stürmte — aber nichts passierte. Zwischen dem Schreien warfen sie Steine durch die Maschen und hörten, wie diese klackernd auf den Höhlenboden schlugen. Doch noch immer erfolgte bis auf das ängstliche Blöken der Jungen und ein dumpfes Stöhnen des ausgewachsenen Twasachs keine Reaktion. Allmählich wurden die unten wartenden Jäger in ihrem Hunger ungeduldig und riefen ihrem Anführer und seiner Stellvertretern immer unverhohlener Respektlosigkeiten zu. „Hier passiert gar nichts“, reagierte Creethar verärgert, „und ich mache mich langsam lächerlich. Hilf mir mal, die Unterseite vom Netz hochzuheben, damit ich unten hindurchschlüpfen kann. Sei vorsichtig, sonst reißt es sich los.“ „Sei selbst vorsichtig“, warnte ihn Druuth in scharfem Ton, aber zu leise, als daß die Jäger sie hätten hören können. „Wenn man mit dem Schwanz und beiden Beinen auf festem Boden steht, kann man leicht herummeckern. Creethar, weder auf dieser Jagd noch auf den anderen, die wir gemeinsam unternommen haben, ist uns Hunger fremd gewesen. Wir halten es noch ein paar Stunden aus, bis die Twasachs die Höhle verlassen müssen, um etwas zu trinken.“ „Lange können wir in dieser Stellung aber nicht warten“, widersprach Creethar genauso leise. „In den Beinen kriege ich schon Krämpfe, und wenn ich sie ausstrecke oder bewege, wie es sich bald nicht mehr vermeiden läßt, wird der Vorsprung noch weiter abbröckeln.“ Und mit der festen Stimme eines Anführers fuhr er fort: „Ihr da unten! Werft ein paar trockene Holzstücke und eine brennende Fackel aufs Gesims. Wenn wir die Tiere schon nicht mit Lärm heraustreiben können, dann wird es uns garantiert mit Rauch gelingen.“ Druuth hob vorsichtig das Netz an und Creethar schlüpfte darunter hindurch, bis sich nur noch sein Schwanz außerhalb der Höhle befand. Nach wie vor war das unaufhörliche Stöhnen des Twasachs zu hören, und die Jungen stießen die leisen, aufgeregten bellenden Laute aus, die darauf hindeuteten, daß sie vielleicht miteinander spielten. Als schließlich das Feuer gelegt und entzündet war, meldete Creethar, seine Augen hätten sich auf die Dunkelheit eingestellt und er sei für eine Jagd bereit. Wie er erkennen könne, sei die Höhle tiefer als erwartet. Der Boden steige an und knicke schließlich scharf nach links ab, so daß er nicht genau sehen könne, wo der Twasach stecke. Inzwischen klinge das Bellen der Jungen eher verängstigt als verspielt. Der dichte Rauch, der in die Höhle ziehe, beiße ihm derart in den Augen, daß er nichts mehr sehen könne, berichtete er, woraufhin er sich vorsichtig aufs Gesims zurückzuziehen begann. Wie Druuth erst später klar wurde, hatte es vor dem Zwischenfall eine kurze Vorwarnung gegeben, nämlich als die stöhnenden Laute plötzlich verstummt waren, doch der Twasach war völlig lautlos und dermaßen schnell aus dem Rauch hervorgeschossen gekommen, daß er Creethar die Krallen in die Brust geschlagen hatte, bevor dieser den Speer hatte heben können. Im Freien hätte der Twasach abgeschüttelt und mit einem lähmenden Schwanzschlag bewußtlos geschlagen werden können, doch in dem beengten Raum der Höhlenöffnung war Creethar nur imstande, ihn verzweifelt mit den tief zerfleischten und in Strömen blutenden Armen abzuwehren, während er sich vorsichtig auf den Vorsprung zurückzog, wo Druuth den Speer einsetzen konnte. Doch er war nicht vorsichtig genug. Plötzlich verhedderten sich Creethars Füße im Netz. Er verlor das Gleichgewicht, stolperte, zusammen mit dem Angreifer ins Netz verstrickt, nach hinten über das schmale Gesims und rollte den steinigen Abhang hinunter. Als die anderen Jäger bei den beiden anlangten, war der Twasach von dem viel schwereren Wemarer zu Tode gequetscht worden, während man bei Creethar mit dem baldigen Ende rechnete. Doch er starb nicht und blieb, solange er lebte, der Anführer der Jäger, denn so lautete das Gesetz. Der tote Twasach war krank und sein vom Hunger ausgemergelter Körper derart von offenen, eiternden Wunden übersät, daß er nicht für unbedenklich genießbar erklärt werden konnte. Obwohl die Jäger durch den eigenen Hunger stark geschwächt waren, hatten sie keine andere Wahl, als Creethars Anweisung zu gehorchen, den verdächtigen Kadaver an Ort und Stelle liegen zu lassen. Einige warfen die Frage auf, was denn mit den inneren Organen sei, die doch nicht betroffen sein könnten, doch wurden sie nicht weiter beachtet. Darüber hinaus befahl Creethar ihnen, die Jagd sofort abzubrechen, zu der Mine zurückzukehren und alle fünf Jungen lebend mitzunehmen. Es war nicht das erste Mal, daß eine Gruppe von Jägern Twasachjunge gefangen hatte, doch bisher waren sie immer einzeln und im Freien getötet worden. Einen kompletten Wurf in einer Twasachhöhle zu fangen war jedenfalls noch nie gelungen. Soweit die Wemarer zurückdenken konnten, bestand zum ersten Mal die Möglichkeit, die Twasachjungen zu einer Herde von Schlachttieren heranzuzüchten — vorausgesetzt, die Jäger und ihre Familien, die bei der Mine in ständiger Unterernährung lebten, konnten ihren Hunger noch ein paar Jahre im Zaum halten. Aus Ästen und den Häuten des Zelts baute man also für Creethar eine Trage und machte sich auf den langsamen Rückmarsch zur Mine. Obwohl Creethar ständig Schmerzen hatte, nicht immer bei klarem Verstand war und nur undeutlich sprechen konnte, verbrachte er die lichten Momente damit, sich mit Druuth über die Notwendigkeit zu unterhalten, alle Twasachjungen am Leben zu lassen, und die Jäger zu dem Versprechen zu überreden, diese Anweisung auch weiterhin zu befolgen, falls er selbst vor dem Eintreffen bei der Mine sterben sollte. Das entsprach zwar nicht genau dem auf Wemar geltenden Gesetz, doch die Jäger wollten sich weder mit ihrem äußerst geachteten Anführer, der bald sterben würde, streiten, noch lag ihnen etwas daran, sein Leiden oder die anhaltende seelische Anspannung seiner Lebensgefährtin Druuth in irgendeiner Hinsicht zu vergrößern. Druuth bestand darauf, die Trage mit zu schleppen, ob sie nun an der Reihe war oder nicht, damit sich die anderen Träger so sanft wie möglich über unebene Bodenstellen bewegten und sie selbst versuchen konnte, Creethar ein wenig von seinen Schmerzen abzulenken, indem sie sich mit ihm unterhielt. Sie sprach über vieles: von früheren, erfolgreicheren Jagden und von den seltsamen Maschinen, die die Fremdweltler bei der Mine abgeworfen hatten, aber hauptsächlich von ihrer ersten gemeinsamen Reise, zu der sie einst von der Siedlung am See aufgebrochen waren. Vier junge Erwachsene hatten damals die lange, gefährliche Wanderschaft von der Mine zum See angetreten, um sich eine Lebensgefährtin zu suchen; so wie es andererseits bei den frischgebackenen Jägern in der Siedlung am See Brauch war, zur Mine oder zu anderen Siedlungen zu ziehen, da nur kränkliche oder geistesgestörte Nachkommen zur Welt kamen, wenn die Wemarer innerhalb des eigenen Stamms heirateten. Creethar hatte Mut und Stärke bewiesen und sich das Recht erworben, sich als erster eine Gefährtin auswählen zu dürfen, indem er seine Reisegefährten weit hinter sich gelassen hatte und drei Tage vor ihnen am See eingetroffen war — und seine Wahl war auf Druuth gefallen. Da der jetzige Weg jedoch holprig war und Creethars gebrochene Knochen ständig gegeneinander gestoßen wurden, so daß Druuth seine stummen Schmerzensschreie regelrecht zu hören meinte, sprach sie ausschließlich von der ersten gemeinsamen Hochzeitsreise und von dem, was sie auf der langen, gemächlichen und herrlichen Rückkehr zu ihrem neuen Zuhause in der Mine gesagt und getan hatten. Die Verschlechterung von Creethars Zustand wurde von Druuth auf dem Rückweg zur Mine in derart erschreckenden Einzelheiten beschrieben, daß Gurronsevas eine wachsende innere Anspannung verspürte. Er brauchte kein Empath zu sein, um die Auswirkung der Worte auf Creethars Vater Remrath zu ahnen. Doch bevor er etwas sagen konnte, sprach bereits Priliclas Stimme im Kopfhörer all das aus, was ihm auf der Zunge gelegen hatte. „Freund Gurronsevas“, sagte der Empath. „Das, was Sie über die Verletzung des Patienten und das darauffolgende Versäumnis, ihn zu behandeln, für uns in Erfahrung gebracht haben, ist sehr hilfreich. Doch vorerst wissen wir genug, und Ihr Freund Remrath durchleidet heftige seelische Qualen. Brechen Sie deshalb bitte den Kontakt mit Druuth so schnell wie möglich ab, und lassen Sie Remrath die Wahl, ob er mit der Rhabwar oder mit den Jägern zur Mine zurückkehren will, und kommen Sie dann wieder aufs Schiff.“ Als Gurronsevas Remrath vor die Wahl gestellt hatte, antwortete der Chefkoch: „Obwohl ich so alt bin, könnte ich wahrscheinlich schneller marschieren als dieser ausgehungerte Haufen hier. Aber ich werde trotzdem aufs Schiff zurückkehren. Dort, dort habe ich noch Vorbereitungen zu treffen.“ Erneut spürte Gurronsevas den Kummer des Wemarers. Um zu versuchen, ihn zu beruhigen, sagte er: „Machen Sie sich bitte keine Sorgen, Remrath. Die Fremdweltler auf dem Schiff verstehen ihr Geschäft, und Creethar befindet sich bei ihnen in guten Händen. Würden Sie den Ärzten gern bei der Arbeit zusehen?“ „Nein!“ wehrte Remrath in scharfem Ton ab und fuhr mit sanfterer Stimme fort: „Möglicherweise erscheine ich Ihnen als ein schwacher und feiger Vater. Aber vergessen Sie bitte nicht, daß Ihre Freunde die Verantwortung für Creethar übernehmen wollten und ich sie ihnen überlassen habe. Von mir zu verlangen, mir anzusehen, was die Fremdweltler mit meinem Sohn anstellen, ist sehr gefühllos von Ihnen, Gurronsevas. Von solchen Sachen möchte ich lieber nichts wissen. Bitte bringen Sie mich schnellstmöglich zur Mine zurück.“ Auf dem Rückflug an Bord der Rhabwar warf Remrath keinen einzigen Blick auf das medizinische Team, das sich mit Creethar beschäftigte, noch sprach er ein einziges Wort mit Gurronsevas oder sonst jemandem. Der Tralthaner versuchte, sich vorzustellen, wie er sich gefühlt hätte, wenn eins seiner Kinder — vorausgesetzt, er hätte welche gehabt — schwer verletzt worden wäre und man ihm die Möglichkeit gegeben hätte, den Chirurgen bei der Operation zuzusehen. Vielleicht hatte Remrath recht, und seine Frage war wirklich sehr gefühllos gewesen. 29. Kapitel Im Gegensatz zu Remrath konnte es Gurronsevas nicht vermeiden, alle Maßnahmen des medizinischen Teams zu sehen oder zumindest zu hören. Jede einzelne Operationsphase wurde auf den großen Repeaterschirm des Unfalldecks übertragen und für zukünftige Studienzwecke aufgezeichnet, da es sich um den ersten größeren Eingriff an einer für die Föderation neuen Lebensform handelte, und deshalb waren die Begleitkommentare präzise und ausführlich. Selbst als Gurronsevas alle Augen vom Schirm abwandte, konnte er den Bildern nicht entkommen, die die Stimmen in lebhaftesten Farben schilderten. Draußen vor dem Sichtfenster verwandelte sich das Grün der steilen Talwände allmählich erst in die Einfarbigkeit der Dämmerung und schließlich in die fast vollkommene Dunkelheit, die nur auf einem Planeten ohne Mond in einem galaktischen Sektor möglich ist, in dem die Sternsysteme dünn gesät sind — und immer noch beschäftigte sich das medizinische Team mit dem Patienten und unterhielt sich über ihn. Doch als der erste graue Schimmer der Morgendämmerung die völlige Dunkelheit zurückdrängte, kam die Operation langsam zum Ende, und man ging von den detaillierten Beschreibungen der einzelnen Maßnahmen zum Resümee über. Die Stimmen klangen zunehmend besorgt. „Wie Sie bemerken werden, haben wir die einfachen und komplizierten Brüche an den Beinen, an den Armen und am Brustkasten genagelt und — wo nötig — ruhiggestellt und die Schnitt-, Riß- und Schürfwunden ausgespült, genäht und mit sterilen Verbänden versehen“, sagte Prilicla gerade. „Aufgrund der physiologischen Informationen, die uns Tawsar und Remrath gegeben haben, sind im Verlauf der Operation keinerlei Komplikationen aufgetreten. Vielmehr sind es die leichten Verletzungen, die Stellen, an denen die Haut in Verbindung mit den Frakturen aufgerissen oder abgeschürft ist, die den Hauptgrund zur Sorge darstellen und die Prognose ungewiß machen.“ „Im Klartext heißt das, die Operation war erfolgreich, aber der Patient wird wahrscheinlich sterben“, faßte Naydrad zusammen, wobei sie ihren spitz zulaufenden Kopf Gurronsevas zuwandte. Gegen diese Behauptung protestierte niemand. Wahrscheinlich hatte die Oberschwester nichts anderes als die Gedanken der übrigen Mitglieder des medizinischen Teams ausgesprochen. „Ich brauche wohl niemanden von Ihnen daran zu erinnern, daß die Krankheitserreger, die sich auf einem Planeten entwickelt haben, nicht die Lebensformen eines anderen befallen können“, fuhr Prilicla zur Belehrung des Nichtmediziners Gurronsevas fort. „Von den Heilmitteln, die verschiedene Spezies anwenden, kann man jedoch nicht dasselbe behaupten. Für den Notfall haben wir eine einzelne Arznei entwickelt, die gegen Infektionen wirkt, wie man sie bei allen warmblütigen sauerstoffatmenden Lebensformen antrifft, doch es gibt einige Spezies, für die das Medikament tödlich ist. Selbst mit den Möglichkeiten des Orbit Hospitals wäre eine langwierige Untersuchung von mindestens zwei oder drei Wochen erforderlich, bevor man es für einen DHCG als unbedenklich einstufen könnte. Mit dem Betäubungsmittel sind wir dagegen nur ein geringes Risiko eingegangen.“ „Vielleicht bleibt uns gar nichts anderes übrig, als das große Risiko auf uns zu nehmen, Doktor“, fiel ihm Murchison ins Wort. „Zuerst haben die Verletzungen den Patienten stark geschwächt, danach das anhaltende Trauma des langen Transports ohne Behandlung und jetzt der unvermeidbare postoperative Schock. Den Schock haben wir zwar unter Kontrolle, doch die einzigen positiven Maßnahmen, die wir treffen konnten, bestehen in der Beatmung mit reinem Sauerstoff und in der intravenösen Ernährung. Wenigstens wissen wir genug über den grundlegenden Stoffwechsel der Wemarer, um den Patienten nicht mit der intravenös verabreichten Flüssigkeit zu vergiften. Auf jeden Fall müssen wir uns sehr bald entscheiden, ob wir es riskieren wollen, ein nicht an Wemarern getestetes Medikament anzuwenden oder nicht“, fuhr Murchison fort. „Zum Glück habe nicht ich diese Entscheidung zu treffen. Ich brauche wohl nicht den Zwischenfall auf Cromsag zu erwähnen, weil wir uns alle daran erinnern dürften, wie Lioren ein nicht erprobtes Medikament eingesetzt und damit fast eine gesamte Spezies ausgelöscht hat. Daß die Wemarer über die Behandlungsformen selbst von einfachsten Verletzungen oder Krankheiten nichts wissen, ist nicht ihre Schuld. Anscheinend haben sie gelernt, sich damit abzufinden, daß eine geringfügige Verletzung fast immer zum Tod führt. Deshalb haben sie uns, den wunderbaren, medizinisch fortschrittlichen Fremdweltlern, die Verantwortung für Creethars Behandlung übertragen. Und was machen wir? Wir verlassen uns darauf, daß die natürlichen Abwehrkräfte des Patienten eine eigentlich geringfügige Infektion besiegen. Bei seinem gegenwärtigen Zustand bezweifle ich, daß der Patient überhaupt noch irgendwelche Abwehrkräfte besitzt.“ „Meine Entscheidung lautet.“, begann Prilicla, brach dann jedoch mitten im Satz ab. „Gurronsevas, Sie strahlen sehr starke Emotionen aus, eine Mischung aus Ungeduld, Verärgerung und Frustration, die für jemanden kennzeichnend ist, der anderer Meinung ist und dringend etwas sagen will. Schnell, bitte, was möchten Sie uns mitteilen?“ „Die Pathologin Murchison geht mit den Wemarern zu hart ins Gericht“, antwortete Gurronsevas. „Außerdem irrt sie sich. Leichte Krankheiten, die keinen chirurgischen Eingriff erfordern, werden sehr wohl behandelt. Normalerweise sind die Köche gleichzeitig Ärzte, so daß.“ „Sind die denn bessere Ärzte als Köche?“ unterbrach ihn Naydrad, deren Fell sich zu ungeduldigen Büscheln aufrichtete. „Ich bin nicht qualifiziert, mir zu medizinischen Fragen eine Meinung zu bilden“, entgegnete Gurronsevas, „aber ich wollte eigentlich.“ „Warum mischen Sie sich dann in eine medizinische Diskussion ein?“ schnitt ihm Murchison in scharfem Ton das Wort ab. „Fahren Sie bitte fort, mein Freund“, forderte ihn Prilicla freundlich, aber sehr bestimmt auf „Ich spüre, daß Sie uns helfen wollen.“ So knapp wie möglich beschrieb Gurronsevas eine seiner jüngsten Erfahrungen mit Nahrungsmitteln in der Küche der Mine, wo er ständig Kombinationen von Geschmack und Konsistenz zu finden versuchte, durch die die Gemüsegerichte auf eine Stufe gehoben wurden, auf der sie — soweit es die ihren Traditionen verhafteten Wemarer betraf — erfolgreich mit den nur noch in der Erinnerung existierenden Fleischgerichten konkurrieren konnten. Er hatte jede Wurzel-, Blatt- und Beerenart ausprobiert, die er finden konnte, auch diejenigen, auf die er in einem kleinen und offensichtlich wenig benutzten Vorratsschrank gestoßen war. Sein erster Versuch, diese Pflanzen einem Hauptgericht beizumengen, hatte beim Küchenpersonal viel Heiterkeit ausgelöst, die ihm unerklärlich gewesen war, bis ihm Remrath mitgeteilt hatte, daß es sich dabei um völlig vertrocknete Exemplare aus dem Heilkräutervorrat der Wemarer handelte. „In der sich daraufhin anschließenden Diskussion habe ich erfahren, daß die Wemarer, obwohl sie nie an einem lebenden Patienten einen chirurgischen Eingriff jvornehmen würden, pflanzliche Heilmittel benutzen, um einfache Krankheiten zu kurieren. Auf diese Weise werden auch Atembeschwerden, Schwierigkeiten bei der Ausscheidung von Körperabfällen und kleine Kratzer behandelt, und zwar normalerweise mit heißen Umschlägen, die aus einer breiigen Masse aus bestimmten Tonerden und Krautern bestehen und mit Grashalmen zusammengebunden werden, um sie leichter an der betreffenden Stelle anlegen zu können. Als ich die Wemarer nach Creethars Verletzungen gefragt habe, hat mir Remrath gesagt, sein Sohn sei schwer und unheilbar verwundet, bestimmte Teile des Körpers seien regelrecht zertrümmert, und eine Behandlung der äußeren Verletzungen würde lediglich ein Leiden verlängern, das bereits viel zu lange anhalte.“ Während Gurronsevas’ Bericht hatte sich Prilicla auf der Kante am Fußende von Creethars Bett niedergelassen und blickte den Tralthaner genauso reglos und schweigsam an wie die anderen. In der Stille, die auf dem Unfalldeck herrschte, klang das Beatmungsgerät des Patienten direkt laut. Zögernd fuhr Gurronsevas fort: „Wenn. wenn ich Sie richtig verstanden habe, haben Sie Creethars innere Verletzungen, die Brüche, behandelt, und jetzt bereiten Ihnen nur noch die äußeren Verletzungen Sorgen. Aus dem Grund habe ich vorhin erwähnt.“ „Tut mir leid, Gurronsevas“, unterbrach ihn Murchison erneut. „Ich hatte wirklich nicht geglaubt, daß Sie etwas zu dem Problem beitragen könnten, und vor lauter Ungeduld habe ich dann meine Manieren vergessen. Auch mit den hiesigen volkstümlichen Heilmitteln, deren Wirksamkeit nach wie vor zweifelhaft ist, werden wir vielleicht nicht in der Lage sein, den Patienten zu heilen. Aber immerhin haben sich seine Chancen verbessert.“ Plötzlich lachte die Pathologin auf, doch es handelte sich um den heftigen, bellenden Laut, der, wie Gurronsevas dachte, nicht auf Belustigung, sondern eher auf das Lösen einer inneren Spannung schließen ließ. „Tja, da stehen wir nun mit unserer ganzen Weisheit“, seufzte Murchison. „Wir besitzen das technisch fortschrittlichste Ambulanzschiff im bekannten Universum, verfügen über ein medizinisches Team, das, wie ich in aller Bescheidenheit behaupten kann, genau jene Erfahrung besitzt, um die Möglichkeiten des Schiffs voll auszuschöpfen, und sind nun wieder zum Gebrauch mittelalterlicher Umschläge zurückgekehrt! Wenn Peter das zu Ohren kommt, wird er uns das nie vergessen — vor allem dann, wenn die Behandlung Erfolg hat.“ „Jemanden mit dem Namen „Peter“ kenne ich nicht. Ist dieser Peter im Moment wichtig?“ erkundigte sich Gurronsevas leicht verwirrt. „Sie kennen ihn“, klärte ihn Prilicla auf, der sich mit langsamen Flügelschlägen erhob und dann über Creethar in der Luft schwebte. „Peter ist der Vorname des Lebensgefährten von Pathologin Murchison, Diagnostiker Conway, dem ungewöhnliche medizinische Verfahrensweisen in der Vergangenheit keineswegs fremd gewesen sind. Doch das ist für die gegenwärtigen Umstände nicht von Bedeutung. Wichtig ist, daß Sie so schnell wie möglich mit Remrath sprechen. Bitten Sie ihn, uns seine Heilmittel zur Verfügung zu stellen und uns über deren Anwendung und Gebrauch aufzuklären. Das allein ist jetzt wichtig, mein Freund, und gleichzeitig sehr, sehr dringend.“ Bevor er darauf etwas entgegnete, drehte Gurronsevas ein Auge zum Sichtfenster. Das Tal war immer noch in Dunkelheit gehüllt, doch die Berghänge zeichneten sich bereits gegen den grauen Schimmer der frühen Morgendämmerung ab. „Für Farben, Formen und Gerüche — wie auch für Erklärungen — habe ich ein ausgezeichnetes Gedächtnis“, verkündete er. „Wenn es eilt, brauche ich nicht erst noch mal mit Remrath zu sprechen. Ich werde gleich losgehen und die notwendigen Krauter und Moose sammeln. Am wirkungsvollsten sind sie, wenn man sie früh am Morgen pflückt.“ 30. Kapitel Die nächsten vier Tage versorgte Gurronsevas das medizinische Team je nach Bedarf mit frischen Krautern und teilte ihm auch die Gebrauchsanweisungen des Chefkochs mit, verbrachte jedoch weiterhin so viel Zeit wie möglich in der Küche der Mine. Dafür hatte er sowohl positive als auch negative Gründe. Wann immer er sich auf dem Unfalldeck aufhielt, lamentierten Murchison, Danalta und Naydrad darüber, welche moralischen Auswirkungen es hatte, wenn ein Laie die Methode der medizinischen Behandlung eines Patienten vorschrieb, und bei wem die Verantwortung für Creethars Behandlung in Wirklichkeit lag. Zwar machte ihm niemand direkte Vorwürfe, aber Gurronsevas wußte nicht, wie er auf die unausgesprochene Kritik reagieren sollte, und fühlte sich durch sie sehr verunsichert, wenngleich er die Meinung, die andere über ihn hatten, normalerweise nicht für wichtig hielt. Seit er die Arbeit in den Küchenräumen des Cromingan-Shesk aufgegeben hatte, in denen er über die absolute Macht verfügt hatte, war sein Selbstbewußtsein ständigen und erfolgreichen Angriffen ausgesetzt gewesen. Das war kein schönes Gefühl. Prilicla, der Gurronsevas’ Empfindungen kannte, ihm aber nicht helfen konnte, wartete, bis die anderen Mitglieder des medizinischen Teams entweder gerade außer Dienst oder zu beschäftigt waren, um zuzuhören, bevor er den Tralthaner beiseite nahm, damit sie sich ungestört unterhalten konnten. „Ich verstehe Ihre Verärgerung und Unsicherheit, mein Freund, und kann diese Empfindungen gut nachvollziehen“:, sagte der Empath, wobei die leisen, melodischen Triller und Schnalzlaute seiner Muttersprache durch die Übersetzung in Gurronsevas’ Kopfhörer kaum vernehmbar waren. „Aber Sie müssen auch die Gefühle der Mitglieder des medizinischen Teams verstehen. Trotz der Äußerungen, die Sie gehört haben, kritisieren Murchison, Naydrad und Danalta eigentlich nicht Sie, sondern ärgern sich vielmehr über die eigene berufliche Unzulänglichkeit und den Umstand, daß ein bloßer Koch — entschuldigen Sie den Ausdruck, mein Freund, wenn sich die drei Zeit nehmen, darüber nachzudenken, wird denen schnell klar werden, daß Sie viel mehr sind als ein bloßer Koch—, daß also ein bloßer Koch imstande ist, dem Patienten auf eine Weise zu helfen, die für sie selbst nicht möglich ist. Murchison, Naydrad und Danalta können ihre Gefühle genausowenig unterdrücken wie Sie Ihre eigenen, mein Freund, aber ich werde es den dreien mal vorsichtig nahelegen, es wenigstens zu unterlassen, sie Ihnen gegenüber zu zeigen. Üben Sie bitte Nachsicht, bis Creethars Probleme behoben sind. Von dem Chefdiätisten, der vor ein paar Monaten am Hospital angefangen hat, hätte ich das nicht verlangen können. Sie haben sich verändert, mein Freund, und zwar zum Besseren.“ Wie Gurronsevas wußte, lagen seine verwirrten Gefühle für Prilicla offen, und deshalb sagte er nichts. „Für Sie wäre es vorerst angenehmer, so viel Zeit wie möglich mit Freund Remrath in der Mine zu verbringen“, riet ihm der Empath zum Schluß. Im nachhinein war das gar nicht so einfach, wie es zuerst erschien. Aus einem unerfindlichen Grund verhielten sich Remrath und in geringerem Maße auch die anderen Mitarbeiter in der Küche sowie die Lehrer ihm gegenüber zunehmend unfreundlich. Und Prilicla war zu weit entfernt, um die feinen Veränderungen in der emotionalen Ausstrahlung der Wemarer wahrzunehmen und zu deuten, woraus Gurronsevas hätte Rückschlüsse ziehen können, was er Falsches gesagt oder getan hatte. Zum Glück teilten die jungen Wemarer nicht die Gefühle ihrer Eltern und blieben weiterhin höflich, respektvoll und neugierig. Zudem wurden sie durch Spekulationen darüber, welche seltsamen kulinarischen Wunder der fremdweltlerische Koch als nächstes vorzuschlagen gedachte, in ständiger Aufregung gehalten. Selbst die inzwischen zurückgekehrten Jäger probierten seine neuen Gerichte mit immer geringerem Widerwillen, auch wenn sie als standhafte Traditionalisten hartnäckig dabei blieben, daß Fleisch die einzig geeignete Nahrung für einen Erwachsenen sei und sie auch weiterhin Fleisch essen würden. Angesichts der erbärmlich geringen Menge, die sie von der Jagd mitgebracht hatten — bei sorgfältiger Rationierung würde kaum genügend vorhanden sein, um dem üblichen Gemüseeintopf der Wemarer ein paar Wochen lang auch nur einen leichten Fleischgeschmack zu verleihen — mußte das persönliche Schamgefühl der Jäger genauso groß wie ihr Hunger sein. Gurronsevas brach keinen offenen Streit mit ihnen vom Zaun und zog es lieber vor, deren ungebildete Gaumen zu schulen und dazu zu verlocken, neue Geschmackserlebnisse auszuprobieren, und er bemühte sich ganz allgemein, die Herzen der Wemarer mit einem Angriff von der Seite auf ihre Mägen zu erobern. Die scheinbare Niederlage in einer einzelnen Schlacht wog nicht schwer, da Gurronsevas wußte, daß er den Krieg gewinnen würde. Doch schließlich zeigten auch die Jäger Anzeichen dafür, daß sie sich aus Gründen, die für Gurronsevas nicht ersichtlich waren, gegen ihn wandten. Im Gegensatz zu Remrath und den Lehrern waren sie in seiner Gegenwart zwar nie freundlich oder entspannt gewesen, doch sie hatten sich überraschend gut auf die Anwesenheit eines Fremdweltlers in ihrer Mitte eingestellt. In den letzten Tagen war ihr Verhalten gegenüber Gurronsevas allerdings fast in Feindseligkeit umgeschlagen. In seiner Nähe zog sich das Schweigen der erwachsenen Wemarer derart in die Länge, daß der Versuch des Tralthaners, mit einer einfachen Frage ein Gespräch anzuknüpfen, nur zu einer äußerst knappen und widerwilligen Antwort führte, und das in einem Ton, bei dem das fließende Wasser in der Küche eigentlich zu Eis hätte gefrieren müssen. Den Grund für ihre Verhaltensänderung konnte er nicht einmal erahnen, und langsam ärgerte er sich darüber. Unter den gegenwärtigen Umständen hielt er es für besser, die in Erstkontaktsituationen üblichen Höflichkeiten zu vergessen und eine einfache, direkte Frage zu stellen. „Remrath, warum sind Sie auf mich böse?“ erkundigte er sich deshalb ohne Umschweife. Nach etlichen Minuten ohne Antwort kam Gurronsevas zu dem Schluß, daß Remrath die Frage ignorierte. Er wandte sich wieder der Vorbereitung der alternativen Hauptmahlzeit des Tages zu, die zu den von ihm ersonnenen Gerichten gehörte, die ausschließlich aus Wurzeln und Blattgemüse von Wemar bestanden. Diese Gerichte verfeinerte er mit einer Soße, die eine winzige Spur des einheimischen Gewürzkrauts Shushlish enthielt, das ein leichtes Brennen auf der Zunge verursachte und über den Geruchssinn eine freudige Erwartung weiterer Genüsse hervorrief. Wie er aus Erfahrung wußte, würden sich die meisten Erwachsenen und alle Kinder für dieses Gericht entscheiden und nur einige wenige hartnäckige Jäger den heimischen Gemüseeintopf mit dem extrem schwachen Fleischgeschmack vorziehen. Doch wie ihm Remrath mitgeteilt hatte, war das nur gut so, denn der Rest der Jagdbeute, der im kalten, fließenden Gebirgswasser frisch gehalten wurde, wog weniger als zwei Pfund und reichte um so länger, je weniger davon verlangt wurde. Als Gurronsevas das Gericht fertig zubereitet hatte, trat er beiseite, um den vier anzulernenden Jungköchen, die in dieser Schicht arbeiteten, Platz zu machen. Schnell kamen sie heran, um das Essen aus dem Topf auf Teller zu füllen und nach Gurronsevas’ Vorbild anzurichten. Dann stellten sie die Portionen in die von dem Tralthaner neu eingeführten Warmhaltefächer, wo sie bis zum Servieren stehenblieben. Einer der vier, ein Jugendlicher namens Evemth, wie Gurronsevas glaubte, obwohl er immer noch Schwierigkeiten hatte, die fast geschlechtsreifen Wemarer auseinanderzuhalten, hatte das Essen ein wenig anders angerichtet, indem er ein paar kleine Zweige Driss auf die Shushlishsoße gestreut hatte. Für den Gesamtgeschmack hatte das alles andere als katastrophale Auswirkungen, und es verlieh dem Gericht einen zusätzlichen optischen Reiz. Die Abwandlung hatte Evemth nur an einer Portion vorgenommen, vermutlich seiner eigenen. Es hatte Zeiten gegeben, in denen Gurronsevas einem Untergebenen, der es gewagt hätte, dergleichen ohne Erlaubnis zu tun, aufs Dach gestiegen wäre, und sei es nur, um dem Übeltäter zu zeigen, daß der Meister so wachsam war, selbst die kleinste Veränderung an einer seiner Kreationen auf der Stelle zu bemerken. Doch dieser junge Wemarer bewies in bezug aufs Essen Eigeninitiative und Phantasie und fing an, sich selbst Gedanken zu machen und herumzuexperimentieren. Evemth — falls es wirklich Evemth war — berechtigte zu den besten Hoffnungen. „Ich bin Ihnen nicht böse“, antwortete Remrath völlig unverhofft. Und zwei mal zwei ist neuerdings fiinf, dachte Gurronsevas. Doch jetzt war nicht der Moment, um einen Streit anzufangen. Er spürte, daß Remrath noch mehr zu sagen hatte und schwieg. „Trotz Ihres grauenerregenden Aussehens fühlen wir uns in Ihrer Nähe allmählich wohl — und das ist in für uns überraschend kurzer Zeit so gekommen“, fuhr Remrath fort. „Sie haben sich unseren Respekt erworben, aus dem — zumindest bei einem von uns — sogar Freundschaft geworden ist. Doch über die Bewahrer Creethars auf dem Schiff sind wir sehr verärgert und enttäuscht, und da Sie zu den Fremdweltlern gehören, fällt ein Teil unserer Wut auch auf Sie.“ „Ich verstehe“, sagte Gurronsevas. Wie er wußte, wurden zwar sämtliche Gespräche, die er in der Mine führte, auf der Rhabwar und der Tremaar verfolgt, doch seit vielen Tagen war ihm das große Kompliment widerfahren, ihm nicht ständig die Fragen und Antworten vorzuschreiben. Allerdings gab es Momente — so wie diesen—, in denen Gurronsevas mit Vergnügen sowohl auf dieses Kompliment als auch auf die Verantwortung verzichtet hätte. „Aber die Bewahrer Creethars wollen den Wemarern genau wie ich bloß helfen. Das müssen Sie alle wissen und mir glauben. Weshalb sind Sie jetzt so wütend auf die? Und was muß ich tun, um Ihre Freundschaft wiederzugewinnen?“ Mit der ärgerlichen, ungeduldigen Stimme von jemandem, der zu einem unwissenden Kind spricht, antwortete Remrath: „Die lassen Creethar immer noch nicht zu uns zurückkehren.“ Gurronsevas war erleichtert. Offenbar gab es für beide Probleme eine einzige Lösung, nämlich die schleunige Rückkehr des schwer verwundeten Anführers der Jäger. „Ihr Sohn wird so bald wie möglich zu Ihnen zurückkehren“, versicherte Gurronsevas dem Chefkoch mit sorgfältig gewählten Worten. „Da ich selbst kein Arzt und Bewahrer bin, kann ich Ihnen nicht genau sagen, wie lange Sie warten müssen. Ich werde die Ärzte um eine möglichst genaue Schätzung bitten. Oder Sie gehen aufs Schiff und sehen sich selbst an, was dort mit Creethar geschieht. Fragen Sie die Ärzte, was Sie wollen.“ „Nein!“ lehnte Remrath den Vorschlag, Creethar zu besuchen, in ebenso scharfem Ton ab wie schon zuvor. Zornig fuhr er fort: „Sie sind sehr gefühllos, Gurronsevas. Es schmerzt mich, das zu sagen, aber allmählich habe ich den Verdacht, daß Sie und auch die anderen Fremd weltler aus purem Eigennutz zutiefst unehrlich sind. Ich möchte, daß Sie mich vom Gegenteil überzeugen, und bis dahin werden wir nicht mehr miteinander sprechen. Kehren Sie auf Ihr Schiff zurück, und richten Sie Ihren Freunden aus, sie sollen uns auf der Stelle Creethar übergeben!“ Mit der Erinnerung an das letzte Gespräch mit Pricicla machte sich Gurronsevas zur Rhabwar auf und fragte sich, ob es überhaupt noch irgendwo jemanden gab, der mit ihm Zusammensein wollte. Falls Creethar noch lebte, würde er sich hoffentlich mit ihm unterhalten können, um ihm das merkwürdige Verhalten Remraths und der anderen zu erklären. Rätsel und unbeantwortete Fragen waren wie Abfallhaufen, die unordentlich im Kopf herumlagen, und Gurronsevas hatte im Kopf gerne dieselbe Ordnung wie in der Küche. Sobald er wieder an Bord war, bat er Prilicla, ihm zu erlauben, mit Creethar zu sprechen. „Denselben Vorschlag wollte ich Ihnen auch gerade machen“, antwortete der Empath zu Gurronsevas’ Überraschung. „Aus irgendeinem unersichtlichen Grund verschlechtert sich das Verhältnis zu den Wemarern schneller, als Ihnen klar ist. Wußten Sie, daß die Wemarer den Kontakt zu uns ganz eingestellt und die zurückgelassenen Kommunikatoren ausgeschaltet haben, nachdem sie uns gesagt hatten, Fremdweltler seien in der Mine nicht mehr willkommen? Die einzige Verbindung, die für uns jetzt noch zu den Wemarern besteht, stellt Creethar dar, doch auch er hat wiederholt betont, daß er sich nicht mit Fremdweltlern unterhalten will.“ Prilicla deutete auf Creethars Bett und flog langsam darauf zu. Wie Gurronsevas feststellte, waren keine weiteren Mitglieder des medizinischen Teams anwesend, wahrscheinlich weil Creethar nicht mehr in Lebensgefahr schwebte, oder weil er strikt gegen ihre Anwesenheit war. Für Gurronsevas war es schön, seine Vermutung bewiesen zu sehen. „Medizinisch betrachtet macht Freund Creethar sehr gute Fortschritte“, fuhr Prilicla fort. „Seit wir ihn mit den heimischen Medikamenten versorgen, die wir Ihnen verdanken, hat er den kritischen Zustand überwunden und steht vor der Genesung. Seine emotionale Ausstrahlung ist jedoch alles andere als gut. Ich spüre ständig eine tiefe Besorgnis bei ihm, eine Angst, die er zu verbergen und zu unterdrücken versucht. Trotz meiner ständigen Bemühungen, ihn zu beruhigen.“ Wie sich Gurronsevas in Erinnerung rief, war Prilicla nicht nur für Emotionen empfänglich, sondern konnte mit seinen Gefühlen auch auf andere einwirken. Hielt man sich in einem überfüllten Raum auf und war man seelisch nicht stark angespannt, fühlte man sich schon besser, wenn der Empath bloß hereingeflogen kam. „…weigert er sich, das Problem mit uns zu besprechen“, erklärte Prilicla weiter. „In unserem letzten, sehr kurzen Gespräch hat sich Creethar nach seinem Vater Remrath, nach den Jägern und nach den neuesten Ereignissen in der Mine erkundigt. Das war vor zwei Tagen. Seitdem will er nicht mehr mit uns sprechen oder uns auch nur zuhören, und es hat ihn immer sehr bekümmert, wenn wir versucht haben, seinen Fall in seiner Gegenwart zu besprechen. Dieser Kummer ist so schlimm gewesen, daß ich seinen Translator jedes Mal ausgeschaltet habe, wenn wir mit der Erörterung begonnen haben. Außerdem weigert er sich zu essen. Wir ernähren ihn weiterhin ohne sein Wissen intravenös, doch uns beiden ist klar, daß die schnelle Genesung eines Patienten, der sich auf dem Weg der Besserung befindet, durch die Einnahme fester Nahrung sowohl psychologisch als auch medizinisch vorangetrieben wird. Im vorliegenden Fall ist der Patient durch die Unterernährung so stark geschwächt, daß wir seinen Tod ohne die Aufnahme fester Nahrung nicht mehr lange hinauszögern können. Doch Sie, mein Freund, haben uns gegenüber viele entscheidende Vorteile“, setzte der Empath seine Ausführungen fort. „Bei Begegnungen mit Ihnen ist Creethar immer bewußtlos gewesen. Sie sind kein Arzt und werden deshalb nicht die Versuchung verspüren, den medizinischen Zustand des Patienten in dessen Gegenwart zu erörtern. Vielmehr handelt es sich bei Ihnen um einen Meisterkoch, der vielleicht Creethars Essensvorlieben herausfinden kann, und zu guter Letzt wissen Sie aus erster Hand, was in letzter Zeit in der Mine passiert ist. Darum wäre es mir lieb, wenn Sie so bald wie möglich mit ihm sprechen könnten.“ Mit langsamen Schlägen der schillernden Flügel ging der Cinrussker über Creethars Bett in den Schwebeflug über, bevor er fortfuhr: „Sie sind von diesen Wesen weit mehr als Freund akzeptiert worden als irgend jemand vom medizinischen Team. Aber gehen Sie trotzdem nicht davon aus, daß die Wemarer einer anderen Spezies gleichen. Die Wemarer sind anders, ob Sie sie nun an Terrestriern, Cinrusskern oder Tralthanern messen: es sind und bleiben Wemarer. Dieser Unterschied, der sich durch etwas Falsches, das wir gesagt oder getan haben, noch vergrößert hat, ist der Grund, weshalb wir nicht mehr ihre Freunde sind.“ „Ich werde vorsichtig sein“, versicherte Gurronsevas. „Das weiß ich“, sagte Prilicla. Er streckte eins der zierlichen vorderen Greiforgane aus und berührte damit kurz einen Knopf auf dem Bedienungsfeld am Bett. „Ich werde die emotionalen Reaktionen des Patienten überwachen und Ihnen auf einer abhörsicheren Frequenz darüber berichten. Den Translator habe ich eben eingeschaltet. Freund Creethar hat zwar die Augen geschlossen, ist aber wach und hört uns zu. Es ist besser, wenn ich mich jetzt zurückziehe.“ Creethar lag so im Behandlungsbett, daß die in Gipsverbänden steckenden verletzten Gliedmaßen bequem in einem System aus Kreuzschlingen hängen konnten, die Gurronsevas an das Tauwerk eines alten Segelschiffs erinnerten. Der übrige Körper und der Schwanz waren durch Haltegurte ruhiggestellt, doch Gurronsevas hatte keine Ahnung, ob sie den Patienten vor Eigenverletzungen oder die Krankenpfleger vor Angriffen schützen sollten. Die Gipsverbände waren durchsichtig, und da keine Bandagen, Binden oder Umschläge nach Art der Wemarer vorhanden waren, konnte Gurronsevas sehen, daß die vielen infizierten Wunden, die Creethars Körper bedeckt hatten, inzwischen verheilten oder bereits verheilt waren. Plötzlich schlug der Anführer der Jäger die Augen auf. „Großer Shavrah!“ rief Creethar aus und kämpfte mit dem ganzen Körper gegen die Haltegurte an. „Was für ein scheußliches, stupides Ungetüm sind Sie denn?“ Gurronsevas überhörte die Beleidigung einfach und beantwortete lediglich die Frage. „Ich bin ein Tralthaner“, antwortete er in beruhigendem Ton. „Das heißt, ich gehöre einer Spezies an, die größer und optisch vielleicht auch fürchteinflößender ist als diejenigen, die Sie schon auf dem Schiff gesehen haben. Aber ich will Ihnen genau wie die anderen nichts tun. Im Gegensatz zu denen bin ich jedoch Koch und kein Arzt. Allerdings möchte ich Ihnen ebenfalls nur helfen, wieder ganz.“ „Ein Koch, der kein Arzt ist?“ unterbrach ihn Creethar. Seine Stimme war jetzt ruhiger, und er begann, sich unter den Haltegurten wieder zu entspannen. „Das ist ja merkwürdig, Fremdweltler. Sind Sie nicht fähig gewesen, Ihre Ausbildung zu beenden?“ „Ich heiße Gurronsevas“, fuhr der Tralthaner fort, der diese erneute Beleidigung nicht einfach überhören konnte, obwohl Priliclas Stimme im Kopfhörer anmerkte, daß auf dem Weg der Besserung befindliche Patienten für ihre Streitsucht bekannt seien. „Seit meiner frühzeitigen Ausbildung habe ich mein Leben dem Erreichen der Meisterschaft in der Kochkunst gewidmet, und andere Interessen habe ich nicht. Darum bin ich heute ein guter Koch, und das ist auch der Grund, weshalb man mich gebeten hat, Ihnen zu helfen. Creethar, Sie müssen etwas essen, bevor man Sie in die Mine zurückkehren läßt, aber Sie lehnen die Verpflegung auf dem Schiff ab. Falls sie Ihnen nicht schmeckt, erklären Sie mir bitte, aus welchem Grund, und ich werde Ihnen etwas anderes beschaffen.“ Creethar bewegte sich zwar unruhig hin und her, sagte aber nichts. „Ich spüre eine negative emotionale Reaktion“, meldete Prilicla. „Die Angst und das persönliche Verlustgefühl haben sich wieder eingestellt. Ich weiß zwar nicht, woran das liegt, aber als Sie die Rückkehr zur Mine erwähnt haben, sind diese Empfindungen besonders stark gewesen. Wechseln Sie bitte das Thema.“ Aber es geht doch ums Essen und die Notwendigkeit, Creethar zu bewegen, etwas zu sich zu nehmen, dachte Gurronsevas wütend. Als er sich ins Gedächtnis rief, daß der Empath seine Wut spürte, beruhigte er sich und fuhr fort: „Was haben Sie am Schiffsproviant auszusetzen? Sagt Ihnen der Geschmack nicht zu?“ „Doch!“ antwortete Creethar überraschend heftig. „Einige Sachen haben wie Fleisch geschmeckt, besseres Fleisch, als ich jemals gegessen habe.“ „Dann verstehe ich nicht, warum Sie sich geweigert.“, begann Gurronsevas. „Aber es ist ja kein Fleisch gewesen!“ fiel ihm der Patient ins Wort. „Es hat zwar wie Fleisch ausgesehen und geschmeckt, doch in Wirklichkeit hat es sich um irgendeinen seltsamen, fremdweltlerischen Mischmasch aus einer Maschine gehandelt, die dieses absurde Wesen mit den Flügeln als „Synthesizer“ bezeichnet hat. Es ist keine Nahrung von und für Wemarer. Ich darf es nicht essen, damit ich nicht meinen Körper vergifte. Als Koch müssen Sie doch verstehen, wie wichtig Fleisch für die erwachsenen Mitglieder einer Spezies, ja, jeder Spezies ist. Ohne Fleisch kann niemand leben.“ „Als tralthanischer Koch weiß ich davon nichts“, widersprach Gurronsevas mit ruhiger Stimme. „Von meiner Spezies wird seit vielen Jahrhunderten zumeist kein Fleisch mehr gegessen. Das machen wir, weil es uns so lieber ist, und nicht, weil wir die Mägen von Grasfressern haben. Mein Heimatplanet Traltha und die vielen anderen von Tralthanern besiedelten Planeten sind sehr dicht bevölkert und stehen in voller Blüte. Sie sind da einem Irrtum verfallen, Creethar.“ Der Anführer der Jäger schwieg einen Moment und sagte dann langsam: „Das haben mir Ihre Freunde, meine Bewahrer, auch schon oft gesagt. Nach Ihren Maßstäben sind wir Wemarer rückständig und erbärmlich ungebildet, aber wir sind nicht dumm. Und kleine Kinder, die den wundersamen Geschichten lauschen, die ihnen die Eltern erzählen, um ihnen angenehme Träume zu verschaffen, sind wir auch nicht. Erwarten Sie von einem erwachsenen Wemarer, eine offenkundige Unwahrheit zu glauben, bloß weil sie ihm von Fremdweltlern aufgetischt wird?“ Von einem so stark geschwächten und noch nicht ganz von seinen schweren Verletzungen genesenen Patienten hatte Gurronsevas eine derartige Reaktion nicht erwartet. Er überlegte kurz und antwortete dann: „Der Unterschied zwischen Intelligenz und Bildung ist mir sehr wohl bewußt, und ich weiß auch, daß von beidem der Intelligenz eine wesentlich größere Bedeutung zukommt, weil sie den Erwerb von Bildung voraussetzt. Doch in der Mine gibt es erwachsene Wemarer, die unsere Geschichten allmählich glauben.“ „Der Verstand der Alten hat allzuoft Ähnlichkeit mit dem von Kleinkindern“, stellte Creethar fest. „Ich weiß nicht, warum Sie mich dazu bringen wollen, das merkwürdige, wenngleich wohlschmeckende Fleisch aus Ihrer Maschine zu essen. Sie sind nicht mein Freund, kein Familienangehöriger von mir und nicht einmal ein Wemarer. Sie haben keine Ahnung oder es kümmert sie nicht, welchen Schaden das meinem Körper bereitet, und Sie verfügen nicht über mein Verantwortungsbewußtsein gegenüber meinem Volk. Was Sie mir auch erzählen, ich werde Ihre fremdweltlerische Nahrung nicht zu mir nehmen.“ Ganz offensichtlich hatte Creethar zu diesem Thema ganz feste Überzeugungen, die zu festgefahren waren, um sie durch logische Argumente zu ändern, und damit stimmte auch Priliclas Deutung der emotionalen Ausstrahlung überein. Es war an der Zeit, anders an die Sache heranzugehen. Vorsichtig sagte Gurronsevas: „Als Sie das letztemal mit Doktor Prilicla gesprochen haben — das ist derjenige, der fliegen kann—, haben Sie sich nach Ihren Freunden in der Mine erkundigt. Bei meiner Arbeit in der Küche habe ich mich mit Remrath und vielen der fast erwachsenen Wemarer unterhalten. Was möchten Sie wissen?“ Selbst in der Übersetzung durch den Translator klang Creethars Stimme ungläubig. „Mein Vater hat Sie in die Küche gelassen?“ „Sicher, schließlich sind wir Kollegen“, antwortete Gurronsevas knapp. Das war zweifellos die größte Untertreibung seines langen und bemerkenswerten Berufslebens, aber das wußte Creethar ja nicht. Als der Anführer der Jäger nicht reagierte, beschrieb Gurronsevas seine Eindrücke vom Leben und den Wemarern in der Mine. Kurz erzählte er von den ersten Kontakten der Fremdweltler mit den alten Lehrerinnen und den jungen Wemarern, von seiner eigenen Entscheidung, den Großteil seiner Zeit in der Mine zu verbringen, und davon, wie Remrath seine Ratschläge nach einigen Tagen des Zögerns immer mehr annahm. Daß eine Küche und das Bedienungspersonal den Dreh- und Angelpunkt für den ganzen Klatsch, all die Skandale und aktuellen Ereignisse einer Einrichtung darstellten, wußte Gurronsevas nur zu gut. Ein Kellner fiel nur dann auf, wenn er etwas falsch machte — zu anderen Zeiten blieb er ein unauffälliger Teil der Umgebung, und das bedeutete, daß die Gäste es nur selten als notwendig erachteten, die Zunge im Zaum zu halten. Da Gurronsevas prinzipiell nichts davon hielt, ungeschickte Kellner auszubilden, waren die in der Küche eingehenden Nachrichten sowohl zutreffend als auch immer auf dem neuesten Stand. Zwar durchschaute er nicht immer die genaue Bedeutung und das Ausmaß des Skandals oder Humors in den Gesprächen, die er jetzt erzählt bekam, doch Creethar gab mehrmals unübersetzbare Laute von sich und zuckte unter den Haltegurten mit dem Körper, und allmählich lenkte Gurronsevas die Unterhaltung wieder auf das Thema Essen. Schließlich bestand der Zweck des Gesprächs darin, den Patienten zum Essen zu bewegen. „Remrath ist so freundlich gewesen, viele meiner Vorschläge zu übernehmen“, fuhr er elegant fort, „und die haben nicht nur bei den Lehrern und Kindern, sondern auch bei einigen von den zurückgekehrten Jägern Anklang gefunden, die inzwischen zugeben, daß sie.“ „Nie und nimmer!“ protestierte Creethar. „Haben Sie denen etwa das giftige fremdweltlerische Essen aus Ihrer Maschine vorgesetzt?“ „Das habe ich nicht“, beruhigte ihn Gurronsevas. „Der Essensspender des Schiffs ist ausschließlich für die Versorgung der Besatzung vorgesehen und verfügt gar nicht über die Leistungsfähigkeit, eine ganze Bevölkerungsgruppe zu ernähren. Deshalb haben wir den Bewohnern der Mine unser außerplanetarisches Essen gar nicht erst angeboten. Bloß Ihnen haben wir es vorgesetzt, weil Sie stark geschwächt und unterernährt sind, und Sie haben es zurückgewiesen. Ihre Freunde in der Mine essen — und genießen, wie mir die meisten versichert haben — die einheimischen Gemüsesorten, die man bisher nur als für Kinder geeignet betrachtet hat“, fuhr er schnell fort. „Diese Gemüsesorten werden gegessen, weil ich Remrath viele neue Möglichkeiten gezeigt habe, den Geschmack der hiesigen Gemüsegerichte zu variieren, sie auf reizvollere Weise anzurichten und sie durch Soßen aus Krautern und Gewürzen, die hier überall im Tal wachsen, mit Geschmacksgegensätzen anzureichern. Zum Beispiel habe ich.“ Creethar lauschte schweigend und reglos, während Gurronsevas mit wachsender Begeisterung zur Beschreibung der vielen Änderungen überging, die er in den Eßgewohnheiten der Minenbewohner herbeigeführt hatte. Die neuen Möglichkeiten, die er entwickelt hatte, indem er den groben Grundteig der Wemarer mit Gewürzen oder saftigen Beeren verfeinert hatte, waren mit allgemeinem Beifall aufgenommen worden. Wie er weiterhin ausführte, reichten seine Worte und Creethars Vorstellungskraft auch nicht annähernd aus, um die Geschmackserlebnisse nachzuempfinden, die er beschrieb. Als er die Komplimente wiederholte, die Remrath und selbst die erzkonservative Tawsar seiner Kochkunst gemacht hatten, erfolgte von Creethar immer noch keine Reaktion. Im Eiltempo gingen Gurronsevas nun die Gesprächsthemen aus. Während er sich angestrengt bemühte, seine Ungeduld zu zügeln, fragte er: „Creethar, haben Sie Hunger?“ „Ja, habe ich“, antwortete Creethar, ohne zu zögern. „Mit jedem Wort, das Sie sagen, bekommt er größeren Hunger“, merkte Prilicla an. „Dann lassen Sie mich Ihnen etwas zu essen geben“, schlug Gurronsevas vor. „Und zwar Wemarer Essen, keins aus der Maschine der Fremdweltler. Daran haben Sie doch bestimmt nichts auszusetzen, oder?“ Creethar zögerte und antwortete dann: „Ich bin mir nicht sicher. An das Essen, das man hier den Kindern vorsetzt, erinnere ich mich nur zu gut, und das ist keine angenehme Erinnerung. Falls Sie tatsächlich irgendwie den Geschmack verbessert haben, liegt das vielleicht daran, daß Sie fremdweltlerische Substanzen ins Essen gemischt haben. Das Risiko kann ich nicht eingehen.“ In der Vergangenheit hatte Gurronsevas schon reichlich mit schwer zu befriedigenden Essern zu tun gehabt, und die Diät- und Naturkostfanatiker hatten immer besondere Schwierigkeiten bereitet, doch deren Forderungen waren im Vergleich zu denen von Creethar direkt einfach gewesen. „Creethar, Sie müssen etwas essen“, forderte er den Wemarer in sehr ernstem Ton auf. „Zwar gehöre ich selbst nicht zu den Bewahrern und kann keine genaue Schätzung geben, aber wenn Sie jetzt anfangen, regelmäßig zu essen, werden wir Sie schon bald Ihren Freunden übergeben können. Falls Sie lieber etwas Einheimisches als die Verpflegung aus unserer Maschine zu sich nehmen, kann ich Ihnen den einfachen Gemüseeintopf kochen, an den Sie sich aus der Kindheit erinnern, und dann werde ich Remrath um ein wenig von dem Fleisch bitten, das die Jäger mitgebracht haben. Ihre Freunde wollen Sie unbedingt zurückhaben, und ich bin mir sicher, daß es denen nichts ausmachen würde.“ „Nein!“ widersprach Creethar in scharfem Ton, wobei er sich kraftlos mit dem Körper gegen die Haltegurte stemmte. „Sie dürfen auf keinen Fall meine Freunde um Fleisch bitten oder mit Remrath über mich reden. Das müssen Sie mir versprechen.“ „Der Patient ist zunehmend angespannt“, meldete Prilicla. Das kann ich selbst sehen, dachte Gurronsevas. Aber warum ist er angespannt? Hat er unerkannte Kopfverletzungen erlitten und ist nicht mehr bei klarem Verstand? Oder verhält er sich einfach wie ein Wemarer? „Also gut, Creethar, ich verspreche es Ihnen“, versicherte er ihm schnell. „Aber es gibt noch eine andere Möglichkeit. Mal angenommen, ich würde das Gemüse hier im Tal sammeln und es Ihnen vor und während jeder Phase der Zubereitung und des Kochens zeigen. Ich werde Ihnen nicht versprechen, Ihnen den Eintopf so vorzusetzen, wie Sie ihn in Erinnerung haben, aber ich bin mir sicher, daß Ihnen das Ergebnis gefallen wird. Zum Kochen werde ich nicht mal die Vorrichtung des Essensspenders zum Erhitzen benutzen, weil Sie möglicherweise eine Verunreinigung des Essens befürchten, sondern ich werde persönlich das hiesige natürliche Brennmaterial sammeln und auf dem Boden neben Ihnen ein Feuer zum Kochen entfachen, wo Sie mir bei der Arbeit zusehen können. Was sagen Sie nun, Creethar? Ich sehe keine Probleme mehr, all Ihre Bedenken zu zerstreuen.“ „Ich habe einen Riesenhunger“, wiederholte Creethar. „Und Sie, Freund Gurronsevas, sind ganz schön optimistisch“, merkte Prilicla in warnendem Ton an. 31. Kapitel Daß offene Feuer auf ihrem keimfrei sauberen Unfalldeck entzündet wurden und Rauch die Atmosphäre verunreinigte, mißbilligte Naydrad als typische, um Ordnung und Sauberkeit in ihrem medizinischen Reich besorgte Oberschwester aufs äußerste. Pathologin Murchison sagte, es sei schon schlimm genug, zum Rückschritt ins medizinische Mittelalter mit Behandlungen durch Krauter und Breipackungen gezwungen zu sein, ohne auch noch mit der Forderung konfrontiert zu werden, zum Bewohner einer verrauchten Höhle zu werden. Dr. Danalta, der sich allen Umweltbedingungen anpassen konnte, in denen Leben möglich war, hielt sich zwar zurück, war aber mit Gurronsevas’ Vorhaben ebenfalls nicht einverstanden, und Chefarzt Prilicla versuchte, den Frieden zu wahren und die emotionale Ausstrahlung in seiner Umgebung so angenehm wie möglich zu gestalten. Dennoch gab es Momente — so wie jetzt—, in denen Gurronsevas nichts unternahm, um das medizinische Team zu besänftigen. „Jetzt, wo ich Creethar dazu überredet habe, regelmäßig und in für einen genesenden Patienten ausreichendem Maße zu essen.“, begann er. „Für einen genesenden Schlemmer“, warfNaydrad ein. „…ist mir gerade ein neuer Einfall gekommen, der — wie Sie sicherlich gerne hören werden — ebenfalls nicht medizinischer Natur ist“, fuhr Gurronsevas fort. „In Ihrem letzten medizinischen Gespräch, das ich wohl oder übel mit anhören mußte, haben Sie behauptet, der Patient mache gute Fortschritte, man seine Genesung jedoch beschleunigen könnte, wenn man das Essen mit winzigen Mengen von tierischem Eiweiß und bestimmten Mineralien anreichern würde, die alle von unserem Essensspender zur Verfügung gestellt werden könnten. Mein Einfall ist folgender“, erklärte er weiter. „Da Creethar vor allem Angst hat, was aus dem Essensspender kommt, auch wenn er uns oft dabei beobachtet hat, wie wir uns auf dem Unfalldeck aus dem Spender bedient haben, würde es ihn sehr beruhigen, wenn er uns nicht nur Schiffsproviant, sondern auch einheimische Gerichte essen sehen würde, die ich zubereitet habe. Mit etwas Glück müßten wir ihn davon überzeugen können, daß ihm das Essen aus dem Spender nichts schadet, weil wir wiederum die einheimische Nahrung vertragen. Dann werden Sie in der Lage sein, die notwendigen Veränderungen an Creethars Ernährung vorzunehmen, durch die er.“ Er brach mitten im Satz ab, weil sich Naydrads Fell am ganzen Körper zu ärgerlichen Stacheln aufgerichtet hatte, Priliclas zerbrechlich wirkender Körper von dem Gefühlssturm durchgeschüttelt wurde, der übers Unfalldeck fegte, und Murchison, deren Gesicht ein dunkleres Rosa angenommen hatte, beide Hände hochhielt. „Jetzt machen Sie aber mal einen Punkt!“ protestierte die Pathologin. „Es ist schon schlimm genug gewesen, daß Sie hier auf dem Unfalldeck gekocht und uns mit dem Rauch halb erstickt haben. Und jetzt verlangen Sie allen Ernstes von uns, Ihre ekelhaft stinkenden einheimischen Gerichte zu essen? Als nächstes sollen wir wohl auch noch rings ums Lagerfeuer sitzen und Wemarer Lieder singen, damit sich der Patient noch mehr wie zu Hause fühlen kann, wie?“ „Bei allem Respekt“, sagte Gurronsevas in einem Ton, der nicht gerade respektvoll war, „die vorübergehende Verunreinigung der Luft mit Rauch ist keineswegs gesundheitsgefährdend für Sie gewesen, und die Oberschwester hat mir gegenüber einmal erwähnt, der Duft von einigen Gerichten sei gar nicht so unangenehm.“ „Er hat den Gestank des Rauchs überlagert, habe ich gesagt“, korrigierte ihn Naydrad. „Bevor Sie ein Gericht nicht probiert haben, können Sie gar nicht wissen, ob es stinkt und ekelhaft ist“, fuhr Gurronsevas fort, ohne den Einwurf zu beachten. „Schließlich weiß jeder, der auch nur über einen einigermaßen kultivierten Gaumen verfügt, daß sich Geschmack und Geruch gegenseitig ergänzen. Ich möchte betonen, daß einige der pflanzlichen Soßen, die ich zu den einheimischen Gerichten kreiert habe und die, wie ich Ihnen versichern kann, eine Kostprobe wert sind, über eine derartige Qualität verfügen, daß ich sie nach meiner Rückkehr in die Speisekarte des Orbit Hospitals aufnehmen werde.“ „Zum Glück kann ich alles essen“, merkte Danalta schnippisch an. Ungeduldig fuhr Gurronsevas fort: „In meinem ganzen Leben habe ich noch kein Gericht verdorben, und ich habe nicht vor, jetzt damit anzufangen. Sie alle üben einen Beruf aus, für den Objektivität die wichtigste Voraussetzung ist. Weshalb lassen Sie sich also jetzt zu rein subjektiven Urteilen hinreißen? Mein Vorschlag lautet, Sie essen jeden Tag zusammen mit Creethar eine vollständige einheimische Mahlzeit, wobei Sie nicht vergessen sollten, daß jedes Herumspielen mit dem Essen oder andere deutlich erkennbare Zeichen der Abneigung bei der Nahrungsaufnahme für den Patienten keineswegs beruhigend wären. Schließlich sind Sie es, die wollten, daß Creethar etwas zu sich nimmt, und jetzt die Anreicherung der Nahrung mit zusätzlichem Eiweiß und Mineralien für notwendig halten. Ich versuche bloß, Ihnen zu erklären, wie das bewerkstelligt werden kann.“ Um zu spüren, daß von der Pathologin Murchison und von Oberschwester Naydrad ein weiterer Gefühlsausbruch unmittelbar bevorstand, brauchte Gurronsevas kein Empath zu sein. Doch es war Chefarzt Prilicla, der mit seiner entschiedenen, aber sanften Autorität als erster das Wort ergriff. „Ich spüre, daß es gleich zu einem lebhaften Meinungsaustausch kommen wird“, sagte er, während er sich in die Luft erhob und langsam auf den Ausgang zuflog. „Deshalb möchte ich mich jetzt entschuldigen und mich in meine Unterkunft zurückziehen, wo mich die aus der Auseinandersetzung resultierende emotionale Ausstrahlung wegen der Entfernung nur noch gedämpft erreichen wird. Außerdem habe ich das Gefühl — und meine Gefühle täuschen mich nie—, daß Sie sich bestimmt alle an den Zweck der Rhabwar und des medizinischen Teams erinnern und sich ins Gedächtnis rufen werden, was für seltsame Patienten wir schon gehabt haben und auf welche noch merkwürdigere Art wir gezwungen gewesen sind, uns während der Behandlungen an sie anzupassen, damit wir diesen Zweck besser verfolgen konnten. Ich lasse Sie allein, damit Sie sich streiten und vor allem an das denken können, was ich eben gesagt habe.“ Die Auseinandersetzung ging weiter, wenngleich alle wußten, daß Gurronsevas diese bereits längst gewonnen hatte. Im Laufe der nächsten vier Tage fanden die Wemarer das letzte der in der Mine zurückgelassenen Kommunikations- und Abhörgeräte und zerstörten es. Aus den wenigen Worten, die man vor dem Abbruch der Verbindung noch hören konnte, wurde deutlich, daß die sogenannten Fremdweltler ein ganz schändliches Verbrechen begangen und nichts als die tiefste Verachtung verdient hätten. Als Gurronsevas frühmorgens Kräuter und andere Pflanzen sammelte, versuchte er, sich mit einer Lehrerin zu unterhalten, die eine der Arbeitsgruppen beaufsichtigte, doch die alte Wemarerin klappte einfach die Ohren zu, und die Kinder hatte man offensichtlich angewiesen, ihn nicht zu beachten. Da jeglicher Kontakt abgerissen war, wußte das medizinische Team nicht, welchen Vergehens es sich schuldig gemacht hatte oder wie es sich dafür entschuldigen sollte. Doch als Gurronsevas anbot, uneingeladen in die Mine zu gehen und Remrath um eine Erklärung zu bitten, sagte Prilicla, die Wut und Enttäuschung der Wemarer seien derart groß, daß er die emotionale Ausstrahlung der Minenbewohner noch auf der einen halben Kilometer entfernt liegenden Rhabwar spüre, und eine weitere Verschlechterung der Situation — sofern das überhaupt noch möglich sei — könne und wolle er nicht riskieren. Mit Creethar war die einzige Möglichkeit gegeben, den Kontakt wieder voll und ganz herzustellen, dessen war sich der Cinrussker sicher. Bei dem Patienten erzielte man gute Fortschritte. Nach Prilicla, der wie stets die Ansicht vertrat, er müsse mit gutem Beispiel vorangehen, nahmen auch die übrigen Mitglieder des medizinischen Teams Gurronsevas’ einheimische Gerichte als Hauptmahlzeit des Tages ein. Sie hatten sich bereit erklärt, seine Kochkünste nicht in Gegenwart des Patienten zu kritisieren. Und wenn Gurronsevas morgens von Creethars Seite wich, um schnell einige Krauter und andere Pflanzen zu sammeln, war er sich keiner negativen Kritik bewußt. Doch als man Creethar schließlich dazu bewegt hatte, tatsächlich ein wenig Nahrung mit den notwendigen Heilmitteln aus dem Essensspender zu sich zu nehmen, und wegen der ständigen Zunahme seines Körperumfangs die Haltegurte lockern mußte, machte man dem Chefdiätisten sogar so etwas wie Komplimente. „Das heutige Essen war gar nicht schlecht, Gurronsevas“, gab Murchison widerwillig zu. „Und an dem Lutij- und Yant-Dessert könnte ich mit der Zeit noch Geschmack finden.“ „So wie an bitterer Medizin“, merkte Naydrad an. Da ihr Fell jedoch glatt blieb, wie Gurronsevas feststellte, konnte der Kelgianerin das Dessert nicht allzu sehr mißfallen haben. „Die Art, auf die Sie das Hauptgericht zubereitet haben, hat mir sehr gefallen“, lobte ihn Prilicla, der immer schwieg, wenn er nichts Schmeichelhaftes sagen konnte. „Obwohl der Geschmack und die Beschaffenheit vollkommen anders sind, würde ich es in der Nähe meines anderen nichtcinrusskischen Lieblingsgerichts, terrestrischen Spaghetti mit Tomatensoße und Käse, einstufen. Aber im Moment habe ich ein starkes Völlegefühl und muß unbedingt noch ein paar Flugübungen draußen vorm Schiff unternehmen. Hätte jemand von Ihnen Lust, mich zu begleiten?“ Er blickte einzig und allein Gurronsevas an. Prilicla sprach kein weiteres Wort mit ihm, bis sie sich beide außerhalb des Schiffs befanden und der Schutzschirm kurz ausgeschaltet worden war, um sie hindurchzulassen. Zusammen mit dem Empathen, der dicht über seiner Schulter flog, entfernte sich Gurronsevas langsam vom Mineneingang und ging ins Tal hinunter. Der eingeschlagene Weg mußte ihn in einer Entfernung von hundert Metern an einer Arbeitsgruppe von Weimarern vorbeiführen, doch er wußte, daß ihn die aufsichtsführende Lehrerin nicht beachten würde. „Freund Gurronsevas“, sagte der Empath plötzlich, „allmählich gewinnen wir — doch in noch größerem Maße Sie — Creethars Vertrauen, und da wäre es nicht gerade förderlich, wenn wir ihn von unseren Gesprächen ausschließen, indem wir seinen Translator abschalten. Deshalb wollte ich mich mit Ihnen allein unterhalten. Sie müssen bereits vermutet haben, daß wir Creethar jetzt aus der Behandlung entlassen können“, fuhr Prilicla fort. „Abgesehen von einem ruhiggestellten Bein, dessen Gipsverband in zwei Wochen abgenommen werden soll, wenn die gebrochenen Knochen wieder vollständig zusammengewachsen sind und das Körpergewicht tragen können, hat sich Creethar gut von seinen Verletzungen erholt. Eigentlich müßte er über die Aussicht, ins normale Leben zurückkehren zu können, glücklich, erleichtert und zufrieden sein, aber das ist er keineswegs. Über die Gemütsverfassung unseres Patienten bin ich alles andere als froh. Irgend etwas mit ihm stimmt ganz und gar nicht, und ich wüßte gerne, was es ist, bevor ich Creethar zu seinen Freunden zurückschicke. Das werde ich in spätestens zwei Tagen tun, denn es liegt kein medizinischer Grund vor, ihn noch länger an Bord zu behalten.“ Gurronsevas blieb stumm. Der Cinrussker formulierte ein bestehendes Problem neu, stellte aber keine Frage. „Es könnte gut sein, daß all unsere Probleme gelöst sind, wenn wir Creethar zu seinen Freunden zurückschicken“, setzte der Empath seine Ausführungen fort. „Wenn nicht alle Hoffnung trügt, verringert sich dadurch die momentane Feindseligkeit der Wemarer gegen uns. Zudem könnte diese Maßnahme Ihre persönliche Freundschaft mit Remrath wiederherstellen und es uns ermöglichen, den freundschaftlichen Kontakt fortzusetzen. Aber die Wemarer haben irgend etwas an sich, das wir noch nicht ganz begreifen und das bei unserem Patienten unerklärliche Gefühlsreaktionen hervorruft. Bevor wir die Ursachen für diese unnatürlichen Empfindungen nicht vollkommen verstanden haben, ist es vielleicht ein weiterer und noch größerer Fehler, ihn nach Hause zu schicken. Was Sie sagen oder fragen könnten, weiß ich nicht, denn schon ganz allgemeine und flüchtige Erwähnungen seines Vaters Remrath, der Jagdfreunde und des Lebens in der Mine rufen bei Creethar eine unverhältnismäßig starke Gefühlsreaktion hervor, die Ähnlichkeit mit der eines verängstigten Wesens hat, dessen tiefste Überzeugungen unter Beschüß stehen. Ich weiß, daß Sie kein ausgebildeter Psychologe sind, mein Freund, aber glauben Sie, Sie könnten sich die nächsten zwei Tage ausführlich mit Creethar unterhalten? Sprechen Sie über ungefährliche Gemeinplätze und lauschen Sie dabei — wie wir es alle tun werden — auf die typischen Kleinigkeiten, die meiner Erfahrung nach viele Wesen, die unter dieser Art der emotionalen Anspannung leiden, insgeheim verraten wollen. Falls sich im Gesprächsverlauf etwas ergibt, das das medizinische Team tun oder unterlassen sollte, oder Ihnen ein Einfall kommt, der hilfreich sein könnte, dann setzen Sie uns davon in Kenntnis. Für die nichtmedizinische Behandlung übertrage ich Ihnen hiermit die rechtskräftige Leitung. Creethar vertraut Ihnen“, schloß Prilicla. „Es ist wahrscheinlicher, daß er Ihnen seine Schwierigkeiten erzählt als uns. Würden Sie mir den Gefallen tun und mit ihm sprechen, mein Freund?“ „Habe ich das nicht schon die ganze Zeit inoffiziell getan?“ antwortete Gurronsevas mit einer Gegenfrage. „Ja, aber jetzt handelt es sich um ein offizielles Gesuch des Leiters des medizinischen Teams um fachliche Unterstützung in der entscheidenden Phase des Kontakts zu den Wemarern“, entgegnete Prilicla. „Das muß so sein, damit ich allein die Verantwortung trage, falls Sie keinen Erfolg haben. Sie dürfen sich nicht selbst die Schuld geben, wenn etwas schiefgeht, und das übrige medizinische Team wird Ihnen unter diesen äußerst ungewöhnlichen Umständen ebenfalls nichts vorwerfen. Es ist nicht leicht, Sie zu mögen, mein Freund. Sie haben allzu große Ähnlichkeit mit einigen Ihrer neuesten einheimischen Gerichte, und zwar insofern, als man erst Geschmack an Ihnen finden muß. Doch durch Ihre Unterstützung bei Creethar haben Sie sich unsere Achtung und Dankbarkeit erworben, und niemand von uns wird Ihnen auch nur das Geringste vorwerfen, wenn es Ihnen nicht gelingt, ein Problem zu lösen, an dem wir selbst auch schon gescheitert sind. Wie denken Sie darüber, mein Freund?“ Gurronsevas schwieg einen Augenblick lang und antwortete dann: „Ich fühle mich geschmeichelt, ermutigt und beruhigt und möchte gerne alles tun, was in meinen Kräften steht, um zu helfen. Doch da Sie ein Empath sind, kennen Sie ja meine Gefühle schon, und ich glaube, Sie haben von Anfang an vorgehabt, diese Empfindungen in mir hervorzurufen.“ „Da haben Sie allerdings recht“, gestand Prilicla und stieß einen kurzen, gerollten, unübersetzbaren Laut aus, bei dem es sich möglicherweise um die cinrusskische Variante des Lachens handelte. „Aber ich habe nicht an Ihrer emotionalen Ausstrahlung herumgedoktert. Der Wunsch zu helfen war bei Ihnen bereits vorhanden. Jetzt spüre ich, daß Sie noch etwas sagen möchten.“ „Ja, ich möchte ein paar Vorschläge machen“, sagte Gurronsevas. „Ich glaube, Sie sollten den genauen Ort und Zeitpunkt für Creethars Rückkehr festlegen und Remrath und die anderen davon in Kenntnis setzen, falls die irgendwelche Vorbereitungen treffen wollen. Wie wir wissen, sind die Wemarer ganz wild darauf, Creethar wiederzubekommen, und sie über den Zeitpunkt der Übergabe zu informieren wäre ein Akt der Freundlichkeit, durch den sie uns gegenüber vielleicht weniger feindselig auftreten würden. Ich denke, der beste Moment für die Übergabe wäre am frühen Vormittag, wenn die Arbeitsgruppen und die Lehrerinnen zum Mittagessen in die Mine zurückkehren. Das würde viele Zuschauer und die größtmögliche Wirkung garantieren, doch ob diese Wirkung gut oder schlecht sein wird, kann ich nicht sagen.“ „Ich auch nicht“, räumte Prilicla ein. Schnell gab er den Zeitpunkt und die Umstände, unter denen Creethars Entlassung erfolgen sollte, bekannt und fuhr dann fort: „Aber wie wollen Sie die Wemarer davon unterrichten, wo die doch immer gleich die Ohren zumachen, wenn wir mit ihnen zu sprechen versuchen? Haben Sie das Problem schon vergessen? Zumindest spüre ich nicht, daß Sie sich darüber Sorgen machen.“ Gurronsevas hatte sich schon immer bemüht, nichts zu verschwenden, ob es sich nun um Zeit, Material oder Atem handelte. Anstatt die Frage zu beantworten, blieb er stehen, wandte sich mit seinem gewaltigen Körper ein wenig zur Seite, um den Mund auf die Arbeitsgruppe von Wemarern zu richten, die sich weniger als zweihundert Meter entfernt befand, und holte tief Luft. „Dies ist eine Bekanntmachung der Bewahrer von Creethar auf dem außerplanetarischen Schiff!“ rief er langsam und deutlich und sehr laut. „Der Jäger Creethar wird seinen Freunden übermorgen eine Stunde vor der Mittagszeit am Mineneingang übergeben werden.“ Gurronsevas konnte sehen, wie die Lehrerin gleich bei den ersten Worten die Ohren zuklappte, und die Wut in ihrer Stimme hören, als sie versuchte, die Schüler zu bewegen, ihrem Beispiel zu folgen, während er die Bekanntmachung wiederholte. Doch die Lehrerin hatte keinen Erfolg, weil die Kinder in kleinen Kreisen um sie herumhüpften und sich aufgeregt etwas zuriefen. Wie Gurronsevas wußte, hatten die erwachsenen Wemarer zwar den Fremdweltlern gegenüber die Ohren verschlossen, aber den eigenen Kindern nicht mehr zuzuhören, das konnten sie unmöglich tun. Bis zum Einbruch der Dunkelheit würde sich die Nachricht von Creethars Rückkehr in der gesamten Mine herumgesprochen haben. „Gut gemacht“, lobte Prilicla den Tralthaner, wobei er eine elegante Kurve flog, bis er mit dem Kopf wieder dem Schiff zugewandt war. „Aber jetzt müssen Sie Ihre Stimme noch ein ganzes Stück mehr strapazieren. Kehren wir zum Patienten zurück.“ Es war fast so, als wäre Creethar Gurronsevas’ Patient geworden. Man ließ die beiden immer für lange Zeit auf dem Unfalldeck allein, während sich das medizinische Team in den Unterkünften oder auf dem winzigen Deck mit den Speise- und Aufenthaltsräumen der Rhabwar aufhielt. Gurronsevas war bewußt, daß jedes einzelne Wort, das zwischen ihm und Creethar fiel, von Wiliamson auf der Tremaar aufgezeichnet wurde, doch die Kommentare oder die Kritik des Captains verschwieg man ihm, so daß er sich ohne Ablenkung mit dem Patienten unterhalten konnte. Zu Creethar zu sprechen fiel ihm zwar nicht schwer, aber es war gar nicht so einfach, bei einem Thema zu bleiben, das den Wemarer nicht schnell dazu veranlaßte, nichts mehr zu entgegnen. Wie Prilicla berichtete, war Creethars häufiges Schweigen unweigerlich von einer starken emotionalen Anspannung begleitet, in der Angst, Wut und Verzweiflung vorherrschten. Und noch immer konnten Gurronsevas und der zuhörende Empath keinen Grund für diese Anfälle von Schweigsamkeit entdecken. Über die Wemarer und ihren jahrhundertelangen Überlebenskampf auf einem Planeten zu sprechen, den man in ferner Vergangenheit durch die unkontrollierte Verschmutzung beinahe in den Untergang getrieben hatte, war ein ungefährliches, wenn auch nicht gerade angenehmes Thema. Gefährlich wurde es nur immer dann, wenn sich Gurronsevas und Creethar nicht über die Bedeutung des Fleischverzehrs für die erfolgreiche Fortpflanzung einig waren. In den alten Zeiten, schwärmte Creethar, als noch gewaltige Tierherden durch die Wiesen und Wälder gestreift seien, habe man noch in Hülle und Fülle über Fleisch verfügt. „Heutzutage sind diese Herden und die unzähligen Tiere des Dschungels zwar schon lange verschwunden“, fuhr der Wemarer fort, „doch dafür hat sich der Verzehr von Fleisch — auch das der winzigen und seltenen Stückchen, die man nach einer erfolglosen Jagd besitzt — zu einer Art nichtgeistlichen Religion entwickelt.“ In seiner Entgegnung darauf räumte Gurronsevas ein, daß die Jäger es verdient hätten, das Fleisch zu essen, da es ihnen erst nach langen Wanderungen und Mühen und unter großen Gefahren für Leib und Leben zur Beute werde. Doch die Gemüsebauern, die zu Hause bleiben müßten, würden unter geringeren Risiken mehr Nahrungsmittel erzeugen und nichts von der Achtung abbekommen, die man den Jägern entgegenbringe. So sehe es nach seiner Auffassung momentan auf Wemar aus, und genauso hätten die Dinge auch auf unzähligen anderen Planeten jahrhundertelang gestanden. Von Prilicla souffliert erklärte Gurronsevas dem Anführer der Jäger, daß der Verzehr von Fleisch in der fernen Vergangenheit eher eine Frage der Verfügbarkeit, der Annehmlichkeit und der persönlichen Vorliebe gewesen sei als eine physiologische Notwendigkeit. Er hielt Creethar vor Augen, daß die ausschließlich von Gemüse lebenden Kinder und die ganz alten Wemarer im allgemeinen gesünder und besser ernährt seien als die Fleischesser, die sich wegen ihres Stolzes als Jäger oftmals unnötig krank hungern würden. Die Folge dieser Erklärungen war ein ärgerliches Schweigen von Creethar, das fast eine ganze Stunde lang anhielt. Der Anführer der Jäger war immer noch nicht ganz davon überzeugt, daß Fleisch für die sexuelle Potenz keineswegs notwendig war, doch nachdem er einige Tage lang die von Gurronsevas zubereiteten Gemüsegerichte gegessen hatte, geriet seine Überzeugung — wie sich der Tralthaner sicher war — allmählich ins Wanken. Essen war ein ziemlich ungefährliches Thema, besonders das Gespräch darüber, wie Gurronsevas seine neuesten einheimischen Gerichte zubereitete und anrichtete, doch sowie der Chefdiätist versuchte, das Thema zu wechseln, um über Creethars Jagdfreunde oder über Remrath oder die gute Arbeit zu sprechen, die die anzulernenden Jungköche in der Mine leisteten, verfiel der Wemarer in Schweigen. Einmal behauptete der Anführer der Jäger wütend, die Küche sei nicht der geeignete Ort für einen jungen Wemarer und Kochen keine angemessene Arbeit. Als Gurronsevas sich nach dem Grund erkundigte, warf ihm Creethar Dummheit und Mangel an Feingefühl vor. Kurz bevor Gurronsevas aus der Mine geworfen worden war, hatte ihn Remrath der Gefühllosigkeit bezichtigt und ihm ebenfalls keine Erklärung dafür gegeben. Verwirrt und äußerst frustriert kehrte Gurronsevas wieder zum Thema Essen zurück. Das war der eine Gesprächsgegenstand, den er mit vollkommenem Sachverstand erörtern konnte. Gurronsevas war imstande, über Gerichte in all den vielen verschiedenen Formen und Geschmacksrichtungen zu sprechen und zugleich über die seltsame und noch außergewöhnlichere Vielfalt an Lebewesen, die seine kulinarischen Schöpfungen serviert bekommen hatten. Das wiederum führte zwangsläufig zu einer Erörterung der Fremdweltler, ihrer Überzeugungen, Philosophien und gesellschaftlichen Bräuche, wobei Gurronsevas auch die persönlichen Vorlieben und Eßgewohnheiten der mehr als sechzig verschiedenen Spezies nicht ausklammerte, aus denen sich die Galaktische Föderation zusammensetzte. Mit aller Kraft bemühte er sich, Creethar begreiflich zu machen, daß Wemar nur ein bewohnter Planet von vielen hundert war. Gleichzeitig hoffte er, daß sich unter den fremden intelligenten Spezies, die er beschrieb, eine befand, die den Wemarern von der Gesellschaft her so ähnlich war, daß der Anführer der Jäger emotional oder verbal auf eine Weise reagierte, durch die Prilicla oder er selbst einen Riß in die Mauer des Schweigens schlagen konnten. Doch Creethars emotionale und verbale Reaktionen blieben unverändert. „Ich spüre und teile Ihre Enttäuschung ebenfalls, Freund Gurronsevas“, meldete sich Prilicla. „Creethar verfolgt Ihre Erzählungen mit starkem Interesse und großer Neugier. Zudem nehme ich bei ihm ein noch stärkeres Gefühl der Dankbarkeit Ihnen gegenüber wahr, weil Sie ihn von einigen ernsthaften persönlichen Problemen ablenken. Doch seine Verzweiflung, Wut und Angst sind noch immer vorhanden und durch alles, was Sie gesagt haben, zwar verringert, aber nicht verändert worden. Die stärkste Empfindung des Patienten ist im Moment die der Freundschaft mit Ihnen“, fuhr der Empath fort. „Sie sind sich dessen vielleicht gar nicht bewußt, aber Sie haben für ihn dasselbe Gefühl entwickelt, genauso, wie es Ihnen nach längerem Kontakt mit seinem Vater Remrath passiert ist. Doch jetzt spüre ich sowohl beim Patienten als auch bei Ihnen eine zunehmende Müdigkeit. Nach einer Pause ergibt sich vielleicht von selbst eine neue Herangehensweise an das Problem.“ „Creethar soll in weniger als sieben Stunden entlassen werden“, gab Gurronsevas zu bedenken. „Ich glaube, es ist übertrieben vorsichtig von uns gewesen, ihm seine bevorstehende Entlassung zu verheimlichen. Jetzt ist der Moment, um es ihm mitzuteilen. Wir haben nur wenig zu verlieren.“ In einem freundlich tadelnden Ton entgegnete Prilicla: „Ich kann Ihre Enttäuschung spüren und nachempfinden, mein Freund, aber jedes Mal, wenn Sie das Thema seiner Rückkehr zur Mine auch nur angedeutet haben, ist es bei Creethar zu einer ablehnenden Gefühlsreaktion gekommen, an die sich ein langes, verärgertes Schweigen angeschlossen hat. Wir haben sehr wohl viel zu verlieren.“ Einen Augenblick lang schwieg Gurronsevas, dann sagte er: „Sie behaupten, Creethar und ich empfinden freundschaftliche Gefühle füreinander. Aber können Sie mir auch sagen, ob wir gut genug befreundet sind, um uns gegenseitig vaser schlechtes Benehmen, die Beleidigungen oder die unbeabsichtigten verletzenden Worte zu verzeihen?“ Ohne Zögern antwortete der Empath: „Ich kann Ihre Entschlossenheit spüren. Sie werden Creethar über seine Entlassung informieren, egal, was ich antworte. Viel Glück, mein Freund.“ Einen Augenblick lang sagte Gurronsevas nichts und versuchte, Worte zu finden, die passend waren und schon im voraus alles entschuldigten, womit er diesen seltsamen Wemarer, der sein Freund geworden war, möglicherweise verletzte. Dann sagte er: „Es gibt vieles, das ich Ihnen sagen möchte, Creethar, und eine Menge Fragen, die ich Ihnen gerne stellen würde. Das habe ich bisher noch nicht getan, weil Sie jedes Mal, wenn ich es versucht habe, wütend geworden sind und nicht mehr mit mir sprechen wollten. Auch Remrath will kein Wort mehr mit mir wechseln und hat den Fremdweltlern aus Gründen, die wir nicht verstehen, sogar verboten, die Mine noch einmal zu betreten. Doch jetzt bleiben uns nur noch wenige Stunden, um uns zu unterhalten und um uns gegenseitig Fragen zu stellen und Antworten zu geben.“ „Seien Sie vorsichtig“, warnte ihn Prilicla. „Creethars emotionale Ausstrahlung verändert sich, und zwar nicht zum Besseren.“ „Ihre Verletzungen und Infektionen sind geheilt beziehungsweise abgeklungen“, fuhr Gurronsevas vorsichtig fort, „und Ihre körperliche Verfassung ist so gut, wie es in unseren Kräften steht. Sie werden noch vor der Mittagszeit zu Ihren Freunden zurückkehren können.“ Plötzlich warf sich Creethar mit dem Körper gegen die Haltegurte — das hatte er schon seit vielen Tagen nicht mehr getan—, und wurde dann wieder ruhig. Ruckartig wandte er Gurronsevas das Gesicht zu, hielt die Augen dabei jedoch fest geschlossen. Der Tralthaner fragte sich, was für eine dumme fremdenfeindliche Regung oder kulturelle Geisteshaltung eine derart heftige Reaktion in einem Kopf hervorrufen konnte, den er als intelligent und kultiviert kannte und in vieler Hinsicht bewunderte. Er war zwar kein Empath, doch Priliclas nächste Bemerkung bestätigte nur, was er bereits wußte. „Der Patient ist sehr beunruhigt“, erklärte der Cinrussker in eindringlichem Ton. „Die freundschaftlichen Gefühle, die er Ihnen entgegenbringt, werden durch den Ausbruch eines Gefühlsgemischs aus Angst, Wut und Verzweiflung verdrängt, das Creethar schon vorher einmal zu schaffen gemacht hat. Doch er bemüht sich mit aller Kraft, diese negativen Empfindungen Ihnen gegenüber zu überwinden. Können Sie nicht irgend etwas sagen, das ihm dabei hilft? Seine Anspannung nimmt ständig zu.“ Unhörbar stieß Gurronsevas ein Wort aus, das in den Mund zu nehmen ihm als Kind verboten worden war und das er auch als Erwachsener nur selten gebraucht hatte. Auf die eigentlich gute Nachricht reagierte der Patient völlig verkehrt, und plötzlich war der Tralthaner nicht nur völlig verunsichert, sondern auch wütend darüber, daß er einen Freund quälte, ohne zu wissen wie und weshalb. In jeder anderen Hinsicht verliefen Creethars Gedankengänge und das Gespräch mit ihm ganz normal, doch in dieser einen Beziehung war der Wemarer Gurronsevas vollkommen fremd. Oder waren es die medizinischen Mitarbeiter und sogar er selbst, die in dieser Hinsicht etwas Fremdes an sich hatten? Und wenn ja, warum? Er übersah etwas, dessen war er sich ganz sicher — irgendeinen grundlegenden Unterschied, der sowohl einfach als auch äußerst wichtig war. In den Tiefen seines Gehirns begann ihm eine Ahnung aufzusteigen, doch der Versuch, sie ans Licht zu zerren, schien sie nur wieder weiter zurückzudrängen. Er wollte Prilicla um Rat bitten, doch ihm war klar, daß Creethar denken würde, er habe Geheimnisse vor ihm, wenn er den Translator zu diesem Zweck abschaltete — und das wäre im Moment genau das Falsche gewesen. Da Gurronsevas nicht wußte, was er sagen sollte, sprach er einfach das aus, was er empfand. „Creethar“, fuhr er fort, „ich bin verwirrt und habe Schuldgefühle, weil ich Ihnen solche psychischen Qualen bereite. Es tut mir sehr, sehr leid. Irgendwie ist es mir nicht gelungen, Sie zu verstehen. Aber glauben Sie mir bitte, es ist weder jetzt noch früher meine Absicht oder die der anderen auf dem Schiff gewesen, Sie zu verletzen. Trotzdem haben wir und insbesondere ich Ihnen aus Unwissenheit und mangelnder Sensibilität damals wie heute psychischen Kummer bereitet. Kann ich mich dafür irgendwie entschuldigen oder etwas sagen oder tun, um Sie davon zu befreien?“ Creethars Körper spannte sich zwar an, zerrte diesmal aber nicht an den Haltegurten. „Für ein derart furchteinflößendes Lebewesen können Sie in manchen Momenten ganz schön sensibel sein, wenn Sie auch in anderen wieder schrecklich gefühllos sind. Es gibt etwas, das Sie für mich tun können, Gurronsevas, aber ich schäme mich, es auszusprechen. Der Gefallen gehört nicht zu denen, um die man einen Verwandten oder einen engen Freund bittet, ja nicht einmal einen außerplanetarischen Freund wie Sie, denn er wäre für den Betreffenden zu bedrückend.“ „Nennen Sie ihn mir, mein Freund, und ich werde Ihnen den Gefallen tun“, versprach Gurronsevas in bestimmtem Ton. „Wenn. wenn meine Zeit kommt“, sagte Creethar mit kaum vernehmbarer Stimme, „würden Sie mir dann weiterhin von den Wundern erzählen, die Sie auf anderen Planeten gesehen haben, und bis zum Ende bei mir bleiben?“ Die kurze Stille, die sich nun anschloß, wurde von Prilicla unterbrochen. „Gurronsevas, warum sind Sie so. so froh?“ fragte er. „Lassen Sie mir ein paar Minuten Zeit, um mich mit Creethar zu unterhalten“, bat Gurronsevas. „Dann werden Creethar und Sie alle ebenfalls froh sein.“ 32. Kapitel Da man das Sonnenverdeck des Krankentransporters, in dem Creethar lag, ganz geschlossen hatte, war der Anführer der Jäger allen Blicken entzogen. Als Prilicla gesagt hatte, es sei nur angemessen, wenn Gurronsevas und niemand sonst Creethar zum Mineneingang begleite, waren einzig von Naydrad Einwände gekommen, die der Gedanke beunruhigt hatte, ein Fahrzeug mit Schwerkraftneutralisatoren von einem ungeübten Fahrer lenken zu lassen. Zu Tawsar, den zurückgekehrten Jägern und sämtlichen Lehrerinnen und Lehrern, mit Ausnahme von Remrath, hatten sich die Arbeitsgruppen der jungen Wemarer gesellt, so daß der Hang vor dem Mineneingang bis auf einen kleinen Bereich vor der Menge, wo drei kleine Handkarren standen, von dicht gedrängten Körpern bedeckt war. Langsam und geräuschlos fuhr Gurronsevas mit dem Transporter bis auf wenige Meter an die Karren heran und verringerte dann die Energiezufuihr zu den Schwerkraftgittern. Während der Transporter auf den Boden sank, öffnete er das Verdeck, um Creethar den Blicken der Anwesenden freizugeben. Die versammelten Wemarer waren, dem Anlaß entsprechend, still und respektvoll und ließen ihre Gefühle gegenüber den Fremdweltlern nicht erkennen. Selbst die kleinsten Kinder blieben stumm, als die Menge auf die reglose Gestalt des einstigen Anführers der Jäger starrte, dessen Körper sauber und bis auf das rechte Bein, das in einem durchsichtigen Verband steckte, unverletzt war. Doch als Creethar plötzlich den Kopf hob und aus dem Transporter stieg, übertraf die Reaktion der Wemarer, die in lautes Schreien und Kreischen ausbrachen und wie wild durcheinanderrannten, alles, was Gurronsevas bisher erlebt hatte. Er fragte sich, wie sich dieser Sturm emotionaler Ausstrahlung wohl auf Prilicla an Bord der Rhabwar auswirkte. Doch der Empath hatte in seiner sanften Weise nachdrücklich betont, daß nach dem langen Gespräch, das sie mit Creethar vor dessen Entlassung geführt hatten, keine Gefahr mehr bestünde. Der zu erwartende Gefühlssturm würde sich, so hatte Prilicla geglaubt, aus Erschrecken, Überraschung und Unsicherheit mit einem Minimum an Feindseligkeit zusammensetzen. Schließlich war es Creethars eigene Idee gewesen, seinem Volk die Tatsachen bis zum letztmöglichen Moment zu verheimlichen, damit seine Heimkehr die größte Wirkung erzielte. Nur leicht humpelnd ging Creethar dicht an die Handkarren heran, wo er stehenblieb, um einen Blick in sie hineinzuwerfen. Durch den Krach, den die Menge veranstaltete, war es schwierig, klare Gedanken zu fassen, aber allmählich ging der Lärm vom unverständlichen Schreien und Kreischen in das Gewirr vieler verschiedener Gespräche über, die nur deshalb schreiend geführt wurden, weil alle schrien. Die Bewegung innerhalb der Menge war fast zum Erliegen gekommen, doch mit einem Auge erspähte Gurronsevas eine junge Erwachsene, die wie Donath aussah und im Mineneingang verschwand, um, wie Gurronsevas hoffte, Remrath zu holen. Mit den übrigen Augen beobachtete er, wie Creethar wieder von den Karren aufblickte und mit erhobenen Armen um Ruhe bat. „Liebe Familienmitglieder, Freunde und Jagdgenossen“, sprach der Anführer der Jäger langsam und deutlich, nachdem endlich Ruhe eingekehrt war. „Was die Absicht und Fähigkeiten der Fremdweltler auf dem Schiff betrifft, ist euch ein schwerer Irrtum unterlaufen. Es handelt sich um denselben Irrtum, dem auch ich bis vor ein paar Stunden erlegen bin. Doch jetzt könnt ihr mit eigenen Augen sehen, daß ich keineswegs ein zerstückelter Haufen leblosen Fleisches bin, das man nur noch auf diese Karren laden und in die Küche schaffen kann. Ich bin lebendig und kräftig und gesund. Das liegt daran, daß unsere außerplanetarischen Freunde weder jetzt noch früher Bewahrer von Fleisch gewesen sind. Sie sind Bewahrer des Lebens!“ Creethar machte eine Pause. Der Menge entrang sich ein Seufzen, das wie sanft durchs Gras streichender Wind klang, als alle Wemarer gleichzeitig vor Überraschung und Verwunderung Luft holten. Doch als Creethar fortfuhr und all das beschrieb, was ihm die Fremdweltler gesagt und für ihn getan hatten, kehrte sogleich wieder Ruhe ein. Nur ein einziges Mal hielt er inne, als plötzlich sein Vater und seine Lebensgefährtin im Mineneingang erschienen und sich durch die Menge nach vorne drängten. Doch Remrath gab seinem Sohn durch ein Zeichen zu verstehen weiterzusprechen, ging an ihm vorbei und blieb neben Gurronsevas stehen. Mit einer Stimme, die nur der Tralthaner hören konnte, sagte er: „Wir haben Ihre Freunde auf dem Schiff — und nach allem, was Sie für uns getan haben — hauptsächlich Sie völlig falsch beurteilt. Ich habe allzu sehr wie ein ignoranter und rückständiger Wemarer gedacht, und das tut mir leid. Sie und Ihre Freunde sind in unserem Heim wieder willkommen.“ „Danke“, entgegnete Gurronsevas mit ebenso leiser Stimme. „Mir tut es ebenfalls sehr leid, daß ich so dumm und gefühllos gewesen bin und Ihnen nicht genauer zugehört habe. Das Ganze ist ein Mißverständnis gewesen.“ Ein Mißverständnis… Bei der Erinnerung an einige der Dinge, die er Remrath gesagt hatte, zog sich Gurronsevas vor Scham und Verlegenheit innerlich alles zusammen. Damals hatte er es merkwürdig und irgendwie ganz niedlich gefunden, aber überhaupt nicht für wichtig gehalten, daß die Koch- und die Heilkunst von ein und derselben Person praktiziert und dieser Wemarer von seinem Volk auch als „Bewahrer“ bezeichnet wurde. Hätte er gründlich nachgedacht, wäre ihm klargeworden, daß eine Bevölkerung, in deren Augen der Verzehr der zunehmend selteneren Beutetiere zur einzigen langfristigen Hoffnung aufs Überleben geworden war, kein Fleisch, welcher Art auch immer, verkommen ließ. Die Anzeichen waren für ihn jedenfalls deutlich erkennbar gewesen. Und als er die Bezeichnung „Bewahrer“ in bezug auf das medizinische Team gebraucht hatte, weil er glaubte, „Arzt“ und „Bewahrer“ seien im Wemarischen gleichbedeutende Ausdrücke, hatte er überhaupt nicht nachgedacht. Wäre Gurronsevas an Remraths Stelle gewesen und hätte ihm der Chefkoch angeboten, ihm in allen Einzelheiten zu erklären, was die außerplanetarischen Bewahrer — für deren Aufgabe man es hielt, infiziertes Gewebe zu entfernen und die eßbaren Körperteile für die Küche zu zerlegen und vorzubereiten wie Fachleute in einem Schlachthaus — mit seinem geliebten Sohn anstellten, dann hätte er vielleicht eher mit körperlicher Gewalt als mit zornigem Schweigen und dem Hinauswurf aus der Mine reagiert. Die Wemarer waren in vielen Bereichen zu Rückschritten gezwungen worden, doch sie hatten sich die Intelligenz und eine zivilisierte Kultur bewahrt. Aus diesem Grund hatte es Prilicla für besser gehalten, den abgerissenen Kontakt zu den Wemarern durch den ehemaligen Patienten Creethar wiederaufzunehmen. Wie gewöhnlich hatten die Gefühle des Empathen nicht getrogen, und Creethar leistete jetzt hervorragende Arbeit. „Die Fremdweltler sind hierhergekommen, um uns darüber aufzuklären, wie wir auf unserem kranken, aber sich langsam wieder erholenden Planeten ein besseres Leben führen können“, sagte Creethar gerade. „Doch sie tun nichts weiter, als uns Wissen zu vermitteln und Ratschläge zu geben. Sie haben uns erklärt, wie und weshalb unser Planet vor vielen Jahrhunderten krank geworden ist und wie wir ihn von dieser Krankheit heilen und vor einem Rückfall bewahren können.“ In dem Bewußtsein, daß den Wemarern schon vor langer Zeit die exakte wissenschaftliche Ausdrucksweise abhanden gekommen war, hatten Gurronsevas und Prilicla die Umweltkatastrophe, die über Wemar hereingebrochen war, in einfachen Worten erläutert, und Creethar folgte jetzt ihrem Beispiel. Mit Ausdrücken, die er und seine Zuhörer verstanden, beschrieb er die Zeit des Überflusses, die vor Jahrhunderten auf Wemar geherrscht hatte, und die furchtbare permanente Verschmutzung von Land, Meer und Luft sowie die Vergiftung der Tiere, die dort gelebt und das kurze goldene Zeitalter erst ermöglicht hatten. Er berichtete von den gewaltigen Mengen schädlicher Abgase, die damals in die Luft freigesetzt wurden und sich den Weg hoch in den Himmel bahnten, wo sie den riesigen Schutzschirm angriffen und zerstörten, der die schädlichen Bestandteile des Sonnenlichts von Wemar abhielt. Nach und nach verschwanden aus den Ozeanen des Polargebiets und der gemäßigten Zone die kleinen und empfindlichsten Meeresbewohner, auf die die größeren Fische und letztendlich die Wemarer als Nahrung angewiesen waren. Auf dem Land versengte oder vernichtete das ungefilterte Sonnenlicht die Vegetation, die den kleinen und großen Pflanzenfressern als Nahrung diente, von denen sich wiederum die Raubtiere und schließlich die Wemarer ernährten. Da allen tierischen Lebensformen gleichzeitig der Hunger und eine Krankheit zusetzte, die durch das Tageslicht verursacht wurde und die Augen erblinden und ungeschützte Körperteile austrocknen und verfaulen ließ, starben sie zu Millionen. Der Planet verdorrte, und der bereits dezimierte Bestand an Lebensformen, die auf ihm lebten, schrumpfte mit jeder schwachen und kränklichen Generation, die geboren wurde, weiter. Doch die Wemarer, die diese Katastrophe selbst über sich heraufbeschworen hatten, waren Widerstands- und anpassungsfähig, und das gleiche galt für ihren Planeten, auch wenn sie es zu der Zeit noch nicht wissen konnten. Die gesamte Planetenbevölkerung wurde krank, und die Technik, die ihnen ein Dach über den Kopf sicherte und sie mit Nahrung und haltbar gemachtem Fleisch versorgte, zerfiel ringsum in Schutt und Asche. Doch ein winziger Prozentsatz der Wemarer überlebte, weil man gelernt hatte, die eigenen Kinder und sich selbst vor den tödlichen, unsichtbaren Bestandteilen des einst freundlichen und zuträglichen Sonnenlichts zu schützen. Diejenigen, die übrigblieben, lernten wieder, wie die Vorfahren in Höhlen zu leben. Auf winzigen Flächen in geschützten Tälern bauten sie Feldfrüchte an und wanderten, jagten und fischten bei Nacht. Der Anbau von Gemüse und genießbarem Getreide außerhalb des direkten Sonnenlichts war keine beliebte Tätigkeit, weil man bis zur Ankunft des außerplanetarischen Meisters der Köche, Gurronsevas, felsenfest geglaubt hatte, die Kost eines gesunden und kräftigen erwachsenen Wemarers habe vorwiegend aus Fisch oder Fleisch zu bestehen. Durch das hartnäckige Festhalten an diesem Glauben waren allmählich auch die restlichen Wemarer entweder durch eine völlig unzureichende Ernährung oder unnötigerweise auf der Jagd gestorben. Denn die zahmen Tiere, die man einst gehalten hatte und die als Nahrung dienten, waren längst ausgestorben, und die wenigen Lebensformen, die sich durch Anpassung zu nachtaktiven, in Höhlen lebenden Raubtieren entwickelt hatten, waren wieder wild geworden. Eine ähnliche Anpassung hatte sich auch in den Meerestiefen vollzogen, wo sich große Fische gegenseitig angriffen und fraßen, denen auch Wemarer Fischer zum Opfer fielen. „Doch der gewaltige Bevölkerungsrückgang und der Untergang der gesamten Transport- und Produktionstechnik hat auch eine vorteilhafte Auswirkung gehabt“, erklärte Creethar in feierlichem Ton. „Dadurch hat der kranke Planet die Möglichkeit erhalten, sich wieder zu erholen. Im Laufe der Jahrhunderte hat das gewaltige Lebewesen, unser Heimatplanet, die Gifte auf dem Land und im Meer verteilt und abgebaut und den unsichtbaren Schutzschirm über uns erneuert, der nur Licht und Wärme zur Planetenoberfläche durchdringen läßt. Folglich wachsen die Pflanzen wieder, und die Landtiere und Meeresbewohner werden die Höhlen, Erdlöcher und Meerestiefen verlassen und sich vermehren. Doch wir müssen noch viele Generationen lang mit unseren Nahrungsquelen haushalten, indem wir Tiere züchten und nicht aufgrund unseres unnötigen Hungers auf Fleisch bis zur Ausrottung jagen und essen, und zwar so lange, bis wir die Aufgabe, unserem Planeten den Tier- und Pflanzenreichtum zurückzugeben, abgeschlossen haben. Allerdings raten die Fremdweltler zur Vorsicht“, fuhr Creethar fort. „Uns längere Zeit ungeschützt dem Sonnenlicht auszusetzen wird uns nach wie vor schaden, wenn auch nicht mehr in gleichem Maße wie früher. Und unseren Kindeskindern werden die Strahlen dann nichts mehr anhaben. Andere Schwierigkeiten stehen den Wemarern bevor, wenn sich die übriggebliebenen Familien und Stämme wieder zusammenschließen, und die Reichen am Äquator müssen wir davon überzeugen, ihre sehr einfache, aber stark umweltbelastende Technik aufzugeben. Das müssen wir, wie die Fremdweltler sagen, auf friedliche Weise bewerkstelligen, indem wir statt der Speere unseren Verstand benutzen, denn für gewaltsame Lösungen des Konflikts sind zu wenig Wemarer übriggeblieben. Und wenn wir eine neue Technik entwickeln, werden uns die Fremdweltler bezüglich der Methoden beraten, sie sauberzuhalten, damit wir unseren Planeten nicht noch einmal verseuchen.“ „Ihr Sohn spricht sehr gut“, merkte Gurronsevas leise an. „Ich bin beeindruckt.“ Remrath tat das Kompliment mit einem unübersetzbaren Laut ab, klang jedoch sehr zufrieden, als er entgegnete: „Lange bevor er erwachsen geworden ist und den Beruf des Jägers ergriffen hat, war Creethar Lehrer und Redner. Er wird es nicht zulassen, daß irgend jemand die Weisheit wieder vergißt, die Sie uns vermittelt haben. Da können Sie und Ihre außerplanetarischen Freunde sich ganz sicher sein.“ „Als ich Creethar von diesen Dingen erzählt habe, wollte ich ihn nur von ein paar ernsten Sorgen ablenken, die ihm zu schaffen gemacht haben“, erklärte Gurronsevas. „Erst heute am frühen Morgen habe ich herausgefunden, daß er beunruhigt gewesen ist, weil er geglaubt hat, demnächst zu sterben. Doch inzwischen versteht er offenbar die Bedeutung dessen, was er gehört hat, besser als ich. Allerdings bin ich auch nur Koch.“ „Ein führender Koch, der die Eßgewohnheiten eines ganzen Planeten verändern wird“, korrigierte ihn Remrath und ließ Gurronsevas Zeit, mit dem unübersetzbaren Laut eines Tralthaners auf das Kompliment zu reagieren, und fuhr dann fort: „Alle, die sich hier versammelt haben, vom Jüngsten bis zum Ältesten, sind eigentlich gekommen, um Creethars Rückkehr zu uns zu betrauern und gleichzeitig zu feiern und um seinen Körper untereinander aufzuteilen und zu verzehren. Doch statt dessen nehmen sie jetzt die Worte von den Fremdweltlern und von Creethar, dem Lehrer und Jäger, in sich auf“ In Gurronsevas’ Kopfhörer meldete sich die Stimme von Prilicla. „Die ganze Sache läuft ausgezeichnet, mein Freund, wie ich es schon im voraus gespürt habe“, ließ der Empath vernehmen. „Sogar die Kontaktspezialisten auf der Tremaar sind mit Ihnen zufrieden. Captain Williamson läßt Ihnen seine Komplimente ausrichten und sagt, es sei ein Geniestreich vom Orbit Hospital gewesen, den Chefdiätisten zum Einsatz auf Wemar mitzuschicken. Außerdem wird der Bericht, den er über den wohl ersten bekannten Fall eines über die Kochkunst hergestellten Erstkontakts ans Orbit Hospital schickt, dort ebenfalls große Zufriedenheit mit Ihnen hervorrufen. Ich dachte, ich sollte Ihnen diese frohe Neuigkeit sofort mitteilen, da Sie vielleicht immer noch wegen Colonel Skemptons Reaktion auf Ihre Rückkehr beunruhigt sind. Es gibt keinen Grund mehr zur Besorgnis. Durch Ihren Erfolg auf Wemar wird man Ihre früheren Fehltritte mit Sicherheit vergessen und vergeben. Na prima, ich kann bereits Ihre große Freude und Erleichterung spüren.“ „Schon sehr bald müssen uns Gurronsevas und die Bewahrer vom Schiff verlassen“, verkündete Creethar der versammelten Menge gerade. „Sie sind Lebewesen von furchterregendem Aussehen, und das trifft insbesondere auf den Meister der Köche zu, der einem Schreckgespenst aus den entsetzlichsten Alpträumen der Kinder gleicht. Doch selbst die Jüngsten haben ihn inzwischen kennengelernt und bezeichnen ihn jetzt als ihren Freund. Die Fremdweltler können nicht mehr lange bei uns bleiben, weil sie viel Arbeit auf anderen Planeten oder in den Trümmern großer Schiffe erwartet, die durch den dunklen Raum zwischen den Sternen fliegen. Dort werden sie benötigt, um zu helfen und kranke oder verletzte Wesen zu heilen, damit deren Leben genauso bewahrt wird wie meins. Wie sie mir erklärt haben, werden die anderen Fremdweltler, die ihnen folgen, ebenfalls nicht lange bleiben, weil man weiß, daß es sich bei den Wemarern um eine stolze und tüchtige Spezies handelt. Man wird uns mit Freuden helfen, aber nicht zulassen, daß wir von dieser Hilfe allzu abhängig werden, denn dadurch könnte sich bei uns eine Gemütskrankheit einstellen, die uns dauerhaft lahmen würde. Statt dessen wird man uns Hilfe zur Selbsthilfe geben. Wenn wir so verfahren, sagen die Fremdweltler, werden wir wirklich nur sehr kurze Zeit benötigen, um unserem Planeten den Tier- und Pflanzenreichtum zurückzugeben, die Zivilisation und die Technik wiederaufzubauen und zu guter Letzt loszufliegen, um unsere fremdweltlerischen Freunde in ihrer Heimat zwischen den Sternen zu besuchen.“ „Mein lieber Freund“, sagte Remrath in sehr ernstem Ton zu Gurronsevas, „heute abend werden wir kein Fleisch essen, und darüber sind ich, Druuth und alle anderen sehr froh. Danke.“ Gefühlsäußerungen berührten Gurronsevas unangenehm, besonders, wenn es darum ging, die eigenen Gefühle zu zeigen. Deshalb blickte er sich verlegen zur jubelnden Menge um, als er antwortete: „Eine derartige Änderung der vorgesehenen Speisefolge in letzter Minute stellt das Küchenpersonal möglicherweise vor ein echtes Problem. Können Sie nicht noch einen Hilfskoch gebrauchen?“